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Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962816056
Автор произведения Wilhelm Raabe
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Diese letzten Sommertage waren, nicht ohne eine merkliche Veränderung hervorzubringen, an dem Afrikaner vorübergegangen. Die Klausur und die moralische und physische Diät, welche er unter dem Regime des Vetters Wassertreter einzuhalten hatte, schienen bis jetzt trefflich bei ihm anzuschlagen und von großem zivilisatorischem Einfluss auf ihn zu sein. Das Studium des Konversationslexikons tat ihm unbedingt gut; es war wieder ein europäisches Licht in seinen Augen, welches er nicht über das Mittelländische Meer zum Molo von Triest mitgebracht hatte; selbst in den Bewegungen der Hand, die dem Schimmel das Stirnhaar zurechtlegte, zeigten sich Bildung und Gesittung in unzweifelhafter Weise; kurz, das, was der Vetter Wassertreter den »Häutungsprozess« nannte, nahm einen recht befriedigenden Fortgang, und die neue Epidermis guckte, einem zweiten Ausdruck des Wegebauinspektors zufolge, »recht delikat« hervor.
Jetzt, nach beendeter Unterhaltung mit dem Engländer, wand sich Leonhard Hagebucher vollends aus dem Gebüsch und grüßte die beiden Frauen am Fenster der Katzenmühle. Er kam schnellern Schrittes durch den Garten und verneigte sich aufs neue unter der Tür, indem er seinen arabischen Gruß sprach. Das Fräulein von Einstein neigte stumm das Haupt, die Madam Klaudine aber rief mit herzlichem Ausdruck:
»Willkommen, lieber Sohn! Sie kommen zur rechten Zeit für zwei gar betrübte und bedrängte Leute. Mein Kind hier nimmt soeben Abschied von ihrer alten Freundin, sie muss weggehen von hier, sie wird sich verheiraten, und sie weint aus vielen Gründen.«
»Jaja, es ist so, Mann der Wüste!« rief Nikola, aufgeregt und ungeduldig mit dem Fuße aufstampfend. »Was stehen Sie und starren Sie mich an? Haben Sie kein Wort der Beglückwünschung für mich, können Sie nicht das kleinste Kompliment vorbringen?«
»Nein!« sprach Leonhard mit einer Energie und einer Grobheit, die seinem Charakter alle Ehre machten. »Sie eine Braut, Fräulein von Einstein, Sie einem Manne verlobt? O das ist mir nicht lieb, das ist mir wahrhaftig nicht lieb! Scheitan falle mich an, wenn das nicht schlimmer ist als ein vergifteter Pfeil aus dem Gebüsch – – o Fräulein von Einstein!«
Dieser Ausbruch höchsten Verdrusses war so wahr, so drollig und kam so überraschend, dass beide Damen trotz aller Beklemmung und Betrübnis sich des Lächelns nicht erwehren konnten. Ja Nikola lachte sogar hellauf, sprang in die Höhe und rief, indem sie dem Afrikaner kräftig die Hand drückte:
»Liebster Freund, ich habe Sie doch verkannt und bitte herzlich um Verzeihung. Seien Sie nicht ungehalten; ’s ist keine Geschichte von gestern, das Gespenst geht schon längere Zeit um, darf aber jetzt erst seine Ketten rasselnd der Welt zeigen. Dazu ist’s nicht meine Schuld, Herr Hagebucher; ich bliebe freilich lieber in Bumsdorf und säße in der Katzenmühle. Scheitan und alle die übrigen Herrschaften aus Dschinnistan sollen auch über mich verfügen dürfen, wenn ich nicht die Wahrheit rede.«
Herr Leonhard Hagebucher saß auf dem nächsten Stuhle mit den Händen auf den Knien wie Ramses der Große vor seinem Palast zu Luksor und sah mit einer ebenso geistreichen und verständnisreichen Physiognomie auf die beiden Frauen wie jener Monarch auf die Trümmer seiner Residenzstadt Theben. Er erholte sich nur ganz allmählich von seiner Überraschung, und als er endlich seinen Gefühlen Worte zu geben vermochte, sagte er:
»Auch ich bitte um Verzeihung und habe mehr Grund dazu als das gnädige Fräulein. Wie kann man so dumm und frech sein?! Aber es war auch nicht ganz meine Schuld, Fräulein Nikola! Erinnern Sie sich noch jener Mondscheinnacht an der Hecke von Ihres Oheims Garten? Sie guckten über die Hecke und riefen mich an in meiner Verwirrung; was kann ich für den Zauber, der in jener Nacht war? In jener Nacht, um jene Stunde, in der ich dem Tollhause näher war als vielleicht irgendein anderer Mensch dazumal in Deutschland, bin ich durch Ihre Erscheinung auf der Lichtseite des Daseins festgehalten worden. Wer weiß, ob selbst der Vetter Wassertreter es heut noch für lohnend halten würde, mich in betreff der Zeitgeschichte aufs laufende zu bringen, wenn Sie damals nicht aus den grünen Büschen aufgetaucht wären. Ich hatte mir während meiner Gefangenschaft dahinten ein wundervolles Ideal von der Heimat zurechtgemacht, was daraus geworden ist, wird Ihnen nicht unbekannt sein –«
»Und um sich vor der Tante Schnödler zu retten, haben Sie sich an meinem Rocke gehalten!« rief Nikola. »Und weil ich mein eigen Elend wegzulachen suchte, nicht dumm und auch recht gut gewachsen bin und weil ich mich immer, wenigstens bis jetzt, als eine peeress in my own right gehalten habe, setzten Sie mich sozusagen an die Stelle jenes Ideals und beteten mich von ferne an wie den Deutschen Bund vom Tumurkielande aus! Ach, Leonhard, geben Sie mir nochmals Ihre Hand, wir wollen Freunde bleiben unser Leben lang; aber unsere Ideale wollen wir so tief als möglich begraben. Wir sind ein paar alte zerzauste Aventuriers und werden wohl beide in unserm Harnisch sterben.«
»Nikola, Nikola!« rief Frau Klaudine mit gefalteten zitternden Händen; das Hoffräulein beugte sich nieder zu ihr und küsste sie auf die Stirn:
»Es ist so, Mutter, und niemand kann es ändern. Was sollte wohl aus mir werden, wenn ich nicht mit gepanzertem Herzen von dir wegginge? Dich, meine Mutter, tragen und retten deine Geduld und Hoffnung und dein Einsiedlertum hier in der Wildnis; jener und ich haben andere Waffen nötig. Ich kenne die meinigen und werde sie gebrauchen, und der Herr Hagebucher wird gleichfalls die seinigen finden, sobald er begriffen hat, dass Childe Harold nichts weiter als ein Baedeker in Spenserstanzen ist.«
»Achten Sie jetzt nicht auf sie, Leonhard«, sagte Frau Klaudine wehmütig. »Sie ist krank; aber sie ist doch ein gutes Mädchen und klug und kennt die Wege, die zur Genesung führen. Sagen Sie uns jetzt ein wenig von Ihrem eigenen Leben und wie die Welt sich von dem Lehnstuhl des Vetters Wassertreter aus anschauen lässt. An welcher Stelle haben Sie ein Zeichen in das große europäische Bilderbuch gelegt?«
»Ja, reden wir von Ihnen, oder vielmehr sprechen Sie von sich allein«, rief auch Nikola, ihre Tränen trocknend. »Wir drei hier in der Mühle bilden doch ein merkwürdiges Kleeblatt und könnten hundert Jahre alt werden, ehe wir mit unsern Geständnissen und Herzensergießungen zu Ende wären. Gott schütze jedermann vor einem derartigen embarras de richesse. Was macht der Vetter Wassertreter und das europäische Abc-Buch, Herr