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war er es schon müde ge­wor­den, auf den jahr­hun­der­te­al­ten Ruf zu ant­wor­ten. Schwei­gend, in phi­lo­so­phi­scher Ruhe steu­er­ten die Rie­sen mit lan­gen Stan­gen ihre Flö­ße zwi­schen den Pfei­lern der Neckar­brücke durch, noch eine lan­ge Stre­cke ver­folgt von dem Ge­brüll, in das auch die Gas­sen­ju­gend ein­stimm­te. Es soll gleich­wohl eine schmerz­lich-hei­te­re Ab­schieds­fei­er ge­we­sen sein, als 1899 der letz­te Jo­cke­le an Tü­bin­gen vor­bei zu Tale fuhr.

      Ein an­de­rer löb­li­cher Brauch war, des Nachts die La­ter­nen zu lö­schen oder zu zer­schla­gen oder das Brenn­holz, die so­ge­nann­te »Schei­ter­beug«, die nach Ur­vä­ter­ge­wohn­heit vor den Häu­sern auf­ge­sta­pelt lag, zu ver­schlep­pen. Kam der Nacht­wäch­ter oder ein Po­li­zei­die­ner hin­zu, so gab es tau­send Mit­tel, ihn an der Haft­bar­ma­chung der Schul­di­gen zu ver­hin­dern. Es war der Geist der sü­ßen Zweck­lo­sig­keit, der die Ju­gend von da­zu­mal be­seel­te und ihr als höchs­ter Le­bens­wert er­schi­en. Im­mer blieb der Mann der Ord­nung der Ge­prell­te, und der Phi­lis­ter selbst, ob­gleich der Scha­ber­nack sich ge­gen ihn rich­te­te, stand mit sei­ner ge­hei­men Sym­pa­thie auf sei­ten der Stu­den­ten. Die Mensch­heit zer­fiel da­mals in zwei Haupt­gat­tun­gen, die zu­gleich ihre äu­ßers­ten Pole dar­stell­ten: Stu­dent und Phi­lis­ter. Aber bei­de brauch­ten ein­an­der, wa­ren in jahr­hun­der­te­lan­gen Rei­be­rei­en ei­ner um des an­de­ren wil­len da. Als eine der äl­tes­ten und kleins­ten Uni­ver­si­tä­ten, dazu ganz ab­seits der grö­ße­ren Ver­kehrs­we­ge ge­le­gen, hat­te Tü­bin­gen noch ge­wis­se stu­den­ti­sche Über­lie­fe­run­gen, die weit ins Mit­tel­al­ter zu­rück­gin­gen; im Un­ter­grund des stu­den­ti­schen Be­wusst­seins leb­te noch ein Rest vom Geis­te der Fah­ren­den, dem auch ge­le­gent­li­ches »Schie­ßen« (Steh­len) zum Scha­den der Phi­lis­ter nicht für un­eh­ren­haft galt. So schwärm­te ei­nes Ta­ges eine Schar Mu­sensöh­ne über die Wie­sen nach Lust­nau aus und fand un­ter­wegs in ei­nem Wäs­ser­lein zwölf wohl­ge­nähr­te En­ten lus­tig schwim­mend. Nur eine da­von sah der Be­sit­zer wie­der. Sie trug einen Zet­tel am Hals mit den Wor­ten:

       Wir ar­men zwölf En­ten

       Sind ge­fal­len un­ter die Stu­den­ten,

       Ich zwölf­te komm zu­rück al­lein

       Und bring’ von elf den To­ten­schein.

      Die Ge­schich­te stammt al­ler­dings aus ei­ner äl­te­ren Zeit, wäre aber in je­nen Ta­gen noch eben­so gut mög­lich ge­we­sen. Auch hoch­ver­ehr­te Leh­rer wur­den nicht ge­schont. So hat­te ein­mal der be­rühm­te Kli­ni­ker Nie­mei­er, ei­ner der we­ni­gen nord­deut­schen Pro­fes­so­ren, die es in Tü­bin­gen zu großer Volks­tüm­lich­keit brach­ten, in der Neu­jahrs­nacht, wo der Spuk am wil­des­ten tob­te, ein fet­tes Gäns­lein am Kü­chen­fens­ter hän­gen, das beim mor­gi­gen Fest­schmaus pran­gen soll­te. Da wur­de er in der Nacht her­aus­ge­schellt, und als sein Kopf am Fens­ter er­schi­en, rief eine nä­seln­de Stim­me hin­auf: Pro­sit Neu­jahr, Herr Pro­fes­sor, und ge­ben Sie acht auf Ihre Gans, dass sie nicht ge­stoh­len wird. Der An­ge­ru­fe­ne ver­stand und mach­te gute Mie­ne. Pro­sit, Herr Kep­ler, rief er zu­rück, ich habe Sie an der Stim­me er­kannt. Las­sen Sie sich die Gans gut schme­cken, aber stö­ren Sie die Leu­te lie­ber nicht im Schlaf.

      Die­ser sel­be Kep­ler, der auch in mei­nem El­tern­haus ver­kehr­te und spä­ter als Arzt nach Ve­ne­dig ging, führ­te über­haupt ein be­weg­tes Le­ben. Er war der Held ei­ner An­ek­do­te, die in Tü­bin­gen un­ver­ge­ss­lich bleibt. Als er ein­mal nahe der Neckar­brücke mit ein paar Freun­den im Frei­en ba­de­te, er­schi­en die Po­li­zei, be­schlag­nahm­te die Klei­der und woll­te die Übel­tä­ter ver­haf­ten. Die­se ent­spran­gen und rann­ten split­ter­nackt das Ufer ent­lang bis nach Kir­chen­tel­lins­furt, wo sie end­lich fest­ge­nom­men wur­den. Da es aber kei­nen Pa­ra­gra­fen ge­gen das Nackt­ge­hen gab, so ver­don­ner­te sie eine wei­se Be­hör­de »we­gen Ver­mum­mung bis zur Un­kennt­lich­keit«.

      Zum Cha­rak­ter­bild des al­ten Tü­bin­gen ge­hört aber noch eine drit­te dort le­ben­de Men­schen­gat­tung von ur­tüm­lichs­ter Be­schaf­fen­heit, die we­der dem Stu­den­ten noch dem Phi­lis­ter hold war, die man sich aber aus dem dor­ti­gen Le­ben nicht weg­den­ken kann: näm­lich die in den ma­le­ri­schen Schmut­z­win­keln der Un­te­ren Stadt oder »Gô­ge­rei« woh­nen­den »Win­ger­ter« (Wein­gärt­ner), auch »Gô­gen« oder »Rau­pen« ge­nannt. Wo­her die­se bei­den Be­zeich­nun­gen kom­men, weiß nie­mand, eine theo­lo­gisch ge­färb­te Ety­mo­lo­gie will die Gô­gen auf das bib­li­sche Gog und Magog zu­rück­füh­ren. Was die Rau­pen be­trifft, so soll der Name gar eine Ver­ket­ze­rung des la­tei­ni­schen Wor­tes Pau­per sein, wo­mit man in der ge­lehr­ten Mu­sen­stadt die am Frei­tag­mor­gen von Tür zu Tür sin­gen­den Volks­schü­ler be­zeich­net. Wie dem auch sei, bei­de Na­men, Gô­gen wie Rau­pen, wur­den von ih­ren Trä­gern un­gern ge­hört und pfleg­ten eine tät­li­che Ab­wehr nach sich zu zie­hen. Die Gô­gen un­ter­schie­den sich nach ih­rer gan­zen We­sens­art, vor al­lem aber nach den ei­gen­tüm­li­chen Kehl­lau­ten ih­rer Auss­pra­che und ei­ner ge­dehn­ten Be­to­nung, die et­was Mür­risch-Ver­bis­se­nes an sich hat­te, so stark von den üb­ri­gen Ein­woh­nern, dass man­che sie ge­ra­de­zu für Nach­kom­men ei­nes zu­ge­wan­der­ten Fremd­vol­kes hiel­ten und dass es zwi­schen der obe­ren und der un­te­ren Stadt wie ein un­sicht­ba­rer Sta­chel­zaun lag. Als tüch­ti­ge Taglöh­ner un­ent­behr­lich, mach­ten sich die­se Mit­bür­ger durch ihre ein­ge­bo­re­ne tie­fe Ab­nei­gung ge­gen die Hö­her­ge­stell­ten und ih­ren aus­ge­präg­ten Sinn für den ei­ge­nen Vor­teil, mehr noch durch ih­ren wort­kar­gen, aber äu­ßerst schla­gen­den Mut­ter­witz, der nicht im­mer von der rein­lichs­ten Art war, ge­fürch­tet. Auf eine Ge­gen­re­de konn­te nie­mand mehr einen Trumpf set­zen, au­ßer ein an­de­rer Gôg. Un­zäh­li­ge Gô­gen­wor­te und -wit­ze wa­ren und sind in Tü­bin­gen im Schwang. Am be­rühm­tes­ten ist das ein­sil­bi­ge Zwie­ge­spräch zwi­schen Va­ter und Sohn, wie sie zu­sam­men die stei­len Wein­berg­hal­den des Ös­ter­ber­ges hin­an­stei­gen und dem Jun­gen ein her­ren­lo­ser Schub­kar­ren aus ei­nem Nach­bar­grund­stück in die Au­gen sticht, auf den er den Va­ter durch einen stum­men Wink auf­merk­sam macht. Worauf der Alte nur die zwei la­ko­ni­schen Wor­te er­wi­dert: Im Ra! (Im Her­ab­stei­gen!) Oder die zun­gen­schnel­le Fra­ge des Ber­li­ner Stu­den­ten an den pfei­fen­rau­chen­den Wein­gärt­ner: Kann ich von Ih­nen Feu­er ha­ben, ja? Und die nach­drück­lich-lang­sa­me Ant­wort des al­ten Gô­gen: Airscht (erst), wenn i ja sag’.

      Das Stra­ßen­bild von Tü­bin­gen be­herrsch­te der Cou­leur­stu­dent, be­son­ders der An­ge­hö­ri­ge der pau­ken­den Kor­po­ra­tio­nen. Die­se stan­den bei den Aus­rit­ten und Auf­zü­gen im stu­den­ti­schen Wichs, bei den Tanz­ver­gnü­gun­gen, den glän­zen­den Fa­ckel­zü­gen und über­haupt im ge­sell­schaft­li­chen und öf­fent­li­chen Le­ben oben­an. Ihre Ilia­den und Odys­seen füll­ten die un­ge­schrie­be­nen An­na­len der Stadt. Je­des Kind wuss­te, was für Men­su­ren in lau­fen­der Wo­che aus­ge­foch­ten wur­den, wel­ches Dorf­wirts­haus, wel­ches Ge­hölz dazu aus­er­se­hen war, wie vie­le Ab­fuh­ren es gab, mit wie viel Na­deln der je­weils Zer­hack­te vom Pauk­arzt ge­näht wur­de. Wenn es den Pau­kan­ten ge­lang, den ar­men Pe­dell, der sie ab­zu­fas­sen hat­te und der zu die­sem Zweck den wei­ten Weg atem­los auf Schus­ters Rap­pen an­ga­lop­piert

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