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wirkten bezaubernd und herausfordernd. Kenneth dachte bei sich, daß Rilla Blythe auf dem besten Wege war, das schönste Mädchen von Ingleside zu werden. Wenn sie doch bloß aufsehen würde, damit er noch einmal diesen ernsten, fragenden Blick erhaschen könnte. Sie war wirklich die Hübscheste auf der ganzen Party, kein Zweifel.

      Was sagte er da? Rilla glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.

      „Willst du mit mir tanzen?“

      „Ja, will ich“, sagte Rilla. Dabei achtete sie mit solcher Entschlossenheit darauf, nur ja nicht zu lispeln, daß es fast wie ein Ausruf klang. Wieder surrte es in ihrem Kopf. Wie dreist das klang, wie fordernd, als ob sie sich ihm geradezu an den Hals werfen wollte! Was sollte er bloß von ihr denken? Warum mußten solche Mißgeschicke denn ausgerechnet immer dann passieren, wenn sie sich von ihrer schönsten Seite zeigen wollte?

      Kenneth zog sie mit sich auf die Tanzfläche.

      „Eine Runde Hüpfen wird mein angeknackster Knöchel wohl mitmachen“, sagte er.

      „Ja, wie geht es denn deinem Knöchel?“ fragte Rilla. Konnte ihr denn wirklich nichts Klügeres einfallen! Sie wußte doch genau, daß er es nicht mehr hören konnte, wenn jemand sich nach seinem Knöchel erkundigte. Als er in Ingleside war, hatte er das gesagt. Zu Di hatte er sogar gesagt, er werde sich ein Plakat vor die Brust hängen, auf dem alle lesen könnten, daß es seinem Knöchel besserging. Und jetzt mußte sie ihn schon wieder mit dieser abgedroschenen Frage nerven.

      Kenneth hatte es in der Tat satt, über seinen Knöchel zu reden. Allerdings hatte noch niemand mit einem so bezaubernden Mund und einem so verführerischen Grübchen in der Oberlippe danach gefragt. Vielleicht antwortete er deshalb so überaus geduldig, daß es seinem Knöchel besserginge und er kaum noch Schmerzen hätte, solange er nicht zu lange herumlief oder stand.

      „Der Knöchel wird bald wieder so kräftig sein wie früher, aber auf Fußball muß ich diesen Herbst wohl verzichten.“

      Sie tanzten zusammen, und Rilla spürte, wie die Mädchen in ihrer Nähe sie beneideten. Nach dem Tanz gingen sie hinab zu den Felsstufen, und Kenneth fand ein kleines Boot, mit dem sie im Mondschein zur Sandküste hinüberruderten. Dort spazierten sie am Meer entlang, bis Kenneths Knöchel nicht mehr mitmachte. Sie setzten sich zwischen die Dünen, und Kenneth sprach mit ihr wie sonst nur mit Nan und Di. Rilla, von plötzlicher Schüchternheit ergriffen, brachte kaum ein Wort hervor und dachte, er müsse sie wohl für schrecklich dumm halten. Trotzdem war alles so schön: die herrliche Mondnacht, das schimmernde Meer, die kleinen Wellen, die schäumend an Land spülten, der kühle, launenhafte Wind, der durch die Dünengräser summte, die süße Musik, die übers Wasser herüberdrang.

      „,Ein fröhliches Mondscheinlied für der Meerjungfrauen Fest‘“, zitierte Kenneth leise aus einem von Walters Gedichten.

      Und sie beide ganz allein inmitten dieser Herrlichkeit! Wenn bloß ihre Stöckelschuhe nicht so drücken würden! Und wenn sie doch bloß so klug reden könnte wie Miss Oliver. Ach was, wenn sie wenigstens so normal reden könnte wie sonst mit anderen Jungen! Aber es fiel ihr nichts ein, sie konnte nur zuhören und hier und da irgendwelche belanglosen Sachen dahermurmeln. Aber vielleicht waren ja ihre träumerischen Augen, ihr reizender Mund und ihr schlanker Hals ausdrucksvoll genug. Jedenfalls schien Kenneth es mit der Rückkehr nicht eilig zu haben, und als sie dann doch gingen, war das Abendessen schon in vollem Gange. Er entdeckte für sie einen Platz am Fenster der Leuchtturmküche und setzte sich neben sie aufs Fensterbrett, während sie Eiskrem und Kuchen verspeiste. Rilla schaute umher und dachte, wie schön doch ihre erste Party war! Nie würde sie diese Party vergessen! Das Lachen der Partygäste drang bis in die Küche. Blicke aus schönen Augen funkelten und leuchteten. Vom Pavillon draußen hörte man das fröhliche Lied der Geige und die rhythmischen Schritte der Tänzer.

      In einer Gruppe von Jungen, die an der Tür standen, wurde es plötzlich unruhig. Ein junger Mann drängte sich durch, blieb auf der Schwelle stehen und blickte mit ernstem Gesicht um sich. Es war Jack Elliott aus Overharbour, ein McGill-Medizinstudent, ein sehr ruhiger Mensch, der sich nicht viel aus geselligen Zusammenkünften machte. Er war zwar zu der Party eingeladen worden, aber keiner rechnete mit ihm, weil er bis spät abends in Charlottetown zu tun hatte. Doch da stand er jetzt, mit einem zusammengefalteten Stück Papier in der Hand.

      Gertrude Oliver erblickte ihn von ihrem Platz aus und fing wieder an zu zittern. Immerhin hatte auch sie die Party genießen können, nachdem sie jemanden aus Charlottetown kennengelernt hatte. Es war ein Fremder und viel älter als die meisten Gäste, weshalb er sich zunächst als Außenseiter fühlte und froh war, auf diese kluge junge Frau zu treffen, mit der man sich so angeregt über Dinge unterhalten konnte, die draußen in der Welt passierten. In seiner angenehmen Gesellschaft hatte sie ihre bösen Vorahnungen vergessen. Jetzt kamen sie plötzlich wieder. Was waren das für Nachrichten, die Jack Elliott da brachte? Die Zeilen aus einem alten Gedicht schossen ihr unwillkürlich durch den Kopf: „Tumult war plötzlich in der Nacht – still! Horch! Dunkel ertönt es wie Grabgeläut.“ Warum mußte sie ausgerechnet jetzt daran denken? Wieso sagte Jack Elliott nichts, er wollte doch etwas sagen?! Warum stand er einfach nur so da?

      „Frag ihn, frag du ihn“, sagte sie aufgeregt zu Allan Daly. Aber es war ihm schon jemand zuvorgekommen. Plötzlich wurde es ganz still im Raum. Im Pavillon hatte der Geiger einen Augenblick aufgehört zu spielen, und es wurde auch dort still. Weit draußen hörten sie das dunkle Murmeln des Meeres, die Vorzeichen eines Sturms, der schon den Atlantik heraufzog. Von den Felsen her ertönte das Lachen eines Mädchens, das in der plötzlichen Stille abrupt aufhörte.

      „England hat Deutschland heute den Krieg erklärt“, sagte Jack Elliott ganz langsam. „Die Nachricht wurde telegraphisch übermittelt, gerade, als ich die Stadt verließ.“

      „Gott steh uns bei!“ flüsterte Gertrude Oliver erschrocken. „Mein Traum – mein Traum! Die erste Welle ist herangekommen.“ Sie blickte Allan Daly an und versuchte zu lächeln.

      „Ist das der Berg Harmageddon?“ fragte sie.

      „Ich fürchte, ja“, sagte er ernst.

      Alle riefen durcheinander. Die meisten klangen allerdings nur überrascht oder etwas verwundert. Nur wenige erkannten die Tragweite dieser Botschaft, den meisten bedeutete sie nichts. Es dauerte nicht lange, da wurde weitergetanzt, und es ging wieder genauso fröhlich zu wie vorher. Gertrude und Allan Daly jedoch sprachen besorgt über die Neuigkeit. Walter Blythe war blaß geworden und ging hinaus. Draußen traf er auf Jem, der gerade die Felsenstufen heraufeilte.

      „Hast du gehört, Jem?“

      „Ja. Der Pfeifer ist gekommen. Hurra! Ich habe doch gewußt, daß England Frankreich nicht im Stich lassen würde. Ich wollte Captain Josiah bitten, die Flagge zu hissen, aber er sagt, das gehöre sich nicht vor Sonnenaufgang. Jack sagt, daß morgen die ersten Freiwilligen aufgerufen werden.“

      „Wie kann man wegen nichts so einen Aufstand machen“, sagte Mary Vance verächtlich, als Jem vorbeirannte. Sie saß mit Miller Douglas auf einer Hummerfalle, was eigentlich nicht nur ziemlich unromantisch, sondern auch sehr unbequem war. Doch Mary und Miller waren glücklich, da, wo sie saßen, und das war die Hauptsache. Miller Douglas war ein großer, stämmiger, ungehobelter Kerl, der Mary Vances Ausdrucksweise ungeheuer talentiert fand und eine Schwäche hatte für Mary Vances Augensterne. Und keiner von beiden hatte auch nur die geringste Ahnung, warum Jem Meredith die Leuchtturmfahne hissen wollte. „Was macht das schon, wenn es da drüben in Europa Krieg gibt? Uns betrifft das doch nicht.“

      Walter schaute sie an und hatte plötzlich wieder eine seiner merkwürdigen Visionen.

      „Bevor dieser Krieg zu Ende ist“, sagte er oder eine Stimme, die aus ihm sprach, „wird ganz Kanada – jeder Mann, jede Frau und jedes Kind – ihn zu spüren bekommen. Auch du, Mary, wirst ihn zu spüren bekommen, bis auf den Grund deines Herzens. Du wirst blutige Tränen weinen. Der Pfeifer ist gekommen. Und er wird spielen, bis seine schreckliche, unwiderstehliche Musik bis in die entlegensten Winkel der Erde gedrungen ist. Es wird Jahre dauern, bis der Totentanz zu Ende ist. Jahre, Mary! Und in diesen Jahren werden Millionen Herzen brechen.“

      „Was du nicht sagst!“ erwiderte Mary, wie immer, wenn ihr nichts Besseres

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