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Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Год выпуска 0
isbn 9788027204113
Автор произведения Джозеф Конрад
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sie lehnte sich vor und sank an seine Brust. Er hieß sie willkommen. Sie hatte das ganze Geld. Ihr Hut war im Zustand merklicher Erregung; ihr Schleier ebenso. Ossipon war in seinen Gefühlsbezeugungen angemessen, aber nichts weiter. Sie nahm sie ohne Widerstreben und ohne Hingabe entgegen, gleichmütig, als wäre sie nur halb bei Besinnung. Sie machte sich aus seiner kühlen Umarmung ohne Anstrengung los.
»Du wirst mich retten, Tom«, rief sie zurückweichend, hielt ihn aber noch an den Aufschlägen seines feuchten Überrocks fest. »Mich retten! Mich verbergen! Laß sie mich nicht kriegen! Du mußt mich erst töten. Ich könnte es nicht selbst tun – ich könnte es nicht, könnte es nicht, auch nicht wegen des einen, das ich so fürchte.«
Sie war verwünscht rätselhaft, dachte er, sie begann endlose Befürchtungen in ihm zu erwecken. Er sagte verdrießlich, denn er war mit wichtigen Gedanken beschäftigt:
»Wovor zum Teufel fürchtest du dich denn?«
»Hast du denn nicht erraten, was ich tun mußte?« schrie die Frau. Abgelenkt durch die Körperlichkeit ihrer schreckhaften Gesichte, den Kopf erfüllt von peinigenden Worten, die ihr das Grauen ihrer Lage wachhielten, hatte sie ihr unzusammenhängendes Gestammel für letzte Klarheit gehalten. Ihr fehlte das Bewußtsein dafür, wie wenig sie hörbar in den abgerissenen Sätzen ausgesprochen hatte, deren Ergänzung immer nur in Gedanken erfolgt war. Sie hatte alle Erlösung einer vollen Beichte empfunden und jedem Satz des Genossen Ossipon, dessen Wissen doch nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem eigenen hatte, eine besondere Meinung untergeschoben. »Hast du nicht erraten, was ich tun mußte?« Ihre Stimme sank. »Dann brauchtest du nicht länger zu raten, wovor ich mich fürchte«, fuhr sie in bitterem Schmerz fort. »Ich will es nicht. Ich will nicht. Ich will nicht. Ich will nicht. Du mußt versprechen, mich vorher zu töten!« Sie schüttelte die Aufschläge seines Rocks. »Es darf nicht sein!«
Er versicherte ihr kurz, daß von seiner Seite keine Zusage nötig sei, nahm sich aber wohl in acht, ihr ausdrücklich zu widersprechen, denn er hatte viel mit aufgeregten Frauen zu tun gehabt und liebte es, seine Haltung von seiner Erfahrung bestimmen zu lassen, anstatt seinen Witz immer von neuem an jeden Fall zu wenden. In diesem Fall war sein Witz in anderer Richtung tätig. Die Worte einer Frau fielen ins Wasser, die Mängel eines Fahrplans aber blieben. Es kam ihm gehässig zum Bewußtsein, daß England eine Insel ist. »Man könnte ebensogut jede Nacht hinter Schloß und Riegel gesetzt werden«, dachte er böse und war so außer sich, als sollte er mit der Frau auf seinem Rücken über eine Mauer klettern. Plötzlich schlug er sich vor die Stirn. Nach langem Grübeln war ihm endlich der Southampton-St. Malo-Dienst eingefallen. Das Schiff ging um Mitternacht. Es gab einen Zug um zehn Uhr dreißig. Er wurde heiter und tatenfroh.
»Von Waterloo. Zeit genug. So haben wir doch noch etwas gefunden … Was jetzt? Das ist nicht der Weg«, wehrte er.
Frau Verloc hatte ihren Arm unter den seinen geschoben und versuchte, ihn wieder in die Brett Street hineinzuziehen.
»Ich habe vergessen, die Ladentür zuzumachen, als ich hinausging«, flüsterte sie in furchtbarer Aufregung.
Der Laden und alles, was darin war, hatte aufgehört, den Genossen Ossipon zu beschäftigen. Er wußte seine Wünsche zu zügeln. Ihm lagen die Worte auf der Zunge: »Was weiter? Laß es gehen«, doch er beherrschte sich. Er haßte Auseinandersetzungen über Kleinigkeiten. Er beschleunigte sogar erheblich den Schritt bei dem Gedanken, daß sie das Geld in der Schublade gelassen haben konnte. Seine Bereitwilligkeit aber reichte bei weitem nicht an ihre fieberische Ungeduld hin.
Der Laden schien zunächst ganz dunkel. Die Türe stand halb offen. Frau Verloc lehnte sich mit der Stirn dagegen und keuchte: »Niemand war hier. Sieh! Das Licht – das Licht im Wohnzimmer.«
Ossipon streckte den Kopf vor und sah einen schwachen Lichtschimmer ganz hinten im Laden.
»Dort ist Licht«, sagte er.
»Ich habe es vergessen«, Frau Verlocs Stimme klang schwach hinter ihrem Schleier vor. Und als er abwartend stehenblieb, um sie vorzulassen, sagte sie lauter: »Geh hinein und lösch es aus, oder ich werde verrückt.«
Er hatte keine Entgegnung auf diesen so merkwürdig begründeten Vorschlag. »Wo ist das ganze Geld?« fragte er.
»Bei mir. Geh, Tom. Schnell! Lösch es aus … Geh hinein«, schrie sie auf und faßte ihn von rückwärts an beiden Schultern.
Genosse Ossipon, nicht gefaßt auf eine körperliche Kraftentfaltung, flog unter ihrem Stoß weit in den Laden hinein. Er war überrascht von der Stärke der Frau, und empört über ihr Benehmen. Doch ging er nicht zurück, um ihr auf offener Straße ernste Vorwürfe zu machen. Er begann über ihr phantastisches Gehaben bestürzt zu werden. Überdies war jetzt oder nie der Zeitpunkt gekommen, der Frau gefällig zu sein. Genosse Ossipon vermied geschickt die Ecke des Ladentisches und näherte sich ruhig der verglasten Wohnzimmertüre. Da der Vorhang vor den Scheiben ein wenig zurückgezogen war, so warf er ganz natürlich einen Blick hinein, während er gerade die Türklinke niederdrückte. Er sah ganz gedankenlos hinein, ohne Absicht und ohne alle Neugier. Er sah hinein, weil es ihn gerade so ankam. Er sah hinein und entdeckte Herrn Verloc, der ruhig auf dem Sofa lag.
Ein Schrei, der aus den tiefsten Tiefen seiner Brust kam, verhallte ungehört auf dem langen Weg und wurde zu einem schlechten, krankhaften Geschmack in seinem Munde. Zu gleicher Zeit machte Genosse Ossipon innerlich einen wilden Sprung nach rückwärts. Sein Leib aber, derart ohne verstandesmäßige Führung gelassen, klammerte sich krampfhaft und gedankenlos an dem Türgriff fest. Der muskelstarke Anarchist schlotterte nicht einmal. Er starrte nur, das Gesicht dicht an die Scheibe gepreßt, mit Augen, die aus dem Kopf hervortraten. Er hätte alles darum gegeben, wegzukommen. Seine wiederkehrende Besinnung aber machte ihm klar, daß es nicht genügen würde, den Türgriff loszulassen. Was war das – Irrsinn, ein Traum oder eine Falle, in die er mit teuflischer Kunst gelockt worden war? Warum – wozu? Er wußte es nicht. Erfühlte sich frei von aller Schuld, hatte ein völlig unbeschwertes Gewissen, soweit diese Leute in Betracht kamen, und der Gedanke, daß er aus geheimnisvollen Gründen von dem Ehepaar Verloc ermordet werden sollte, fuhr ihm nicht so sehr durch den Kopf, als vielmehr durch den Magen und wieder hinaus, und hinterließ einen Anfall peinlicher Schwäche – – Übelkeit. Genosse Ossipon fühlte sich einen Augenblick lang – einen recht langen Augenblick lang – nicht sonderlich wohl. Und er starrte. Herr Verloc lag unterdessen ganz still und heuchelte aus unerfindlichen Gründen Schlaf, während sein wildes Weib die Tür bewachte – unsichtbar und lautlos in der dunklen, einsamen Gasse. War dies alles von der Polizei zurechtgemacht, um ihn, gerade ihn, zu erschrecken? Seine Bescheidenheit wies diese Erklärung zurück.
Der wahre Sinn des Bildes vor ihm ging Ossipon aber erst beim Anblick des Huts auf. Der schien ein ganz ungewöhnliches Ding, verhängnisvoll, ein Vorzeichen. Schwarz, mit der Krempe nach oben, lag er auf dem Boden vor dem Sofa, als wäre er dazu bestimmt, die Eintrittspfennige der Leute aufzunehmen, die kommen wollten, um Herrn Verloc in voller Ruhe sein häusliches Schläfchen machen zu sehen. Von dem Hut weg wanderten die Augen des muskelstarken Anarchisten zu dem verschobenen Tisch, ruhten eine Weile auf der zerbrochenen Schüssel, bekamen einen optischen Stoß, sozusagen, beim Anblick eines weißen Schimmers unter den halb geschlossenen Augenlidern des ruhenden Mannes hervor. Nun schien Herr Verloc nicht eigentlich zu schlafen, sondern nur mit gebeugtem Kopf dazuliegen und beharrlich auf seine linke Brust zu sehen. Und als Genosse Ossipon den Messergriff erblickt hatte, da wandte er sich von der Glastür ab und erbrach sich heftig.
Der Krach der Ladentür versetzte ihn in panischen Schrecken. Dieses Haus mit seinem stillen Inwohner konnte immer noch zur Falle werden – zu einer furchtbaren Falle. Genosse Ossipon hatte keinen klaren Begriff mehr davon, was mit ihm geschah. Er fuhr herum, rannte sich dabei die Kante des Ladentisches gegen die Hüfte, taumelte mit einem Schmerzensschrei und fühlte beim Klang der Ladenglocke, wie ihm die Arme unwiderstehlich an den Leib gepreßt wurden, während die kalten Lippen einer Frau hart an seinem Ohr die Worte formten:
»Schutzmann! Er hat mich gesehen.«
Er gab den Widerstand auf. Sie ließ ihn nicht frei. Ihre Hand hatte sich mit einem Gewirr von Fingern in seinen fleischigen Rücken verkrallt.