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NOTIZEN EINER VERLORENEN. Heike Vullriede
Читать онлайн.Название NOTIZEN EINER VERLORENEN
Год выпуска 0
isbn 9783943408881
Автор произведения Heike Vullriede
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich unterrichtete niemanden von Jens' Unglück … oder wie man es nennen mochte. Wen auch? Höchstens Marc, den ich ja anscheinend unten am Unfallort gesehen hatte. Hatte Jens vor seinem Sprung auf Marcs Auto gewartet? Aber warum?
Für wenige Stunden nickte ich ein, doch dann riss mich das Telefon aus dem Schlaf. Wahrscheinlich war es schon länger aktiv, denn der Anrufer verlor die Geduld und legte auf. Mit heraushängendem Oberkörper angelte ich den Wecker unter dem Bett hervor. Da war es wieder, das Drücken in meinem Hirn. Bloß nicht nach unten beugen!
Samstag, 7.06 Uhr! Mein Blick hinter die Vorhänge ließ eine viel zu helle Morgensonne in meine Augen.
Leider erinnerte ich mich nach wie vor an gestern. Jeden anderen Mist vergisst man.
Wieder läutete das Telefon. Ich nahm ab.
Jens war tot! Genau um 5.28 Uhr war sein Hirntod festgestellt worden.
Nach dem ersten Schock machte ich mich fertig, um ins Krankenhaus zu fahren. Vorher rief ich in der Firma an und nahm mir für die nächsten Tage Urlaub. Meine Chefin schien nicht gerade glücklich über meinen Anruf zu sein.
Es ist ein seltsames Gefühl, zu jemandem ins Krankenhaus zu fahren, von dem man weiß, dass er bereits tot ist. Was sollte ich anziehen? Schwarz? Ich wusste es nicht.
Das Haus der Verlorenen
Vom Auto aus blickte ich noch lange auf den Krankenhauseingang und wäre am liebsten den ganzen verdammten Tag dort sitzen geblieben. Ich wollte da nicht rein. Was würde mich erwarten? Wie würde Jens aussehen? Abermals hasste ich mein Leben!
Außer den Ärzten und Jens' Körper warteten im Krankenhaus noch zwei unbekannte Männer auf mich. Die Kripo! Ich fand es erschreckend, dass man mich verhörte. Man fühlt sich sofort schuldig, obgleich man genau weiß, dass man nichts verbrochen hat. Allein die Frage danach, ob ich etwas geahnt hatte! Was hätte ich denn gegen seine so oft geäußerten Selbstmordabsichten unternehmen können?! Nein, er hatte nichts hinterlassen, keinen Abschiedsbrief oder Ähnliches. Die beiden Männer nahmen meine Personalien auf, obschon das alles ihren Kollegen bereits vorlag. Sie kündigten mir einen Brief an.
In dem Moment, als die Beamten mir den Rücken zukehrten, fiel mir Jens' seltsamer Hinweis auf Post für mich ein.
Geh hin!, flüsterte es in meinem Kopf. Warum ich den Polizisten nicht davon erzählte, weiß ich nicht. Selbstschutz vielleicht, wahrscheinlich wollte ich einfach nur meine Ruhe haben.
Jens' Körper war mit einem Tuch bedeckt, aber nicht sein Kopf. Als ich vor diesem Bett im Keller des Krankenhauses stand, war ich nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Warum bringen sie die Toten in den Keller? Hinter mir standen ein Arzt und eine Krankenschwester und ich wusste nicht, was sie von mir erwarteten. Die dünne weiße Decke reichte Jens bis zum Hals. Darüber ruhte sein Kopf und sein Gesicht war … schief! Es war verformt, so als hätte man ihn zertreten. Seine rechte Kieferseite war derartig geschwollen, dass das, was man als die Wange bezeichnet und das nun nicht im Mindesten danach aussah, blau und schwarz bis über das rechte Auge reichte. Sein unnatürlich zur Seite verschobenes Kinn machte aus seinem Mund eine Grimasse. Eine offene Wunde konnte ich nicht erkennen. Vielleicht hinten am Kopf? Oder bluten Tote nicht mehr? Hätte Jens gedacht, dass sein Gesicht so entstellt sein würde nach seinem Sprung?
Ich hätte ihn umarmen sollen, ungeachtet seines schockierenden Aussehens, ihn drücken, wenigstens streicheln, ein letztes Mal. Stattdessen zog ich meine eben noch ausgestreckte Hand zurück und ließ ihn kalt liegen. So schnell ging es also, dass aus Jens ein Toter für mich wurde, den anzufassen ich zögerte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, schäme ich mich dafür.
Der Arzt sprach mich an. Jemand sollte Jens' Angehörige informieren.
»Sicher«, sagte ich nur.
Danach ging ich mindestens drei Stunden spazieren, zu Fuß bis in den Stadtgarten. Hier lief ich eine flache, breitstufige Treppe hinab. Eine von denen, die zwei oder drei Schritte pro Stufe verlangen, bevor man die nächste erreicht. Die Treppe führte tief in den Park hinein. Lichtspiele auf einer alten Mauer blendeten mich, bevor ich ganz in den Schatten eintrat. Ein Wegstück weiter setzte ich mich auf diese graue kalte Bank, die vor drei Jahren mein Schicksal besiegelt hatte. Ab und zu schloss ich die Augen und lauschte der Umwelt. Man konnte Vögel hören und von Weitem die Fahrgeräusche der Autos. Rollläden wurden hochgezogen. In einem nahe liegenden Haus öffnete jemand ein Fenster. Geschirr klimperte und Kinderstimmen wehten herüber.
Überall war dieses zufriedene Leben der anderen, das unerschüttert weiterging.
In meine Nase stieg der Geruch sich aufwärmenden, feuchten Rindenmulchs, leicht süßlich und leicht säuerlich-modrig. Für mich roch es nach Tod.
Hier hatte ich mit Jens gesessen, damals, vor drei Jahren. Ich erinnerte mich an seinen Redeschwall über seine katastrophale Kindheit und all die völlig übertriebenen Ängste. Ich hatte ihn nicht wirklich verstanden an jenem Tag, war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Aber seine Einsamkeit, die meiner eigenen glich, die hatte ich begriffen. Wir hatten fast schon zu viel gemeinsam. Ich glaube, genau deswegen konnte das mit uns nicht gut gehen. Das war der Tag, an dem ich eine Beziehung zu ihm eingegangen war und ich weiß heute, ein guter Funken Mitleid und ein ebenso dicker Funken Selbstmitleid hatten ihren Teil dazu beigetragen.
Meine Finger erwischten beim Graben in den Jackentaschen den noch immer ungelesenen Brief von gestern. Der Umschlag war längst zerknittert und ich wunderte mich erneut über die einfache Anschrift An Sarah in Druckbuchstaben und den fehlenden Absender. Wie viel Trägheit meinen Körper beherrschte, zeigte sich in meinem Bemühen, den Absender und den Inhalt des Briefes zu erraten, bevor ich ihn öffnete.
In dem Briefkuvert steckten ein weiterer verschlossener Umschlag und ein beschriebenes Blatt aus Rechenpapier. Gleich beim Auseinanderfalten erkannte ich die spitze und ständig unterbrochene Handschrift von Jens. Und dieser Brief schmachtete seit fast zwei Tagen bei mir Zuhause in der Jackentasche! Sogar schon vor unserem Treffen in der Stadt.
Bedenkt man, welche Schritte Jens ankündigte, lasen sich seine Worte fast sachlich. Genau genommen war es auch keine Ankündigung, sondern vielmehr eine Verabschiedung.
Liebe Sarah,
ich weiß nicht, ob du mir überhaupt nachtrauerst. Ich glaube, eher nicht. Aber das ist jetzt egal.
Auch wenn wir häufig Probleme miteinander hatten, unsere Beziehung leider nicht von Dauer so eng sein konnte, wie ich es mir gewünscht hätte (du meinst ja, es lag an mir): Du warst die einzige Frau, die ich je liebte. Ich habe inzwischen verstanden, dass du mich nicht mehr brauchst, und das ist auch gut so. Ab heute halte ich dich nicht mehr fest. Du bist frei. Denn heute bin ich tot. Aus und vorbei! Trotzdem wollte ich, dass du mich nicht vergisst und ich wählte einen Tod, an dem du teilhaben solltest. Bitte verzeih mir dafür. Für mich war das wichtig.
Hoffend, dass alles wie geplant geklappt hat, bitte ich dich um einen letzten Gefallen. Es ist ausgesprochen wichtig für mich:
Überbringe den inliegenden Umschlag bitte persönlich an folgende Adresse in der Stadt:
Haus der Verlorenen Weberstraße 9c
Um alles weitere – Beerdigung,