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Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band. Оноре де Бальзак
Читать онлайн.Название Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band
Год выпуска 0
isbn 9788026813170
Автор произведения Оноре де Бальзак
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nanon kam und klopfte an die Mauer, um Monsieur aufzufordern, zum Mittagessen hinunterzukommen. Auf der untersten Treppenstufe angekommen, sagte Grandet zu sich selber: »Da ich dabei viel gewinnen kann, werde ich die Sache machen. In zwei Jahren habe ich dann eine Million fünfhunderttausend Francs, die ich in gutem Golde aus Paris zurückziehen kann.« – »Nun, wo ist denn mein Neffe?« fügte er laut hinzu.
»Er sagt, er mag nicht essen«, erwiderte Nanon. »Das ist doch ungesund.«
»Aber sparsam«, entgegnete ihr Gebieter.
»Gewiß, ja«, sagte sie.
»Bah! er wird schon aufhören zu weinen. Der Hunger treibt selbst den Wolf aus dem Wald.«
Das Mittagmahl verlief auffallend schweigsam.
»Mein lieber Mann«, sagte Madame Grandet, als der Tisch wieder abgedeckt war, »wir müssen Trauer anlegen.«
»In der Tat, Madame Grandet, Sie wissen wohl gar nicht, was Sie anstellen sollen, um Geld auszugeben? Die Trauer liegt im Herzen, nicht in den Kleidern.«
»Aber die Trauer für einen Bruder ist unerläßlich, und die Kirche gebietet . . .«
»Kaufen Sie sich Ihre Trauerkleider von Ihren sechs Louis. Mir genügt ein Kreppstreifen.«
Eugénie erhob die Augen zum Himmel und sagte nichts. Zum erstenmal in ihrem Leben wurden ihre bisher unterdrückten, schlummernden, nun aber plötzlich erwachten edelmütigen Regungen fortwährend verletzt. Dieser Abend verlief kaum anders als tausend andere Abende ihres einförmigen Daseins, aber dennoch war er der grausigste von allen. Eugénie arbeitete, ohne den Kopf zu heben, und bediente sich nicht mehr des Nähkästchens, das Charles am Abend vorher mißfällig beurteilt hatte. Madame Grandet strickte ihre Pulswärmer. Grandet drehte vier Stunden lang die Daumen, in Berechnungen vertieft, deren Resultat am andern Morgen ganz Saumur verblüffen sollte.
An diesem Tag kam niemand die Familie Grandet besuchen. Die ganze Stadt war in Aufregung über Grandets Gewaltstreich, über den Bankrott seines Bruders und die Ankunft seines Neffen. Um dem Bedürfnis, über ihre gemeinsamen Interessen zu schwatzen, nachkommen zu können, hatten sich alle Weingutsbesitzer der oberen und mittleren Gesellschaftsklasse bei Monsieur des Grassins versammelt, wo man sich in den schrecklichsten Verwünschungen gegen den ehemaligen Bürgermeister erging.
Nanon spann, und das sanfte Surren des Spinnrads war die einzige Stimme, die unter den grauen Deckenbalken des Saals ertönte.
»Wir nutzen unsere Stimme wenig ab«, sagte sie und zeigte ihre großen weißen Zähne, die wie geschälte Mandeln aussahen. »Nur nichts abnutzen!« antwortete Grandet, der aus seinen Grübeleien erwachte. Er sah sich im Geiste in drei Jahren im Besitz von acht Millionen und schwamm in einem Meer von Gold.
»Gehen wir schlafen. Ich werde meinem Neffen im Namen aller gute Nacht sagen und nachfragen, ob er etwas essen will.«
Madame Grandet blieb auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks stehen, um das Gespräch mit anzuhören, das zwischen Charles und dem Biedermann stattfinden sollte. Eugénie, die mutiger war als ihre Mutter, stieg zwei Stufen höher hinauf.
»Nun, lieber Neffe, Sie haben Kummer? Ja, weinen Sie nur, das ist natürlich. Ein Vater ist ein Vater. Aber wir müssen unser Unglück in Geduld tragen. Während Sie weinen, befasse ich mich mit Ihrem Geschick. Ich bin ein guter Onkel, wie Sie sehen. Also vorwärts, Mut! Wollen Sie ein Gläschen Wein trinken? Der Wein kostet nichts in Saumur; man bietet bei uns Wein an, wie in Indien eine Tasse Tee. – Aber«, fuhr Grandet fort, »Sie sind ja ohne Licht. Schlimm! schlimm! Man muß bei allem, was man tut, klar sehen.« Grandet ging zum Kamin.
»Hallo!« rief er aus, »sieh da, ein Wachslicht! Wo zum Teufel hat man ein Wachslicht aufgetrieben? Diese Weibsbilder würden am liebsten das Haus zusammenreißen, um Holz für ein Feuerchen zu haben, auf dem sie ihm Eier kochen können.«
Als sie diese Worte vernahmen, gingen Mutter und Tochter still in ihre Zimmer und verbargen sich in ihren Betten mit der Schnelligkeit von Mäusen, die erschreckt in ihre Löcher fliehen.
»Madame Grandet, haben Sie einen Schatz ausgegraben?« sagte ihr Mann, zu seiner Frau ins Zimmer tretend. »Mein lieber Mann, ich bete, warte ein wenig«, erwiderte mit bebender Stimme die arme Mutter. »Was zum Teufel geht mich dein lieber Gott an«, grollte Grandet.
Der Geizhals glaubt nicht an ein zukünftiges Leben; für ihn ist die Gegenwart alles. Diese Betrachtung wirft ein grelles Licht auf unsere Zeit, in der mehr als in früheren Zeiten das Geld Gesetze, Politik und Sitten regiert. Lebensgewohnheiten, Bücher, Menschen und vorgefaßte Meinungen – alles wirkt zusammen, um den Glauben an ein zukünftiges Leben zu untergraben, einen Glauben, auf den das soziale Gebäude sich seit achtzehnhundert Jahren stützte. Heutzutage ist das Grab eine wenig gefürchtete Durchgangsstation. Die Zukunft, die unser nach dem Requiem wartete, ist in die Gegenwart hineingetragen worden. Per fas et nefas ins irdische Paradies des Luxus und der vergänglichen Freuden zu gelangen, sein Herz zu versteinern und seinen Leib zugrunde zu richten um irdischen Besitzes willen, so wie man ehemals das Martyrium des Lebens trug um der ewigen Güter willen – das ist heute der allgemeine Gedanke! Ein Gedanke, der sich überall niedergelegt findet, sogar in den Gesetzen, die den Gesetzgeber fragen: »Was zahlst du?« statt »Wie denkst du?« Wenn diese Doktrin vom Bürgerstand bis ins Volk hinabgedrungen sein wird, was soll dann aus dem Land werden?
»Madame Grandet, bist du fertig?« fragte der alte Böttcher.
»Mein Lieber, ich bete für dich.«
»Sehr gut! Gute Nacht. Morgen früh reden wir miteinander.«
Die arme Frau entschlummerte wie der Schüler, der seine Aufgaben nicht gelernt hat und fürchtet, beim Erwachen das empörte Gesicht seines Lehrers zu erblicken. Gerade als sie sich vor Angst fest in die Decken rollte, um nichts mehr zu hören, schlich sich Eugénie im Hemd und mit nackten Füßen zu ihr; sie küßte sie auf die Stirn.
»O du gute Mutter«, sagte sie, »morgen erzähle ich ihm, daß ich es gewesen bin.«
»Nein; er wird dich nach Noyers schicken. Laß mich nur machen, er wird mich nicht fressen.«
»Hörst du, Mama?«
»Was?«
»Ach, er weint noch immer.«
»Geh ins Bett, mein Kind. Du wirst kalte Füße bekommen; die Fliesen sind feucht.«
So endete der festliche Tag, der das Leben der reichen und armen Erbin für immer beschweren sollte; schon war ihr Schlummer weniger lang und weniger friedvoll als bisher. Nicht selten erscheinen uns literarisch gesprochen gewisse Ereignisse, obgleich sie wahr sind, unwahrscheinlich. Aber versäumen wir nicht fast stets, auf unsere plötzlichen Entschlüsse ein psychologisches Licht zu werfen, die ganz geheimen Gründe aufzudecken, die sie notwendig machten?
Die unergründlich tiefe Liebe Eugénies wurzelte vielleicht in den allerzartesten Nervenfäserchen; denn sie wuchs sich, wie manch ein Spötter sagen wird, zu einer Krankheit aus, die ihr ganzes Dasein beschattete. Viele Leute ziehen es vor, eine Entwicklung zur Katastrophe hin zu leugnen, statt die Fäden und Knoten, die Kraft des Gewebes zu prüfen, das in der sittlichen Weltordnung eine Handlung an die andere knüpft. Hier nun wird den Menschenkennern Eugénies bisheriges Leben ein Beweis sein für ihre kindliche Unüberlegtheit und für die Hilflosigkeit ihrer Seele gegenüber der Plötzlichkeit dieses neuen Empfindens. Je einförmiger ihr Leben bisher verlaufen war, um so lebhafter entfaltete sich jetzt in ihrer Seele das weibliche Mitleiden – das scharfsinnigste aller Gefühle. Aufgeregt durch die Ereignisse des Tages, hatte sie einen unruhigen Schlaf; sie erwachte mehrmals und