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Welle, die sich langsam über die Felder ergoß. Das Wasser kam näher und näher. Es waren lauter kleine weiße Wellen, wie sie manchmal an den Strand gespült werden. Ganz Glen wurde nach und nach verschluckt. Ich dachte noch: Die Wellen werden doch wohl nicht bis Ingleside herankommen? Aber sie kamen immer näher, ganz schnell. Bevor ich aufstehen konnte, hatten sie schon meine Füße erreicht. Und alles war weg, nur noch ein aufgewühltes Meer war dort, wo vorher Glen gewesen war. Ich versuchte zurückzuweichen. Dabei sah ich, daß der Saum meines Kleides blutgetränkt war. Und da wachte ich endlich auf – und zitterte. Der Traum gefällt mir nicht. Er hat irgendeine schlimme Bedeutung. Solche lebhaften Träume sind bei mir bisher immer, ‚wahr‘ geworden.“

      „Na, hoffentlich bedeutet er nicht, daß sich heute abend ein Sturm zusammenbraut und die Party ins Wasser fällt“, murmelte Rilla besorgt.

      „Du unverbesserlicher Kindskopf!“ sagte Miss Oliver trocken. „Nein, Rilla-meine-Rilla, mit so etwas Schlimmem brauchst du wohl nicht zu rechnen.“

      Seit einigen Tagen herrschte auf Ingleside eine unausgesprochene Spannung. Nur Rilla bemerkte vor lauter Aufregung nichts davon. Gilbert machte ein ernstes Gesicht und sprach wenig, wenn er die Zeitung las. Jem und Walter waren höchst interessiert an den Neuigkeiten, die darin standen. An diesem Abend kam Jem aufgeregt zu Walter gelaufen.

      „Hast du gehört, Deutschland hat Frankreich den Krieg erklärt! Das bedeutet, daß England wahrscheinlich beteiligt sein wird. Und wenn dem so ist, na, dann kommt der Pfeifer aus deinem alten Traum wohl doch noch zum Zuge.“

      „Das war kein Traum“, sagte Walter versonnen. „Das war eine Vorahnung, eine Vision. Jem, ich habe ihn damals wirklich einen Augenblick lang gesehen! Was ist, wenn England wirklich mitkämpft?“

      „Na, dann werden wir wohl helfen müssen!“ rief Jem erfreut. „Wir können doch nicht die ‚alte graue Mutter des Nordmeeres‘ im Stich lassen, oder? Aber du kannst sowieso nicht mitmachen. Der Typhus hat schon dafür gesorgt. Schade, oder?“

      Walter gab keine Antwort. Er blickte nachdenklich hinaus auf das glitzernde blaue Meer am Horizont.

      „Wir sind die Abkömmlinge. Wir müssen mit Händen und Füßen kämpfen, falls es zu einem Familienkrach kommt“, redete Jem munter weiter und fuhr sich mit seiner starken, feinnervigen Hand durchs Haar, die Hand des geborenen Chirurgen, wie sein Vater oft dachte. „Das wäre doch ein Abenteuer! Aber wahrscheinlich werden Grey oder ein paar andere von diesen alten, besonnenen Burschen kurz vor Toresschluß die Dinge schlichten. Aber es wäre schon eine Schande, wenn sie Frankreich im Stich ließen. Wenn nicht, dann kann es heiter werden. So, wir sollten uns langsam für die Leuchtturmparty fertigmachen.“

      Damit ging Jem fröhlich pfeifend hinaus, während Walter noch eine ganze Weile regungslos dastand. Er machte ein ernstes Gesicht. Das alles war über ihn hereingebrochen wie eine schwarze Gewitterwolke. Vor wenigen Tagen hatte noch kein Mensch an so etwas gedacht. Es war auch unsinnig, jetzt daran zu denken. Irgendeinen Ausweg würde man doch finden! Krieg – das war doch etwas ganz Entsetzliches. So etwas Entsetzliches konnte doch unmöglich im zwanzigsten Jahrhundert unter zivilisierten Völkern vorkommen! Der Gedanke allein war schon entsetzlich und machte Walter ganz unglücklich. Das Leben mit all seiner Schönheit stand auf dem Spiel. Er würde einfach nicht daran denken, den Gedanken aus seinem Gehirn ausschalten. Wie schön die reifen Getreidefelder von Glen aussahen, die laubenähnlichen alten Gehöfte, die Heu wiesen und stillen Gärten! Der Himmel sah im Westen aus wie eine große goldene Perle, und weit draußen senkte sich der Mondschein auf den Hafen herab. Die Luft war angefüllt mit den wohlklingendsten Tönen: dem Pfeifen der schläfrigen Rotkehlchen, dem traurigen, sanften Murmeln des Windes in den schattenhaften Bäumen, dem Rascheln der Zitterpappeln, die einander zuwisperten und ihre zierlichen, herzförmigen Blätter schüttelten, und dem fröhlichen Lachen aus den Fenstern, hinter denen sich die Mädchen auf die bevorstehende Tanzparty vorbereiteten. Die Welt war so voller unglaublich lieblicher Klänge und Farben! Nur daran wollte er denken und sich mit ganzem Herzen daran erfreuen. Von mir wird sowieso niemand erwarten, daß ich gehe, dachte er. Wie Jem schon sagte, der Typhus hat dafür gesorgt.

      Rilla lehnte sich aus ihrem Zimmerfenster, bereit zum Ausgehen. Ein gelbes Stiefmütterchen löste sich aus ihrem Haar und fiel wie ein goldener Stern über das Fensterbrett hinaus. Sie versuchte vergeblich, es noch zu erhaschen. Aber es waren noch genug andere übrig. Miss Oliver hatte ihrem kleinen Liebling einen Blumenkranz fürs Haar geflochten.

      „Ist es nicht herrlich ruhig und still? Es wird ein wunderbarer Abend werden. Hören Sie doch mal, Miss Oliver! Die alten Glocken im Regenbogental, ich höre sie ganz deutlich! Seit mehr als zehn Jahren hängen sie nun schon dort.“

      „Ihr Windspiel erinnert mich immer an die überirdische Musik, die Adam und Eva in Miltons Paradise lost hörten“, sagte Miss Oliver.

      „Wir hatten soviel Spaß im Regenbogental, als wir noch Kinder waren“, sagte Rilla verträumt.

      Jetzt spielte niemand mehr im Regenbogental: keine Meredith-Kinder mehr und keine Blythe-Kinder. Im Sommer war es abends ganz still dort. Walter ging gern dorthin, um zu lesen. Jem und Faith trafen sich oft dort, und Jerry und Nan führten im Regenbogental endlose Diskussionen über irgendwelche tiefgründigen Themen, was anscheinend ihre bevorzugte Art des Flirtens war. Auch Rilla hatte sich dort eine hübsche bewaldete Stelle ausgesucht, wo sie sich einfach gern alleine hinsetzte und träumte.

      „Bevor ich gehe, muß ich unbedingt noch schnell in die Küche und mich Susan zeigen. Sie würde mir das nie verzeihen, wenn ich es vergesse.“

      Damit wirbelte Rilla hinunter in die dämmerige Küche, wo Susan mit Strümpfestopfen beschäftigt war, und erhellte den Raum mit ihrer strahlenden Schönheit. Sie trug ihr grünes Kleid mit den kleinen rosaroten Gänseblümchengirlanden, ihre Seidenstrümpfe und ihre silbernen Stöckelschuhe. Im Haar und um den Hals trug sie goldene Stiefmütterchen. Sie sah so schön und jung aus, daß selbst Sophia Crawford nicht umhinkonnte, sie zu bewundern. Und Sophia Crawford bewunderte nur sehr wenige irdische und vergängliche Dinge. Cousine Sophia und Susan hatten mittlerweile ihren alten Streit beigelegt, das heißt, sie sprachen einfach nicht mehr darüber, seit Cousine Sophia nach Glen gezogen war. Cousine Sophia kam sogar häufig abends auf ein nachbarschaftliches Schwätzchen herüber. Susan war davon nicht immer begeistert, denn Cousine Sophia sorgte nicht eben für Erheiterung. „Es gibt kurzweilige und langweilige Besuche, liebe Frau Doktor“, sagte Susan einmal und legte damit die Vermutung nahe, daß letztere sich auf Cousine Sophia bezogen.

      Cousine Sophia hatte ein langes, blasses, faltiges Gesicht, eine lange, dünne Nase, einen langen, dünnen Mund und sehr lange, dünne, blasse Hände, die sie gottergeben auf ihrem schwarzgekleideten Schoß zu falten pflegte. Alles an ihr wirkte lang und dünn und blaß. Jetzt musterte sie Rilla mit trübsinnigem Blick und sagte düster: „Sind deine Haare alle echt?“

      „Was glaubst du denn!“ rief Rilla empört.

      „Oje!“ seufzte Cousine Sophia. „Es wäre besser für dich, wenn das nicht alles deine wären. So viele Haare zehren an der Kraft. Das deutet auf Schwindsucht hin, habe ich gehört, aber ich hoffe, daß das bei dir nicht stimmt. Ich nehme an, ihr geht heute abend alle tanzen, wahrscheinlich auch die Pfarrers jungen. Ich kann nur hoffen, daß die Pfarrerstöchter nicht so weit gehen. Oje, ich habe noch nie viel vom Tanzen gehalten. Ich kenne ein Mädchen, das ist tot umgefallen, während es tanzte. Wie jemand nach einer solchen Strafe Gottes noch tanzen gehen kann, ist mir schleierhaft.“

      „Ist sie denn wieder tanzen gegangen?“ fragte Rilla vorlaut.

      „Ich habe dir doch gesagt, daß sie tot umgefallen ist. Natürlich ist sie nie wieder tanzen gegangen, du Dummkopf. Sie war eine Circe und stammte aus Lowbridge. Du willst doch wohl nicht mit so nackigem Hals unter die Leute gehen, oder?“

      „Es ist heiß draußen!“ protestierte Rilla. „Aber auf dem Wasser werde ich mir einen Schal umlegen.“

      „Vor vierzig Jahren ist schon mal ein Boot voller junger Leute über den Hafen gesegelt, es war genauso ein Abend wie heute – ganz genauso ein Abend wie heute“, sagte Cousine Sophia mit kummervoller Stimme. „Und dann sind sie umgekippt und ertrunken, allesamt. Nun

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