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      Seit je­ner ers­ten Be­geg­nung mit dem Fra­ter Cor­pus vor dem Wand­spie­gel in Obe­reß­lin­gen hat­te ich nicht wie­der über mein Äu­ße­res nach­ge­dacht. In Tü­bin­gen hing der Spie­gel so hoch über dem Kana­pee, dass ich mich nicht dar­in se­hen konn­te. Ei­nes Ta­ges stieg ich nun we­gen ei­ner auf­ge­schnapp­ten schmei­chel­haf­ten Be­mer­kung hin­auf und streck­te mich, um einen neu­gie­ri­gen Blick in das Glas zu wer­fen. Da sah ich, dass das blas­se, geis­ter­haf­te Kin­der­ge­sicht ver­schwun­den war, die Au­gen tra­ten nicht mehr als eine Ge­walt für sich her­aus, die Züge be­gan­nen sich ge­fäl­li­ger zu­sam­men­zu­fü­gen, und es dünk­te mir, dass ein hei­te­rer Schein da­von aus­gin­ge. Von da an hüpf­te ich des öf­te­ren vom Kana­pee in die Höhe und be­ob­ach­te­te die all­mäh­li­che Ver­wand­lung noch un­per­sön­lich wie das Wachs­tum mei­nes Ro­sen- oder Myr­ten­stöck­chens. Ich fühl­te kei­nen me­ta­phy­si­schen Schau­der mehr, der Weg­ge­nos­se wur­de mir et­was Lie­bes, Ver­trau­tes, das mein We­sen rein zum Aus­druck brach­te, und ver­wuchs all­mäh­lich mit dem un­sicht­ba­ren Schmet­ter­ling zu ei­nem ein­zi­gen Ich.

      Mit Rie­sen­schrit­ten ging es jetzt in die Ver­welt­li­chung hin­ein. Auf die Freu­den der Schlitt­schuh­bahn folg­ten die der Tanz­stun­de, die mit Me­nuett­ver­beu­gun­gen und dem Aus­wärts­dre­hen der Füße mit­tels Schie­nen be­gan­nen. Da mir aber Lili schon die ers­ten Tanz­schrit­te bei­ge­bracht hat­te, wur­de ich bald in die hö­he­ren Gra­de auf­ge­nom­men und durf­te nun sel­ber mit den Ober­gym­na­sis­ten durch den Saal wir­beln. Der Geist Li­lis schweb­te im­mer mit, auch als sie Tü­bin­gen schon ver­las­sen hat­te, und gab der nicht all­zu stil­ge­rech­ten Ver­an­stal­tung An­mut und Wei­he. In ei­nem Ne­ben­bau der Al­ten Aula, zu dem man von der Münz­gas­se auf stei­ner­nen Stu­fen hin­un­ter­stieg, be­fand sich ein völ­lig schmuck­lo­ser Saal mit grob ge­ho­bel­tem Fuß­bo­den, worin die Tanz­stun­de ab­ge­hal­ten wur­de; das Stim­men der Gei­gen kün­dig­te sie von wei­tem an. Die­se quiet­schen­den, un­schö­nen Töne hat­ten nichts­de­sto­we­ni­ger für das jun­ge Ohr einen zau­be­ri­schen Wohl­laut, der das Herz schnel­ler schla­gen mach­te. Die sehr ju­gend­li­chen »Her­ren«, die auf der einen Sei­te des Saa­l­es bei­sam­men stan­den, hol­ten sich mit der eben ein­ge­lern­ten Ver­beu­gung die »Da­men« aus der an­de­ren, und nun galt es im Ge­drän­ge der Paa­re sich ohne An­stoß um die Säu­len win­den. Zu­wei­len lie­ßen sich auch die Füch­se der ele­gan­ten Stu­den­ten­kor­po­ra­tio­nen zu dem Läm­mer­hüp­fen her­bei; es war aber eine zwei­fel­haf­te Ehre, da die­se Her­ren au­gen­schein­lich an uns All­zu­jun­gen die Ar­tig­kei­ten ein­üb­ten, die sie her­nach auf den Mu­se­ums­bäl­len den rei­fe­ren Jahr­gän­gen zu er­wei­sen hat­ten.

      Lili war un­ter­des­sen von ih­rer Mut­ter zu­rück­ge­holt wor­den, aber ihr Ein­fluss dau­er­te fort. Auch er­schi­en sie in kür­ze­ren Ab­stän­den im­mer wie­der in Tü­bin­gen und ver­dreh­te bei ih­rem je­des­ma­li­gen Auf­ent­halt vie­le jun­ge Köp­fe. Ihre Mut­ter wünsch­te, dass sie sich früh ver­hei­ra­te, des­halb ver­lob­te sie sich fünf­zehn­jäh­rig zum ers­ten Mal mit ei­nem jun­gen Mann, den sie in un­se­rem Hau­se ken­nen lern­te. Die uns be­freun­de­te Fa­mi­lie emp­fing die rei­zen­de Braut mit of­fe­nen Ar­men. Aber ihr Herz hat­te nicht mit­ge­spro­chen, und bald da­nach trat sie den Schwan­kend­ge­wor­de­nen, dem eine et­was äl­te­re Freun­din ein lei­den­schaft­li­ches Ge­fühl ent­ge­gen­brach­te, be­reit­wil­lig an die­se ab. Es war kein Op­fer, aber doch für sie be­zeich­nend, denn bei ih­rer großen Güte und Nach­gie­big­keit wäre sie auch im­stan­de ge­we­sen, auf einen ge­lieb­ten Mann um ei­ner an­de­ren wil­len zu ver­zich­ten. Das Ober­gym­na­si­um war ihr jetzt kei­ne Merk­wür­dig­keit mehr, wohl aber sei­ne ehe­ma­li­gen Zög­lin­ge, die man auf den Stu­den­ten­bäl­len wie­der­fand. Sie hat­te sich ein Ver­zeich­nis ih­rer Ver­eh­rer an­ge­legt, in dem sie flei­ßig blät­ter­te, um kei­nen zu ver­ges­sen. Je nach dem Rang, den der eine oder der an­de­re vor­über­ge­hend in ih­rem Her­zen ein­nahm, wur­den durch Ver­set­zen der Na­men die Plät­ze ge­wech­selt, so­dass sich ihr klei­nes Ta­schen­büch­lein mit den Auf­zeich­nun­gen in be­stän­di­ger Wand­lung be­fand. Nach je­dem Tanz­ver­gnü­gen ging wie­der eine Ver­schie­bung vor sich, aus der sie mir kein Hehl mach­te. Ihre klei­nen Ko­ket­te­ri­en wa­ren voll Un­be­wusst­heit, ohne eine Spur von Be­rech­nung. Ihr ge­fiel aus­nahms­los das gan­ze männ­li­che Ge­schlecht, und sie konn­te es nicht be­grei­fen, dass ich mir schon da­mals die jun­gen Rit­ter sehr ge­nau zu be­schau­en pfleg­te. Ei­nem so lie­bens­wer­ten Ge­schlecht wie­der zu ge­fal­len, war ihr an­ge­bo­re­nes, in­nigs­tes Be­stre­ben, und wem hät­te Lili nicht ge­fal­len sol­len? Wie die Ot­ti­lie der Wahl­ver­wandt­schaf­ten muss­te man sie ei­gens dar­auf auf­merk­sam ma­chen, dass es für ein jun­ges Mäd­chen nicht schick­lich sei, jun­gen Män­nern einen fal­len­ge­las­se­nen Ge­gen­stand auf­zu­he­ben, denn ihre un­schul­di­ge Ver­eh­rung für das stär­ke­re Ge­schlecht trieb sie in sol­chen Fäl­len, sich ei­ligst zu bücken oder gar ei­ner weg­ge­wir­bel­ten Stu­den­ten­müt­ze voll Ei­fer nach­zu­sprin­gen, Din­ge, die da­mals bei der viel stren­ge­ren Eti­ket­te zwi­schen den Ge­schlech­tern weit mehr auf­fie­len als heu­te, und die mei­ne El­tern ihr sorg­sam ab­ge­wöhn­ten, da­mit nicht ir­gend­ein Frech­ling die harm­lo­se Zu­vor­kom­men­heit des jun­gen Mäd­chens miss­deu­te.

      Mir be­zeig­te sie ihre Ge­gen­lie­be auf eine be­son­de­re Art, in­dem sie sich der Sti­li­sie­rung mei­nes Äu­ße­ren be­mäch­tig­te. Die arm­di­cken Flech­ten, die ich da­mals noch ein­fach nie­der­hän­gend oder mehr­fach um den Kopf ge­schlun­gen trug, wa­ren ihr zu kind­lich; sie sel­ber ord­ne­te ihr schö­nes Haar zu mo­di­schen Fan­ta­sie­ge­bäu­den. Die glei­che Ar­beit nahm sie jetzt mit dem mei­ni­gen vor, in­dem sie bald »ge­steck­te Lo­cken«, von äh­ren­ar­tig ge­floch­te­nen so­ge­nann­ten Korn­zöp­fen um­rahmt, auf mei­nem Schei­tel auf­türm­te, bald mein Haar in grie­chi­sche Kno­ten wand oder gar ne­ben ei­ner stei­fen Turm­fri­sur rechts und links die mo­di­schen »Schmacht­lo­cken« zu­recht drech­sel­te. Lau­ter präch­ti­ge, aber für mein Le­bensal­ter zum min­des­ten stark ver­früh­te Din­ge. Nie­mand wehr­te der Tor­heit. Mein Müt­ter­lein, das nie­mals äl­ter war als ich, ließ uns bei­de völ­lig ge­wäh­ren und hat­te ihre hel­le Freu­de an den mit mir vor­ge­nom­me­nen Ver­wand­lungs­küns­ten. Mein Va­ter schüt­tel­te zwar den Kopf, aber sein Ein­spruch be­schränk­te sich auf die Be­mer­kung, wie er sein Kind ken­ne, wer­de sie das al­les künf­tig ein­fa­cher hal­ten. Es ver­steht sich, dass nun auch mein An­zug un­ter Li­lis Ein­fluss ge­riet. Bis­her war ich ge­klei­det wie die Li­li­en auf dem Fel­de. Mein spar­sa­mes Müt­ter­lein, das noch in den ers­ten Tü­bin­ger Jah­ren die Kna­ben­klei­der alle selbst ver­fer­tig­te, hat­te für Mäd­chen­sa­chen gar kein Ge­schick, und das war mir lan­ge Zeit zu­gu­te ge­kom­men. Denn ihre Ju­gend­freun­din­nen lie­ßen sich’s nicht neh­men, jahraus, jahrein für ihr Töch­ter­lein tä­tig zu sein. Da kam im­mer von Zeit zu Zeit ir­gend­ein Pack mit den schöns­ten Din­gen für mich an, wie hand­ge­stick­ten rus­si­schen Hem­den, gold­ver­schnür­ten Tuch­s­pen­zer­chen und an­de­ren Prunk­stücken, die je­des Mal großen Ju­bel er­reg­ten. Wie ich nun der Kind­heit ent­wuchs, wur­den die­se Sen­dun­gen all­mäh­lich sel­te­ner, und was zu Hau­se er­gänzt wer­den muss­te, konn­te vor Li­lis Au­gen nicht be­ste­hen. Ich hat­te so­nach kei­ne Wahl, als die ei­ge­ne Ge­schick­lich­keit aus­zu­bil­den,

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