Скачать книгу

fünfzehn und ärgerte sich darüber, daß niemand sie für erwachsen halten wollte. Noch dazu war sie fast so groß wie Di und Nan. Und sie war beinah so hübsch, wie Susan es von ihr behauptete. Sie hatte große braune, verträumte Augen, einen zarten Teint mit lauter kleinen goldenen Sommersprossen und fein geformte Augenbrauen, die ihr einen ernsten, fragenden Ausdruck verliehen und die Leute aufmerksam machten, ganz besonders junge Männer in ihrem Alter. Ihr Haar war rötlichbraun, und sie hatte ein Grübchen in ihrer Oberlippe, als wenn eine gute Fee ihr dieses Grübchen bei der Taufe mit dem Finger eingedrückt hätte. Rillas beste Freundinnen, die wußten, daß sie ein wenig eitel war, fanden an ihrem Gesicht nichts auszusetzen. Nur ihre Figur gefiel ihnen nicht recht. Wenn man ihre Mutter doch bloß davon überzeugen könnte, daß ihr lange Kleider besser standen! So dick und rund sie als kleines Kind gewesen war, so unglaublich mager war Rilla jetzt. Sie bestand nur aus Armen und Beinen. Jem und Shirley quälten sie, weil sie sie „Spinne“ nannten. Dabei wirkte sie nicht etwa unbeholfen. Vielmehr hatten ihre Bewegungen den Anschein, als ob sie nicht ging, sondern tanzte. Rilla war immer ein kleiner Sonnenschein gewesen, man hatte sie sogar ein kleines bißchen verwöhnt, aber die meisten Leute fanden, daß sie ein süßes Mädchen war, auch wenn sie vielleicht nicht so klug war wie Nan und Di.

      Miss Oliver, die noch am Abend nach Lowbridge aufbrechen wollte, um dort die Ferien zu verbringen, wohnte seit einem Jahr in Ingleside. Die Blythes hatten sie Rilla zuliebe bei sich aufgenommen. Rilla liebte ihre Lehrerin heiß und innig, und da kein anderes Zimmer zur Verfügung stand, war sie sogar bereit gewesen war, ihr eigenes mit ihr zu teilen. Gertrude Oliver war achtundzwanzig Jahre alt, und sie hatte es schwer gehabt in ihrem bisherigen Leben. Sie fiel auf durch ihre traurigen, mandelförmigen braunen Augen, den hübschen, etwas spöttisch wirkenden Mund und die dichte schwarze Haarpracht. Sie war nicht hübsch, aber ihr Gesicht wirkte interessant und geheimnisvoll, und Rilla fand sie einfach faszinierend. Selbst wenn sie gelegentlich trübsinnig und zynisch war, hatte sie für Rilla immer noch etwas Bezauberndes. Solche Launen überkamen Miss Oliver jedoch nur, wenn sie müde war. Sonst war sie sehr umgänglich und steckte voller Ideen, und die fröhliche Schar von Ingleside vergaß dann ganz, daß sie doch um einiges älter war als sie selbst. Miss Oliver mochte Walter und Rilla besonders gern, und sie war die Vertraute ihrer geheimen Wünsche und Sehnsüchte. Sie wußte zum Beispiel, daß Rilla sich danach sehnte „auszugehen“: Parties zu besuchen, so wie Nan und Di, und elegante Abendkleider zu tragen und – warum sollte man um den heißen Brei herumreden – Verehrer zu haben! Im Plural, wohlgemerkt! Und was Walter betraf, so wußte Miss Oliver, daß er eine Reihe Gedichte „an Rosamunde“ (Faith Meredith) geschrieben hatte und daß er es sich zum Ziel gesetzt hatte, an irgendeiner großen Universität Professor für englische Literatur zu werden. Sie kannte seine leidenschaftliche Vorliebe für alles Schöne genauso wie seine tiefe Abneigung gegen alles Häßliche. Sie kannte seine Stärken und seine Schwächen.

      Walter war, wie eh und je, der hübscheste der Ingleside-Jungen. Miss Oliver schaute ihn deshalb gerne an. Er sah genauso aus, wie sie es sich für ihren eigenen Sohn gewünscht hätte: glänzendes schwarzes Haar, leuchtende dunkelgraue Augen und klare Gesichtszüge. Und die Fingerspitzen eines Dichters! Seine Gedichte waren wirklich bemerkenswert für einen jungen Mann von gerade zwanzig Jahren. Ohne für ihn Partei ergreifen zu wollen, wußte sie, daß Walter Blythe eine wunderbare Gabe besaß.

      Rilla liebte Walter von ganzem Herzen. Er neckte sie nie, so wie Jem und Shirley es gern taten. Er nannte sie nie „Spinne“. Sein Kosename für sie war „Rilla-meine-Rilla“, in Anlehnung an ihren richtigen Namen „Marilla“. Sie war nach Tante Marilla von Green Gables getauft worden, doch Tante Marilla war gestorben, bevor Rilla überhaupt Gelegenheit hatte, sie richtig kennenzulernen, und der Name als solcher war ihr verhaßt. Sie fand ihn schrecklich altmodisch und spröde. Wieso riefen sie sie nicht bei ihrem ersten Namen „Bertha“, der klang doch so schön und würdevoll! Statt dessen immer dieses blöde „Rilla“! Gegen Walters Version hatte sie jedoch nichts einzuwenden, aber außer ihm durfte niemand sie so nennen, höchstens Miss Oliver ab und zu. „Rilla-meine-Rilla“ mit Walters musikalischer Stimme klang einfach wunderschön. Wie das Plätschern und Sprudeln eines glitzernden Baches. Für Walter würde sie sogar sterben, wenn sie ihm damit etwas Gutes tun könnte, sagte sie im Vertrauen zu Miss Oliver. Rilla neigte, wie fast alle Mädchen im Alter von fünfzehn, leicht zu Übertreibungen. Doch am schlimmsten für sie war der Verdacht, daß Walter Di womöglich mehr von seinen Geheimnissen verriet als ihr.

      „Er denkt wohl, ich bin noch nicht erwachsen genug, um ihn zu verstehen“, beklagte sie sich einmal wütend bei Miss Oliver. „Aber ich bin erwachsen genug! Und ich würde niemals etwas weitersagen, noch nicht mal Ihnen, Miss Oliver. Ihnen verrate ich meine eigenen Geheimnisse – ich wäre todunglücklich, wenn ich vor Ihnen Geheimnisse hätte –, aber seine würde ich nie verraten. Ich erzähle ihm alles, sogar mein Tagebuch zeige ich ihm. Aber wenn er mir etwas verschweigt, dann leide ich furchtbar darunter. Er zeigt mir immerhin alle seine Gedichte. Die sind einfach wunderbar, Miss Oliver. Ach, was gäbe ich darum, eines Tages für Walter das zu sein, was Wordsworths Schwester Dorothy für ihn war. Dabei ist das, was Wordsworth geschrieben hat, überhaupt nicht vergleichbar mit Walters Gedichten. Von Tennyson ganz zu schweigen.“

      „Das würde ich nicht sagen. Beide haben eine ganze Menge Unsinn geschrieben“, sagte Miss Oliver trocken, fügte aber auf Rillas betroffenen Blick reumütig hinzu: „Aber ich glaube, daß Walter – irgendwann einmal – ein großer Dichter sein wird, vielleicht sogar der erste wirklich große Dichter, den Kanada je gesehen hat. Und wenn du älter wirst, wird er dir auch mehr anvertrauen.“

      „Als Walter letztes Jahr mit Typhus im Krankenhaus lag, bin ich fast verrückt geworden“, seufzte Rilla etwas pathetisch. „Niemand hat mir gesagt, wie krank er wirklich ist. Vater wollte das nicht. Ich habe es erst erfahren, als es vorbei war. Aber ich bin froh, daß ich es nicht gewußt habe, das hätte ich einfach nicht ertragen. Ich habe mich ohnehin jeden Abend in den Schlaf geweint. Aber manchmal“, sagte Rilla bekümmert – es gefiel ihr, hin und wieder Miss Olivers Ton nachzuahmen –, „manchmal denke ich, Walter kümmert sich mehr um Monday als um mich.“

      Monday war der Haushund von Ingleside. Er hieß so, weil er an einem Montag, als Walter gerade Robinson Crusoe las, in die Familie kam. Eigentlich gehörte er Jem, aber er hing genauso an Walter. Jetzt lag er gerade neben Walter, die Schnauze an seinen Arm gekuschelt, und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, wenn Walter ihn geistesabwesend tätschelte. Monday war weder ein Collie noch ein Setter, geschweige denn ein Jagdhund oder ein Neufundländer. Er war, wie Jem sagte, „ganz einfach ein Hund“. „Ein äußerst einfacher Hund“, wie unbarmherzige Leute zu bemerken pflegten. Gewiß, Monday sah nicht gerade überwältigend aus. Schwarze Flecken verteilten sich, wild verstreut, auf seinem gelben, mageren Fell. Einer davon saß direkt auf seinem Auge. Seine Ohren sahen aus wie ausgefranst. Ein Schmuckstück war er wirklich nicht. Aber er besaß eine gute Gabe. Er wußte, daß nicht alle Hunde hübsch oder ausdrucksvoll oder siegreich sein konnten, aber er wußte, daß alle Hunde lieben konnten. So reizlos sein Äußeres war, hatte er doch das gütigste, treueste und ehrlichste Herz, das je ein Hund besessen hat. Und er hatte die seelenvollsten Augen, die man sich denken kann. Jeder auf Ingleside mochte ihn, sogar Susan, auch wenn seine Vorliebe, sich ins Gästezimmer zu schleichen, um dort auf dem Bett sein Schläfchen zu halten, ihre Zuneigung empfindlich auf die Probe stellte.

      An diesem Nachmittag saß Rilla im Garten und brauchte sich um nichts zu sorgen.

      „War es nicht ein wunderschöner Juni?“ sagte sie und blickte verträumt in die Ferne, wo kleine silberne Wölkchen friedlich über dem Regenbogental hingen. „Wir haben soviel Spaß gehabt. Und so schönes Wetter. Es war einfach alles wunderschön.“

      „Irgendwie gefällt mir das nicht“, sagte Miss Oliver und seufzte. „Das kann nichts Gutes bedeuten. Wenn alles wunderschön ist, ist das ein Geschenk der Götter, eine Art Ausgleich für das, was hinterher kommt. Mir ist das schon so oft aufgefallen, daß ich nichts darum gebe, wenn jemand sagt, es sei alles wunderschön gewesen. Der Juni war ganz nett, ja, das stimmt.“

      „Ich gebe zu, es ist nichts besonders Aufregendes passiert“, sagte Rilla. „Das einzig Aufregende, was im ganzen letzten Jahr in Glen passiert ist, war, als die alte Miss Mead in der Kirche in Ohnmacht gefallen

Скачать книгу