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Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962816056
Автор произведения Wilhelm Raabe
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
»Hochwohlgeborene Frau Majorin und allersüßestes Herz!
Wälder und Felder schlafen, das Dorf schläft, und auch die gute Verwandtschaft weiß wenig von sich nach einem in hergebrachter Weise, nach der Väter Sitte, in nützlicher Tätigkeit durchlebten Tage. Es ist so still um mich her, im Hause wie vor dem Fenster, und die weite dunkle Welt ringsum hat ein so gutes Gewissen, und nur mir ist unruhig zumute, als wäre es mit meinem Gewissen nicht so ganz in der Ordnung. Ich bin aufgeregt, nervös, nenne es, wie Du willst, nur lass mich mit Dir plaudern; schlafen kann ich nicht.
Du hast ja früher, als Dein Major noch nicht Dein Major war, oft genug meinen närrischen Kopf an Deiner Brust gehalten und Dir nächtlicherweile kuriose Dinge erzählen lassen; – warte nur, morgen im Sonnenschein, wenn Dir diese Bekenntnisse einer blutenden Seele zu Händen kommen und Du betroffen, kopfschüttelnd, mitleidig, verstört Dich hindurchwindest und Deinen klaren Verstand an jedem Ausrufungszeichen und Fragezeichen hängen lassen musst, will ich schon meine Genugtuung haben und über Dich lachen – auch wie in vergangenen schönen Tagen!
Augenblicklich kann ich nicht lachen, und eine tolle Ballmusik, ein klingender, schwirrender, dummer Walzer käme mir gerade recht, und dass die Nachtigallen – wir sind ja gottlob über den Johannistag hinaus – bereits still geworden sind im Garten, ist mein Glück. Ich glaube, dieser Vogel brächte mich in dieser Nacht um, wenn er plötzlich und ganz gegen die Naturgeschichte wieder anfinge, unter meinem Fenster zu singen.
Ist es denn wahr, dass ich von Rechts wegen ein so böses Gewissen haben sollte? Was habe ich getan? Was habe ich nicht getan? Bin ich nur krank? Sind es nur meine Nerven, welche das Kopfkissen, das allen guten und gesunden Kindern so sanft ist, mir verleiden? Ich komme nicht dahinter, wie sehr ich mich quäle und abmühe, das Rätsel zu lösen und zu Bett gehen zu können.
Kind, ich bin verdrießlich und unzufrieden mit mir. Nicht deshalb, weil ich seit dem Frühling nicht an Dich schrieb; denn ich weiß, dass Du solches Schweigen nach Verabredung als ein Zeichen meines Wohlergehens zu nehmen hast. Auch nicht deshalb, weil die Zeit der goldenen Freiheit vorüberging, weil die Herrschaft nunmehr wieder am Faden zieht und der Hänfling aus der blauen Luft herniedermuss, um aus gnädiger Hand mit Mohnsamen gefüttert zu werden und im vergoldeten Käfig Betrachtungen über das Gelbwerden der Blätter anzustellen. O nein, ich kann ja meinen Frühling und Sommer jetzt in Wasserfarben aufs Papier bringen und habe dem Onkel Bumsdorf mein Ehrenwort gegeben, ihm die neue Brennerei samt dem restaurierten Kuhstall und ihn – den Oheim – zwischen beiden in Öl zu liefern. Da habe ich schon meine Rettungsmittel vor dem nessun maggior dolore – doch Dich, Bevorzugte, hat man nicht bereits in zartester Jugend mit der Nase in die italienische Grammatik gestoßen, und so weißt Du auch nicht, dass es nach Dante Alighieri keinen größern Schmerz gibt, als sich im Unglück glücklicherer Zeiten zu erinnern. Sollte letzteres wahr sein und die italienische Grammatik also mittelbar die Schuld meiner augenblicklichen Stimmung tragen? O Kind, unter der Voraussetzung, dass Dein Major, der Major aller Majore, nicht durch das schmalste Hinterpförtchen oder Seitentürchen in den geheiligten Bezirk meiner Jungfernconfessions eingelassen werde, will ich mit Dir darüber schwatzen. Keinen Blick darf er aber drauf tun; versprich es mir und riegele ihn ein in der Kinderstube!
Nun sehe ich Dich schon, wie Du stehst, mit dem Federwedel Deinen Nippestisch in Ordnung hältst und wie der Briefträger Dir meinen Brief bringt. Ich höre den kleinen Freudenschrei, welchen Du ausstößest – ach Gott, lege den Flederwisch nicht zur Seite, stäube mich auch ein wenig ab mit Deiner linden Hand; ich habe es sehr nötig, und Du verstehst es! Ach Gott, wäre ich doch auch solch eine Schäferin aus Meißen oder wenigstens so vernünftig, verständig und gut wie Du! In beiderlei Art wäre mir geholfen, und auf beiderlei Art ließe sich das Leben mit Genuss tragen. Übrigens hast Du das Gutsein auch leichter gehabt als andere Leute. Das Schicksal hat Dich auf weichen Händen getragen und Dich in weiche Hände gelegt. Grüße mir Deinen Major, doch lasse ihn nur noch ein Weilchen hinter Schloss und Riegel bei den Kleinen: später wird er umso mehr den Liebenswürdigen spielen! Ja, sie haben Dir Wiegenlieder gesungen Dein ganzes schönes Leben durch; ich aber bin unter dem Lärm einer Quadrille geboren; die Klarinette ist mein Instrument, und dabei fällt mir eine Bitte ein: Wenn Du mich überlebst, so leid es nicht, dass man mich mit Pauken und Trompeten zu Grabe bringe; ich habe genug davon gehabt, ehe ich die ersten weißen Atlasschuhe durchschleifte.
Gott segne Dein gutes Gemüt, Emma, und lasse Dich das Deinige in Ruhe genießen; ich weiß, Du tust mir zu jeder Stunde auf, wenn ich an Dein Fensterlädchen klopfe. Sieh, hier sitze ich zu Deinen Füßen, wie Bettina auf ihrer ›Schawell‹ in der Frau Rat Stube, und geduldig wirst Du Sinn und Unsinn durcheinander anhören müssen. Bist Du etwa nicht meine Frau Rat, und zwar meine junge? Und dass Du meine junge Frau Rat bist, das soll nicht bloß Deinem Major zugute kommen, sondern anderen Leuten auch. Ich habe freilich auch noch eine alte Frau Rat, und in deren Stube hab ich gleichfalls ein ›Schawellche‹, hinter den sieben Bergen, in der Katzenmühle – aber wie kann ich der Frau Klaudine sagen, was ich doch sagen muss? Das leiseste Wort würde unter ihren stillen Augen wie der gellendste Schrei sein. Was soll ich ihr sagen; sie sieht mit ihren Zauberaugen ja doch tief in den Grund aller Dinge! Ich fürchte mich vor ihr – vor ihr! Ist es nicht das allerschlimmste, sich vor der Liebe eines Menschen, vor einer solchen Liebe fürchten zu müssen?…
Was habe ich gestern unter den Garben und Erntekränzen getan? Rate!… Auf dem Bauche – o Himmel, kann ein Hoffräulein sich natürlicher und abscheulicher ausdrücken, und was würde meine Prinzeß dazu sagen? – habe ich gelegen im Kreise der Schnitter und Schnitterinnen, und Richard den Dritten habe ich gelesen und bin gewillt,
ein Bösewicht zu werden
Und feind den eitlen Freuden dieser Tage.
Was habe ich heute getan, Emma? Mein Herz habe ich begraben und die Welt angenommen,