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hätte verlassen sollen, das mich in den Abgrund riß. Pauline kam und fand mich düster dahockend. – »Was ist Ihnen denn?« fragte sie. Ich stand mit ernster Miene auf, zählte ihr das Geld hin, das ich ihrer Mutter schuldig war, und fügte meine Miete für ein halbes Jahr hinzu. Sie sah mich erschrocken an. »Ich verlasse Sie, liebe Pauline.« – »Ich ahnte es!« rief sie. – »Hören Sie, mein Kind, ich möchte nicht völlig darauf verzichten, wieder hierherzukommen. Reservieren Sie mir meine Zelle ein halbes Jahr lang. Bin ich am 15. November nicht zurück, so treten Sie meine Erbschaft an. Dieses versiegelte Manuskript – damit wies ich ihr einen Packen Papiere – ist die Abschrift meines großen Werkes über den Willen; übergeben Sie es der Königlichen Bibliothek. Mit allem anderen, was ich hier lasse, können Sie machen, was Sie wollen.« Sie warf mir Blicke zu, die mich schwer ins Herz trafen. Pauline stand da wie das leibhaftige Gewissen. – »Ich werde keine Stunden mehr haben?« fragte sie mit einem Blick aufs Klavier. Ich antwortete nicht. »Werden Sie mir schreiben?« – »Leben Sie wohl, Pauline.« Ich zog sie sanft an mich und drückte auf ihre liebe Stirn, jungfräulich wie Schnee, der die Erde noch nicht berührt hat, einen brüderlichen Kuß – den Kuß eines Greises. Sie enteilte. Madame Gaudin wollte ich nicht sehen. Ich hing meinen Schlüssel an die gewohnte Stelle und ging. Als ich die Rue de Cluny verließ, hörte ich einen leichten Frauenschritt hinter mir. – »Ich hatte Ihnen diese Börse gestickt; wollen Sie die auch nicht mitnehmen?« Ich glaubte, beim Schein der Straßenlaterne eine Träne in Paulines Augen schimmern zu sehen und seufzte. Vielleicht von dem gleichen Gedanken getrieben, trennten wir uns so eilig, als flüchteten wir vor der Pest. Das wüste Leben, dem ich mich überlassen wollte, schien mir in dem Zimmer, in dem ich mit edler Unbekümmertheit auf Rastignacs Rückkehr wartete, seinen bizarren Ausdruck zu finden. Mitten auf dem Kamin stand eine Pendule, auf der eine Venus auf einer Schildkröte hockte und einen Zigarrenstummel in den Armen hielt. Elegante Möbel, Geschenke der Liebe, standen unordentlich umher. Alte Socken lagen auf einem üppigen Diwan herum. Der bequeme Lehnstuhl, in dem ich versunken war, zeigte Narben wie ein alter Soldat, stellte seine zerrissenen Arme zur Schau und trug auf seiner Lehne eine Kruste von Pomade und Haaröl, ein Abdruck sämtlicher Freundesköpfe. Üppigkeit und Elend paarten sich ungeniert im Bett, an den Wänden, überall. Man wurde an die von Lazzaroni umlagerten Paläste von Neapel erinnert. Es war das Zimmer eines Spielers oder Liederjans, dessen Luxus an seine Person gebunden ist, der nur mit den Sinnen lebt und sich um derlei Divergenzen nicht weiter schert. Der Anblick war übrigens nicht ohne Romantik. Das Leben zeigte sich da mit seinen Flittern und Lumpen, wetterwendisch und unvollkommen, wie es wirklich ist, aber lebhaft und farbenfreudig wie im Zelt eines Marodeurs, der alles zusammengeplündert hat, was ihm Freude macht. Ein Byron, aus dem Blätter herausgerissen waren, hatte dem jungen Mann zum Feueranmachen gedient, der im Spiel 1000 Francs riskiert, aber kein Scheit Holz hat, der im Tilbury fährt, aber kein ordentliches Hemd am Leibe trägt. Schon am nächsten Tag gibt ihm vielleicht eine Comtesse, eine Schauspielerin oder das Écarté eine königliche Ausstattung. Hier klebte eine Kerze in der grünen Kappe eines Feuerzeuges; dort lag das Bildnis einer Frau, das seines goldenen Rahmens beraubt worden war. Wie sollte ein junger Mann, dessen Natur nach Erregungen dürstet, auf die Reize eines Lebens verzichten, das so reich an Gegensätzen ihm mitten im Frieden die Freuden des Krieges gewährt? Ich war beinahe eingenickt, als Rastignac mit einem Fußtritt die Tür aufstieß und rief: »Triumph! jetzt können wir sterben, wie's uns beliebt!« Er zeigte mir seinen Hut, der voller Gold war, stellte ihn auf den Tisch, und wir tanzten um ihn herum wie zwei Kannibalen um ihr Opfer, heulten, stampften, sprangen, versetzten uns Faustschläge, die ein Rhinozeros niedergestreckt hätten, und sangen lauthals angesichts aller Freuden der Welt, die für uns in diesem Hut enthalten waren. »27000 Francs!« rief Rastignac und warf noch ein paar Scheine auf den Goldhaufen. »Anderen könnte dieses Geld zum Leben genügen, aber ob es uns zum Sterben genug ist? O ja, wir werden in einem Goldbad dahinscheiden! Hurra!« Wir fingen von neuem mit unsern Bocksprüngen an. Dann machten wir uns wie lachende Erben ans Teilen, Stück für Stück; bei den Doppelnapoleons fingen wir an, gingen von den großen Münzen zu den kleinen über und kosteten unsere Freude tropfenweise, indem wir immer wieder sagten: »Das dir! Das mir!« – »Heute schlafen wir nicht!« rief Rastignac. »Joseph, Punsch!« Er warf seinem treuen Diener Gold zu: »Da hast du deinen Anteil«, sagte er, »begrabe dich, wenn du kannst!« Am Tag darauf kaufte ich bei Lesage Möbel, mietete die Wohnung in der Rue Taitbout, in der du mich kennengelernt hast, und beauftragte den besten Tapezierer mit der Ausstattung. Ich schaffte mir Pferde an. Ich stürzte mich in einen Wirbel von eitlen und von wirklichen Genüssen. Ich spielte, gewann und verlor abwechselnd ungeheure Summen, aber auf Festen, bei Freunden, nie in Spielhäusern, vor denen ich meine frühere heilige Scheu beibehielt. Allmählich fand ich Freunde. Ich verdankte ihre Anhänglichkeit kleinen Streitigkeiten oder der vertrauensseligen Leichtfertigkeit, mit der wir uns unsere Geheimnisse anvertrauen und uns gemeinsam erniedrigen; aber vielleicht sind nur die Laster unser Bindeglied? Ich wagte mich an einige literarische Arbeiten, die mir Komplimente eintrugen. Da die Leuchten der Literatenwelt in mir keinen gefährlichen Konkurrenten sahen, lobten sie mich, ohne Zweifel weniger wegen meines persönlichen Verdienstes, als um das ihrer Kollegen zu schmälern. Ich wurde ein Lebemann, um mich dieses malerischen Ausdrucks zu bedienen, den eure Orgiensprache erfunden hat. Es war mir eine Ehrensache, mich schnell umzubringen, mit meinem Schwung und meiner Ausdauer die heitersten Kumpane auszustechen. Ich war immer frisch, immer elegant. Ich galt für geistvoll. Man sah mir das furchtbare Dasein nicht an, das aus dem Menschen einen Trichter, einen Verdauungsapparat, ein Luxuspferd macht. Bald erschien mir die Ausschweifung in der ganzen Majestät ihres Grauens, und ich verstand sie! Keine Frage: die vernünftigen Leute aus geordneten Verhältnissen, die Weinflaschen für ihre Erben etikettieren, können weder die Theorie dieses unermeßlichen Lebens noch dessen Normalzustand auch nur annähernd begreifen; wie soll man Provinzlern, für die Opium und Tee, in denen eine solche Fülle von Wonnen schlummern, noch immer nur Arzneien sind, die Poesie dieses Lebens beibringen? Findet man nicht selbst in Paris, dieser Hauptstadt des Geistes, kleinmütige Sybariten? Unfähig, das Übermaß des Genusses zu vertragen, schleppen sie sich ermattet von einer Orgie weg, wie die biederen Bürger, die eine neue Oper von Rossini gehört haben und nachher die Musik verdammen? Entsagen sie nicht diesem Leben, wie ein maßvoller Mensch keine Pasteten von Ruffec mehr essen will, weil ihm die erste den Magen verdorben hat? Die Ausschweifung ist sicherlich eine Kunst wie die Poesie und braucht starke Seelen. Um ihre Geheimnisse zu fassen, ihre Köstlichkeiten zu schlürfen, muß man sich einigermaßen gründlichen Studien hingeben. Wie alle Wissenschaften ist sie im Anfang abschreckend und dornenvoll. Ungeheure Hindernisse umgeben die großen Freuden des Menschen, nicht seine Vergnügungen im einzelnen, sondern die Systeme, welche die seltensten Empfindungen zur Gewohnheit erheben, ihnen Intensität verleihen, sie für ihn fruchtbar machen, indem sie in sein Leben ein dramatisches Element bringen und ihn zu einem unmäßigen, schnellen, verschwenderischen Verbrauch seiner Kräfte nötigen. Der Krieg, die Macht, die Künste bringen Verderbtheiten hervor, die menschlichem Begreifen ebenso fernliegen wie die Ausschweifung, und zu denen der Zugang ebenso schwierig ist. Aber hat der Mensch erst einmal diese großen Geheimnisse im Sturm genommen, schreitet er wie in einer neuen Welt. Generäle, Minister, Künstler werden allesamt mehr oder weniger zur Zügellosigkeit getrieben, weil sie das Bedürfnis haben, ihrem so weit vom gewöhnlichen Leben entfernten Dasein außerordentliche Zerstreuung entgegenzusetzen. Letztendlich ist der Krieg die Ausschweifung des Blutes, wie die Politik die Ausschweifung der Interessen ist. Alle Exzesse sind Geschwister. Diese sozialen Ungeheuerlichkeiten haben die Gewalt von Abgründen; sie ziehen uns an, wie Sankt Helena Napoleon an sich lockte; sie machen uns schwindlig, behexen uns, und wir lechzen danach, ihre letzten Tiefen zu ergründen, ohne zu wissen, warum. Vielleicht lebt in diesen Abgründen die Idee des Unendlichen; vielleicht bergen sie eine große Huldigung für den Menschen; dreht sich denn nicht alles um seine Person? Der Künstler braucht einen Kontrast zum Paradies seiner Arbeitsstunden, seiner Schöpferwonnen, er ist müde und ersehnt entweder wie Gott die Sonntagsruhe oder wie der Teufel die Lüste der Hölle, um mit der Anspannung der Sinne die Anspannung seiner Fähigkeiten auszugleichen. Lord Byrons Erholung konnte nicht das geschwätzige Boston sein, das einen Rentier entzückt; er war ein Dichter, er brauchte Griechenland, um gegen Mohammed zu spielen. Wird der Mensch nicht im Krieg ein Racheengel, ein Henker kolossalen Ausmaßes? Bedarf es nicht ganz außerordentlicher Reize, damit wir die wilden Schmerzen, die Feinde unserer gebrechlichen Hülle, ertragen, welche die Leidenschaften wie mit einem
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