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Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962816056
Автор произведения Wilhelm Raabe
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
»Sagen Sie mir mehr und anderes von Ihrem Befreier!« murmelte die Bewohnerin der Mühle; Hagebucher aber rief, indem er fast wie in einem Krampf die Hände aneinander rieb:
»Verzeihung, ach Verzeihung, Frau Klaudine! Aber ich kann jenen Tagen nicht beikommen, ich kann von jenen Gestalten nicht loskommen als auf diese Weise. Es ist eine Feigheit, aber ich kann dieser heillosen Vergangenheit nicht grad ins Gesicht sehen; der Schauder liegt zu tief in den Nerven – mein ganzes Leben ist ja zu einem solchen Seitwärtsschielen geworden! Freilich trage ich diesen Kornelius van der Mook in dem stillsten Winkel der Seele, wenn er gleich nicht zu jenen Menschenfreunden gehörte, die, aus Heroismus und Aufopferungsfähigkeit zusammengesetzt, nach der Meinung fantasiereicher wohlwollender Leute so häufig in der Welt vorkommen, aber doch ungemein selten im richtigen Augenblick sich vorfinden. Der Herr van der Mook war ein mürrischer, schweigsamer Mann, der, wie jeder in Afrika Handeltreibende, seine Peitsche aus Büffelleder an dem Gürtel trug und dieselbe nötigenfalls sehr rücksichtslos gegen Menschen und Vieh gebrauchte. Er rechnete vortrefflich in allen von London bis zum Mondgebirge landläufigen Münzsorten, und während seines Aufenthalts zu Abu Telfan waren ihm die Gefühle und Stimmungen der Madam Kulla Gulla wichtiger als die meinigen. Er hatte Geschäfte mit meinen früheren Gebietern zu machen und ließ sich in denselben nicht stören. Unsere halbe oder viertel Landsmannschaft achtete er wie ein echter Holländer sehr gering, und einen Wunsch, etwas Näheres über den Mann zu erfahren, der ihm zu so hohem Dank verpflichtet war, zeigte er in keiner Weise. In allem, was er tat und sagte, gab er sich als ein sehr praktischer, kühler, scharfer Rechner kund, und erst, nachdem wir von Abu Telfan aufgebrochen waren, trat er mir etwas näher, doch hab ich nicht herausgekriegt, ob er wirklich ein echter Holländer war. Die Unterhaltung in unserer Karawane wurde in allen möglichen Zungen geführt, nur nicht in der deutschen; und der Herr van der Mook, der jedenfalls Deutsch verstand und sprach, schien sich sogar nunmehr sehr davor zu hüten, sich dieser Sprache im Verkehr mit mir zu bedienen. Es ist mir auch immer deutlicher geworden, dass er nicht von Deutschland und den deutschen Verhältnissen reden wollte; und wie ich mich abmühte, ihn zu Äußerungen und Mitteilungen in dieser Richtung zu bewegen, es blieb stets bei jener uralten batavischen Redensart, mit welcher schon Civilis und Velleda allen unbequemen Erörterungen aus dem Wege gingen: Kan niet verstaan! – Seinen Rat, seinen Arm, seinen Geldbeutel und seinen Kredit hat er mir jederzeit, auf dem Nil und in Alexandria wie in Abu Telfan, auf das bereitwilligste zur Verfügung gestellt; mit dem Gemüt hat er mir auf keine Weise geholfen, und so haben wir mit einem Handschütteln Abschied voneinander genommen, wie an der Türe einer Konditorei oder eines Klubhauses. Zu allem anderen Unbehagen schleppe ich auch das Gefühl mit mir, dass sich auch hier wieder Schritte, die mir wert und hochgeliebt bis zum Tode bleiben müssen, in die Wüste verlieren. Es ist ein arges, grimmiges Gespenst, welches auf allen Wegen hinter mir dreintritt und die Fäden, die mich mit den Hoffnungen und Sorgen, der Arbeit, der Freude und dem Leide um mich her verknüpfen, mit scharfem Messer zerschneidet. Ich habe nichts, gar nichts heimgebracht aus der Fremde, halte es aber auch für kein Wunder, dass die Heimat gar nicht daran glaubt, eine solche Tatsache gar nicht fassen kann.«
Der Erzähler brachte somit für dieses Mal seinen Bericht kleinlaut genug zu Ende, und auch die Frau Klaudine war eine Weile ganz still. Endlich sprach sie mit einem tiefen Seufzer:
»Wer verliert nicht mehr, als er findet, auf seiner Wanderung? Welche ehrlichen Leute rühmen und freuen sich dessen, was sie heimbringen? Nur die Kleinen und Nichtigen dürfen Triumph rufen, wenn sie ihren Bettelsack ausschütten; die Großen und Edlen werden immer sich abwenden und sagen: Das Beste gehört nicht uns zu, und wir wissen nicht, von wem wir es haben! – Was sind wir allesamt anders als Boten, die versiegelte Gaben zu unbekannten Leuten tragen? Die größte Schlacht und das höchste Gedicht, von wem kommen und zu wem gehen sie? Kein rechter Sieger auf irgendeinem Felde wird je rufen: Dies ist mein Werk und das soll es wirken! – Ich danke Ihnen, mein Freund, für die Stunden, welche Sie mir heute gegeben haben. Wir wollen immer bessere Freunde werden, Sie und ich und Nikola Einstein und noch einige andere. Wir wollen einander helfen und nicht ungeduldig sein. So lange Zeit, als Sie in der entsetzlichen Gefangenschaft lagen, hab ich hier in der Einsamkeit, in Gram und eintönigem Schmerz gesessen und hab auch heute nicht gefunden, was ich suche. Wir wollen Geduld lernen und lehren und einander helfen, wie wir vermögen. Nun wird es Nacht; Sie müssen gehen und ich bleibe wieder allein; daran werden Sie denken auf Ihrem Wege, und es ist gut für Sie. Sie werden oft zu der Mühle zurückkehren, und das ist gut für mich. Nun will ich Sie auf die Stirn küssen, Leonhard Hagebucher, und Ihnen gute Nacht sagen; heute soll kein böses Gespenst Ihnen folgen und den Faden, der Sie an die Katzenmühle bindet, zerschneiden. Ich will gute Wache darüber halten, und morgen sollen Sie die alte Frau in der alten Mühle loben.«
Zehntes Kapitel
»Gute Nacht, Madam Klaudine«, hatte auch Leonhard Hagebucher gesagt und war seines Weges, oder was man so nennen mag, gegangen; denn er wusste wenig von seinem Wege, er spürte ihn jedenfalls kaum unter den Füßen. Von den ersten Bäumen des Waldes aus hatte er noch einmal zurückgeblickt nach der kleinen Hütte unter der Felsenwand. Der Fels war dunkel, das Gärtchen lag in tiefer Dämmerung, und es war wie Magie, als jetzt Christine die Lampe der Frau Klaudine anzündete und der Lichtschein aus dem Fenster der Mühle dem zögernden Lauscher nachfolgte in den Wald. Leonhard grüßte diesen Schein noch einmal tiefer zwischen den Bäumen und schritt erst dann schneller vorwärts, als der Stamm einer alten Eiche ihn seinem Blick entrückte; die letzten Worte der Greisin erhielten jetzt erst ihr volles Gewicht: kein arglistiger Dämon durfte seine heutigen Schritte auslöschen oder