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blieb zurück und zahlte die Droschke von seinem eigenen Silbergeld. Der von ihm bis ins kleinste ersonnene Plan wurde durchgeführt. Während Frau Verloc, mit ihrer Fahrkarte nach St. Malo in der Hand, den Wartesaal für Damen betrat, ging Genosse Ossipon in die Bar und stürzte innerhalb sieben Minuten drei Gläser Brandy mit Wasser hinunter.

      »Ich versuche eine Erkältung zu vertreiben«, erklärte er dem Fräulein an der Bar mit einem freundlichen Nicken und verzerrtem Lächeln. Dann kam er heraus und brachte von der kleinen Erlustigung das Gesicht eines Mannes mit, der an der Quelle aller Sorgen getrunken hat. Er hob den Blick zur Uhr. Es war Zeit. Er wartete. Pünktlich trat Frau Verloc heraus, den Schleier gesenkt und ganz schwarz – schwarz, wie man sich gemeinhin den Tod selbst denkt, ein paar billige, blasse Blumen als Krone. Sie ging nahe an einer kleinen Gruppe von Männern vorbei, die lachten, deren Gelächter aber durch ein einziges Wort leicht zu ersticken gewesen wäre. Ihr Gang war träge, doch ihr Rücken gerade, und Genosse Ossipon sah ihr entsetzt nach, bevor er sich selbst in Bewegung setzte.

      Der Zug fuhr ein, und es war kaum jemand vor der langen Reihe offener Türen zu sehen. Mit Rücksicht auf die Jahreszeit und das scheußliche Wetter gab es nur ein paar Fahrgäste. Frau Verloc schritt die Reihe leerer Abteile entlang, bis Ossipon von rückwärts ihren Ellenbogen berührte.

      »Hier hinein.«

      Sie stieg ein, und er blieb auf der Plattform und spähte herum. Sie beugte sich vor und flüsterte:

      »Was gibt’s, Tom? Ist Gefahr?«

      »Wart’ einen Augenblick. Da kommt der Schaffner.«

      Sie sah, wie er den Mann in Uniform ansprach. Sie redeten eine Weile. Sie hörte den Schaffner sagen: »Sehr wohl, Herr«, und dabei an die Mütze greifen. Dann kam Ossipon zurück mit den Worten: »Ich sagte ihm, daß er niemand in unser Abteil lassen sollte.«

      Sie lehnte sich auf ihrem Sitz vor: »Du denkst an alles … Du bringst mich durch, Tom?« fragte sie in jäher Angst und schlug hastig den Schleier hoch, um ihren Retter anzusehen.

      Sie hatte ein Gesicht entschleiert, hart wie Demant. Und aus diesem Gesicht blickten die Augen groß, trocken, erweitert, glanzlos, ausgebrannt, wie zwei schwarze Löcher in den weißen, strahlenden Augäpfeln.

      »Es ist keine Gefahr«, sagte er und sah sie mit einer hingerissenen Ernsthaftigkeit an, die Frau Verloc, auf ihrer Flucht vor dem Galgen, voll Kraft und Zärtlichkeit zu sein schien. Diese Ergebenheit rührte sie tief – und das demantne Gesicht verlor seine schreckhafte Starrheit. Genosse Ossipon sah sie an, wie nie ein Liebhaber seiner Liebsten Gesicht ansah. Alexander Ossipon, Anarchist, mit dem Spitznamen »der Doktor«, Verfasser einer medizinischen (und unsauberen) Schmähschrift, gewesener Wanderlehrer in Arbeitervereinen, über die Hygiene im Dienst des Sozialismus – Ossipon war frei von den Skrupeln der herkömmlichen Moral, doch unterwarf er sich den Regeln der Wissenschaft. Er war Wissenschaftler und beobachtete wissenschaftlich diese Frau, die Schwester eines Entarteten, selbst eine Entartete, mit Neigung zum Mord. Er beobachtete sie und rief Lombroso an, wie ein italienischer Bauer sich seinem Lieblingsheiligen empfiehlt. Er beobachtete wissenschaftlich. Er beobachtete ihre Wangen, ihre Nase, ihre Augen, ihre Ohren … Schlecht … Fatal! Als Frau Verlocs blasse Lippen unter seinem leidenschaftlichen Forscherblick ihre Strenge verloren und sich leicht öffneten, beobachtete er auch ihre Zähne … Kein Zweifel … Typus des Mörders … Wenn Genosse Ossipon seine verängstigte Seele nicht Lombroso empfahl, so unterließ er das nur deshalb, weil er aus wissenschaftlichen Gründen nicht glauben konnte, daß er irgendein Ding wie eine Seele mit sich trug. Doch war der wissenschaftliche Drang in ihm stark genug, um ihn auf der Plattform eines Bahnhofs zu einem Bekenntnis in gemacht lustigen Sätzen zu veranlassen.

      »Er war ein außergewöhnlicher Bursche, dein Bruder! Sehr interessantes Studienobjekt. Vollendeter Typ in seiner Art. Vollendet!«

      In seiner geheimen Angst sprach er wissenschaftlich. Als Frau Verloc diese Lobesworte über ihren geliebten Toten hörte, wiegte sie sich leise auf ihrem Sitz, und in ihre düsteren Augen kam ein Lichtschein, wie ein Sonnenstrahl, der über Wetterwolken huscht.

      »Das war er wirklich«, flüsterte sie sanft, mit bebenden Lippen. »Du hast dich immer sehr um ihn gekümmert. Ich habe dich geliebt dafür.«

      »Die Ähnlichkeit zwischen euch beiden war fast unglaublich«, fuhr Ossipon fort, gab damit seiner geheimen Angst Stimme und versuchte, die zitternde Unruhe zu verbergen, mit der er die Abfahrt erwartete. »Ja, er sah dir ähnlich.«

      Diese Worte waren nicht sonderlich gefühlvoll oder teilnehmend. Es wirkte aber schon stark auf ihr Gefühl, daß die Tatsache dieser Ähnlichkeit betont wurde. Mit einem kleinen, schwachen Schrei streckte Frau Verloc die Arme vor und brach endlich in Tränen aus.

      Ossipon stieg in den Wagen, schloß hastig die Türe und sah zum Fenster hinaus nach der Bahnhofsuhr. Noch acht Minuten. Während der ersten drei davon weinte Frau Verloc heftig und hilflos, ohne jede Unterbrechung. Dann sammelte sie sich ein wenig und schluchzte leise zwischen Tränenfluten. Sie versuchte zu ihrem Retter zu reden, zu dem Mann, der ihr wie der Bote des Lebens erschien.

      »O Tom, wie konnte ich den Tod fürchten, nachdem er so grausam von mir genommen war. Wie konnte ich das! Wie konnte ich so feige sein!«

      Sie wehklagte laut über ihre Liebe zum Leben, zu diesem Leben ohne Reiz und Anmut und fast ohne Anstand, nur ausgezeichnet durch ein ungewöhnliches Zielbewußtsein, das bis zum Mord gegangen war. Und wie es oft bei dem Jammer der Armen der Fall ist, die reich an Leiden sind, doch arm an Worten, brach die Wahrheit – der laute Schrei der Wahrheit – durch, in abgetragenem, künstlichem Gewände, das irgendwo unter falschen Gefühlsphrasen aufgelesen sein mochte.

      »Wie konnte ich den Tod so fürchten! Tom, ich habe es versucht. Aber ich fürchtete mich. Ich habe es versucht, mich aus der Welt zu schaffen. Aber ich konnte es nicht. Bin ich gottlos? Ich fürchte, der Leidenskelch war noch nicht voll genug für eine wie mich. Dann, als du kamst …«

      Nach einem kurzen Schweigen schluchzte sie in vertraulicher Dankbarkeit hervor: »Ich will nun alle meine Tage für dich leben, Tom!«

      »Geh hinüber in die andere Ecke des Wagens, vom Bahnsteig weg«, drängte Ossipon. Sie ließ sich von ihrem Retter bequem zurechtsetzen, und er sah zu, wie ein neuer Weinkrampf, heftiger noch als der erste, vorüberging. Er beobachtete die Anzeichen wie ein Arzt, als zählte er die Sekunden. Schließlich hörte er die Pfeife des Zugführers. Eine unwillkürliche Zusammenziehung seiner Oberlippe entblößte seine Zähne mit dem vollen Ausdruck wütender Entschlossenheit, als er fühlte, daß der Zug anfuhr. Frau Verloc hörte und fühlte nichts, und Ossipon, ihr Retter, stand still. Er fühlte, wie der Zug schneller rollte und gewichtig in das laute Schluchzen der Frau polterte; dann durchquerte er in zwei langen Schritten das Abteil, öffnete die Tür und sprang hinaus.

      Er war ganz am Ende des Bahnsteiges abgesprungen und sein Entschluß, den verzweifelten Plan durchzuführen, war so ingrimmig, daß er es wie durch ein Wunder noch in der Luft fertig brachte, die Wagentüre zuzuschlagen. Dann erst fand er sich wieder, während er wie ein geschossenes Kaninchen einen Purzelbaum schlug. Er war zerschlagen, durchgerüttelt, bleich wie der Tod und ohne Atem, als er wieder aufstand. Doch war er ruhig und durchaus imstande, dem aufgeregten Haufen von Eisenbahnern, der sich augenblicklich um ihn gesammelt hatte, die Stirn zu bieten. Er erklärte in freundlichen und überzeugenden Worten, daß seine Frau auf eine plötzliche Nachricht hin sofort in die Bretagne zu ihrer sterbenden Mutter gefahren sei; daß sie natürlich furchtbar aufgeregt und er wegen ihres Zustandes sehr besorgt gewesen sei; daß er versucht habe, sie aufzuheitern und dabei zunächst der Abfahrt gar nicht gewahr geworden sei. Dem allgemeinen Ausruf: »Warum sind Sie dann nicht nach Southampton mitgefahren, Herr?« begegnete er mit dem Hinweis auf die Unerfahrenheit einer jungen Schwägerin, die mit drei kleinen Kindern allein im Haus geblieben sei und sich über seine Abwesenheit aufgeregt hätte, da die Telegraphenämter ja geschlossen waren. Er habe ganz triebhaft gehandelt. »Ich glaube aber nicht, daß ich es nochmals versuchen werde«, schloß er, lächelte in die Runde, verteilte einiges Kleingeld und verließ dann, ohne zu hinken, den Bahnhof.

      Draußen wies Genosse Ossipon,

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