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      Er stürzte vor, preßte ihr die Hände auf den Mund, und der Schrei erstarb. Im Anprall aber hatte er sie niedergeworfen. Nun fühlte er, wie sie sich an seine Beine klammerte, und sein Entsetzen erreichte den Höhepunkt, wurde zu einer Art Betäubung, schuf Schreckensbilder, nahm die Formen des Säuferwahnsinns an. Nun sah er tatsächlich Schlangen. Er sah das Weib wie eine Schlange um seinen Leib gewickelt, nicht mehr abzuschütteln. Sie war nicht nur toddrohend. Sie war der Tod selbst – der Gefährte des Lebens.

      Frau Verloc schien durch den Ausbruch erlöst und war nun weit entfernt, sich laut zu benehmen. Sie gab sich jämmerlich.

      »Tom, du kannst mich jetzt nicht abschütteln,« murmelte sie vom Boden aus, »außer du willst mir mit der Ferse den Kopf zertreten. Ich will dich nicht verlassen.«

      »Steh auf«, sagte Ossipon.

      Sein Gesicht war so bleich, daß es aus der tiefen Dunkelheit des Ladens hervorleuchtete; während Frau Verloc unter ihrem Schleier kein Gesicht, kaum noch eine erkennbare Gestalt hatte. Das Zittern von irgend etwas Kleinem, Weißem, einer Blume an ihrem Hut, deutete ihren Standort, ihre Bewegungen an.

      Dieses Weiße erhob sich nun durch die Dunkelheit. Sie war vom Boden aufgestanden, und Ossipon bedauerte, nicht fort, in die Straße hinausgerannt zu sein. Doch er begriff ohne weiteres, daß ihm das nichts genützt hätte. Es konnte nichts nützen. Sie würde hinter ihm dreinrennen. Sie würde ihn kreischend verfolgen, bis sie jeden Schutzmann in Hörweite auf seine Fährte gesetzt hätte. Und dann wußte Gott allein, was sie über ihn aussagen würde. Er war so verstört, daß einen Augenblick lang der irre Gedanke ihm durch den Kopf ging, sie im Dunklen zu erwürgen. Und seine Angst wuchs! Sie hatte ihn! Er sah sich selbst in stetem Entsetzen in irgendeinem entlegenen Weiler in Spanien oder Italien leben; bis man auch ihn eines Morgens tot finden würde, mit einem Messer in der Brust – wie Herrn Verloc. Er seufzte tief. Er wagte sich nicht zu rühren. Und Frau Verloc wartete stumm ab, was ihrem Retter zu tun belieben würde; sie schöpfte Trost aus seinem nachdenklichen Schweigen.

      Plötzlich begann er in fast natürlichem Tone zu sprechen. Seine Überlegungen hatten zu einem Schlüsse geführt.

      »Komm, gehen wir, sonst versäumen wir den Zug.«

      »Wohin gehen wir, Tom?« fragte sie schüchtern. Frau Verloc war nicht länger mehr ein freies Weib.

      »Fahren wir zuerst nach Paris … Geh du voran und sieh, ob die Luft rein ist.«

      Sie gehorchte. Ihre Stimme klang gedämpft durch die vorsichtig geöffnete Türe:

      »Alles in Ordnung.«

      Ossipon trat hinaus. Trotz seiner Bemühungen, recht vorsichtig zu sein, schnatterte die heisere Glocke hinter der geschlossenen Tür in den Laden hinein, als versuchte sie vergeblich dem schlafenden Herrn Verloc den endgültigen Abschied seiner Gattin – und zugleich seines Freundes anzuzeigen.

      In der Droschke, die sie gleich bestiegen, begann sich der muskelstarke Anarchist zu erklären. Er war immer noch furchtbar bleich, und seine Augen schienen einen guten Zoll tief in sein fleischiges Gesicht versunken zu sein. Doch hatte er offenbar alles mit größter Schärfe überdacht.

      »Wenn wir ankommen,« setzte er sonderbar eintönig auseinander, »mußt du vor mir in den Bahnhof hinein gehen, als kennten wir einander nicht. Ich will die Karten nehmen und dir im Vorübergehen deine in die Hand stecken. Dann geh du in den Wartesaal erster Klasse für Damen und bleibe dort bis zehn Minuten vor Abfahrt. Dann kommst du heraus. Ich werde, draußen sein. Du steigst zuerst ein, als kenntest du mich nicht. Vielleicht nämlich sind Späheraugen da, die Bescheid wissen. Du alleine bist nur eine Frau, die mit dem Zuge abfährt. Ich bin bekannt. In meiner Begleitung könntest du leicht als Frau Verloc erkannt werden, die fliehen will. Verstehst du, Liebling?« fügte er mit einer Anstrengung hinzu.

      »Ja«, sagte Frau Verloc, die eng an ihn gelehnt in der Droschke saß, ganz starr aus Angst vor dem Galgen und dem Tod. »Ja, Tom«, und innerlich fügte sie den grausigen Kehrreim an: »Die Fallhöhe betrug vier Meter.«

      Ossipon hatte ein völlig neues Gesicht, wie beim Erwachen aus schwerer Krankheit. Er sagte, ohne sie anzusehen: »Nebenbei – ich müßte jetzt das Geld für die Fahrkarten haben.«

      Frau Verloc hakte ihr Leibchen auf und händigte ihm, den Blick unverändert starr geradeaus gerichtet, die neue schweinslederne Brieftasche aus. Er nahm sie ohne ein Wort entgegen und schien sie irgendwo zutiefst in der eigenen Brust zu verbergen. Dann schlug er den Rock darüber zu.

      All dies geschah, ohne daß ein einziger Blick gewechselt wurde; sie schienen zwei Leute, die nach dem Auftauchen eines ersehnten Ziels ausspähen. Erst als die Droschke um eine Ecke auf die Brücke fuhr, öffnete Ossipon wieder die Lippen.

      »Weißt du, wieviel Geld drin ist?« fragte er und schien sich dabei an irgendeinen Kobold zu wenden, der zwischen den Ohren des Pferdes saß.

      »Nein«, sagte Frau Verloc. »Er gab es mir. Ich habe es nicht gezählt. Ich hatte damals nicht die Gedanken dazu. Später …«

      Sie machte eine kleine Bewegung mit der rechten Hand. Diese kleine Bewegung der rechten Hand, die kaum eine Stunde zuvor den tödlichen Stoß in eines Mannes Herz geführt hatte, war so eindringlich, daß Ossipon ein Erschauern nicht unterdrücken konnte. Er übertrieb es sogleich mit Absicht und murmelte dazu:

      »Mir ist kalt. Ich bin ganz durchfroren.«

      Frau Verloc spähte starr geradeaus nach den Aussichten ihrer Rettung. Dann und wann tauchten, wie ein Lichtstreifen quer über die Straße, die Worte »Die Fallhöhe betrug vier Meter« im Sehwinkel ihres starren Blickes auf. Durch den schwarzen Schleier blitzte das Weiße in ihren Augen, unternehmend, wie bei einer maskierten Frau.

      Ossipons Unbeweglichkeit hatte irgend etwas geschäftliches, einen Beigeschmack merkwürdiger Amtlichkeit. Wieder hob er zu sprechen an, mit einer Plötzlichkeit, als hätte er dazu einen Halt fahren lassen.

      »Sieh einmal! Weißt du vielleicht, ob dein – ob er sein Bankkonto unter seinem eigenen oder einem fremden Namen führte?«

      Frau Verloc wandte ihm ihr zerwühltes Gesicht und den hellen Glanz ihrer Augen zu.

      »Fremder Name?« sagte sie nachdenklich.

      »Überlege dir, was du sagst«, belehrte sie Ossipon in der leise schaukelnden Droschke. »Das ist von großer Wichtigkeit. Ich will es dir erklären. Die Bank hat die Nummern dieser Noten. Wenn sie ihm unter seinem eigenen Namen ausgezahlt wurden, dann könnten sie, wenn sein – sein Tod bekannt wird, dazu dienen, uns aufzuspüren, da wir ja kein anderes Geld haben. Du hast kein anderes Geld bei dir?«

      Sie schüttelte verneinend den Kopf.

      »Gar keines?« beharrte er.

      »Ein paar Pfennige.«

      »Das wäre nämlich gefährlich. Das Geld müßte dann ganz eigens behandelt werden. Ganz eigens. Wir müßten vielleicht mehr als die Hälfte daran setzen, um diese Noten an einem sicheren Platz, den ich in Paris kenne, einzuwechseln. Andernfalls – ich meine, wenn er sein Konto unter fremdem Namen hatte und unter diesem auch ausbezahlt wurde – sagen wir Smith zum Beispiel – dann ist das Geld einwandfrei zu verwenden. Verstehst du? Die Bank hat keine Möglichkeit, festzustellen, daß Herr Verloc und, sagen wir, Smith eine und dieselbe Person sind. Siehst du nun, wie wichtig es ist, daß du dich bei der Antwort nicht irrst? Kannst du mir überhaupt antworten? Vielleicht nicht! Wie?«

      Sie sagte bedächtig:

      »Ich erinnere mich nun! Er legte nicht unter seinem eigenen Namen ein. Er sagte mir einmal, daß das Geld unter dem Namen Prozor hinterlegt sei.«

      »Bist du sicher?«

      »Ganz gewiß.«

      »Du glaubst doch nicht, daß die Bank seinen wirklichen Namen kannte? Oder irgend wer in der Bank, oder –«

      Sie zuckte die Schultern.

      »Wie sollte ich das wissen? Ist das wahrscheinlich, Tom?«

      »Nein,

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