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Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962816056
Автор произведения Wilhelm Raabe
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Ich bin allmählich eine alte, alte Jungfer geworden, und da ich eine arme Jungfer immer war, so bleibt am Ende wenig Erfreuliches von der närrischen Nikola Einstein für Sinn und Gemüt der Welt übrig. Ich wundere mich auch an jedem jungen Morgen darüber, was den Herrn von Glimmern bewegen könne, so hartnäckig auf der Einlösung der Verschreibung meiner nichtigen Person zu bestehen.
O Emma, Emma, wie anders könnte doch das alles sein, wie anders müsste es von Rechts wegen sein! Da könnte sich selbst ein Hoffräulein zu Tode weinen; ja gerade ein Hoffräulein – ein Hoffräulein erst recht ist hier vor allen anderen Erdenweibern befugt, sich über die Erbärmlichkeit in einem feuchten Gewölk zu erheben. Was habe ich getan, dass mir grad in mein Leben ein so großes Fragezeichen gesetzt ist? Ich habe immer noch meine Stunden, in welchen ich mich für ein ganz braves und ehrliches Mädchen halte; das sind meine schlimmsten Stunden, denn in ihnen muss ich am tiefsten über jenes Fragezeichen nachdenken, und es hilft doch nichts. Hier lässt mich alles im Stich, das eigene Herz, auch Du und die Frau Klaudine!
Es ist aber zu guter Letzt noch einmal ein schöner Sommer gewesen, und ich hoffe, den Duft und Glanz davon tief in die Zukunft hinüberretten zu können. Manchmal hab ich gedacht: Nikola, mit dem Winter kommt der Tod, sei gescheit, steh früh auf und gehe nicht zu früh zu Bett; trage zusammen, was du greifen und schleppen kannst; verhocke nicht den letzten Sonnenschein im Schmollwinkel; rette, was du retten kannst! Dann habe ich den Shakespeare zu Hause gelassen und bin mit dem armen Hölty zu Walde gezogen. Der Hölty stammt aus der Tante Bumsdorf Bibliothek und ist in himmelblauen Sammet eingebunden, und der Schnitt war einmal vergoldet. Ich habe das Buch nicht immer aufgeschlagen; allein das Bewusstsein, es in der Tasche zu tragen, genügte auf des Onkels Bumsdorf doppelschürigen Wiesen. Es sind Tage gewesen, in denen ich die ganze geheimnisvolle Naturempfindung des Kindes wiedererlangte, in denen Auge und Nase aus korrumpierten Sklaven der Gesellschaft zu freien Bürgern des wahren Reichs Gottes wurden. Wäre das alles aber auch nur ein Zeichen von Gesundheit gewesen! Ach, die Frau Klaudine hat’s wohl gewusst, was es bedeutete. Siehst Du, Emma, die Mühle, die alte Mühle in der Wildnis und die alte Frau in der Mühle, die halten mich wach und lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Das Rad ist freilich längst zerbrochen und kann mir nicht im Kopf herumgehen; aber die Geister der Zeit, die nicht mehr ist, umschweben das Dach und kauern auf der Schwelle der morschen Hütte, und was soll ich gegen sie tun? Es zieht mich hin, es reißt mich zurück, ich sträube mich mit aller Kraft; aber ich werde durch den Wald gezogen und geschoben: ich möchte mich an allen Büschen und Zweigen halten, aber sie geben nach und lassen mir ihre Blätter, ihre Rinde in den Händen; weiter muss ich! Und es ist keine wilde, keine harte, unwillige, zornige Gewalt, der ich anheimgegeben bin – mein eigener Wille ist in den Mächten außer mir; alle meine Neigungen, all mein Sehnen und Wünschen wohnen bei der Greisin in der Katzenmühle, und da bin ich wieder in der Katzenmühle, sitze zu Füßen der Mutter, ja, der Mutter, und für mein Haupt ist keine Ruhestätte als in ihrem Schoße. – Die Bäume des Waldes und unser Gärtchen, welches vor allen Gärten aller Weltteile mir köstlich und wundervoll ist, blicken in unser niederes Fenster, und einmal ist auch ein Reh gekommen, um hineinzugucken. Da ist es gut sein, da lässt sich ganz leise sprechen von dem, was eigentlich hätte werden müssen, wenn alles unter den Menschen mit rechten Dingen zuginge. Kein Kornblumenkranz ist so blau wie unsere Fantasien, bis auf einmal die Dämmerung da ist und der Wald anfängt, kühl zu atmen. Wie kann die Frau Klaudine auch dann noch mir die Haare mit einem Lächeln aus der Stirn streichen? Ich muss fort, und alle schönen Farben erblassen. Ich reite heim auf meinem Schimmel, und zur linken Seite des Weges begleitet mich eine Stimme, die sagt ganz eintönig: ›Er ist tot, er ist tot!‹ Und zur rechten Seite ist eine andere Stimme, dicht am Boden hinkriechend, und sie sagt ebenso tonlos: ›Zehn lange Jahre, zehn lange Jahre!‹ Weiter wissen sie nichts; aber verwunderlich ist’s eben doch nicht, dass ich häufig atemlos auf sehr atemlosem Gaule auf dem Bumsdorfer Hofe anlange und dass der Oheim dann mit bedenklichem Kopfschütteln um seinen vielgeliebten Prospero herumsteigt und imstande ist, mir eine längere Vorlesung über die Behandlung der Pferde, und vorzüglich seiner Pferde zu halten.
Was sind das für Leute, die dort bei Euch jenseits der Berge wohnen, was kümmern sie mich, was habe ich mit ihnen zu schaffen? Vor einer Stunde, in der Katzenmühle, auf dem Schemelchen zu den Füßen der Frau Klaudine hatten sie freilich keine Bedeutung für mich; aber sie zwingen mich schon, an ihre Wirklichkeit zu glauben! Sie haben ebenso starke Hände wie die Geister, die mich durch den Wald zur Mühle ziehen; ach, aber wenig von meinem eigenen Willen ist bei diesen Mächten, welche auch kein Widerstreben dulden und hart, zornig und spottend mich aus dem geheimsten Versteck hervorzerren. Wie haben sie diese Herrschaft über mich erlangt? Sie sagen, sie haben das Recht, mich mit sich zu nehmen: sie pochen auf ihre Rechte und behaupten, was ihnen noch daran gefehlt habe, das sei ihnen längst von mir freiwillig hinzugelegt, und wenn ich dann eine Nacht den Kopf mit beiden Händen gehalten habe, so bleibt mir kein Zweifel mehr: sie reden die Wahrheit!
Friedrich hat aus Paris geschrieben, einen sehr hübschen und geistreichen Brief, der mir sehr allerliebste Höflichkeiten und Schmeicheleien sagt und mich hoffentlich, wenn er mir nach einem Dutzend Jahren wieder in die Hände fällt, recht ergötzen wird. ’s ist zwar nicht ganz die Regel, dass ein solcher Brief an der Stirn das Motto: Illusions perdues! führe; aber die Tatsache steht doch einmal fest: wir sind ein paar verständige, kühle, gesetzte Personen und sehnen uns beide nach Ruhe. Friedrich freut sich ungemein auf unsern Haushalt, und seine Pläne und Vorschläge in betreff desselben haben meine ganze Billigung. Er meint, unsere gesellschaftlichen Verpflichtungen würden sich leicht um ein bedeutendes verringern lassen; man habe gewiss das Seinige getan, um anderen das Dasein angenehm zu machen, und man könne nunmehr mit gutem Gewissen eine Rosenhecke, aber immer eine Hecke, um sein eigenes Behagen ziehen. Einverstanden! Er mag das alles so einrichten, wenn es wirklich seine Absicht ist; ich verlange weiter nichts, als so oft wie möglich eine Tasse Tee mit Dir, Emma, hinter jener Hecke trinken zu dürfen, und verpflichte mich jedenfalls, der Welt kein außergewöhnliches Ärgernis zu geben. Wenn ich Dich, mein Kind, nicht hätte, so würde ich die Hochzeit noch immer einige Monate hinauszurücken suchen; aber Deinetwegen soll sie zu Anfang des Winters stattfinden, und mit diesem Briefe an Dich