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letzten Jahre noch reicher an schmerzlichen Enttäuschungen. Er hatte einst gehofft, in der gesamten Christenheit oder mindestens in seiner deutschen Nation das kirchliche Leben zu verjüngen. Nun mußte es ihm genügen, daß nach und nach in den größeren weltlichen Fürstentümern Deutschlands kleine evangelische Landeskirchen entstanden; und wer in der Geschichte nur die Erscheinungen des Tages obenhin betrachtet, mag es leicht eine glückliche Fügung nennen, daß der durch übermenschliche Arbeit früh Gealterte aus diesem Leben hinweggerufen wurde, unmittelbar bevor die deutschen Protestanten im Schmalkaldischen Kriege durch Hader und planlose Schwäche den Waffen der Fremdherrschaft schimpflich erlagen. Ja während sonst das Bild der geschiedenen Helden sich im Gedächtnis der Völker zu verklären pflegt, erschien Luther den Nachlebenden kleiner, als er gewesen. In jenen müden Jahrzehnten der politischen Tatenscheu und des theologischen Gezänks, welche den lichten Tagen der deutschen Reformation folgten, formte sich ein kleines Geschlecht die Gestalt des Reformators nach seinem eigenen Bilde, als wäre er auch nur ein bibelfester Prediger und ehrsamer Hausvater gewesen, als hätte er wirklich nur eine Sonderkirche, die sich nach dem Namen eines sündhaften Menschen nannte, stiften wollen. Erst die historische Wissenschaft unseres Jahrhunderts hat sich wieder das Herz gefaßt, den ganzen Luther zu verstehen, den zentralen Menschen, in dessen Seele fast alle die neuen Gedanken eines reichen Jahrhunderts mächtig widertönten; sie steht ihm fern genug, um auch die mittelbaren Folgen seines zerstörenden und aufbauenden Wirkens zu würdigen, um alle die Keime einer neuen Kultur, die er ahnungslos, nach der Weise des Genius, in den deutschen Boden senkte, wahrzunehmen und dankbar zu erkennen, wie treu er sein Wort erfüllt hat: „Für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen”. —

      Im deutschen Gemüte lag von jeher dicht neben der hellen Weltlust ein beschaulicher Ernst, der die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge schmerzlich empfand, neben der wagenden Tapferkeit eine tiefe Sehnsucht nach Erlösung von dem Fluche der Sünde. Die Germanen allein unter allen Völkern Westeuropas haben schon in den Tagen ihres Heidentums etwas geahnt von dem dereinstigen Untergange dieses frevelnden Geschlechts, von einer neuen Welt der Reinheit und der Klarheit, die da kommen solle. In einem solchen Volke mußte die frohe Botschaft aus Jerusalem bereite Herzen finden, und wie andächtig, wie innig die Deutschen den neuen Glauben aufnahmen, das erzählen die Wunderbauten unserer alten Dome. Gleichwohl hatte die christliche Lehre, als sie bei uns eindrang, bereits in Rom eine Gestalt angenommen, welche dem deutschen Volke niemals ganz vertraut werden konnte. Diesseits und Jenseits, alle Zeiten und alle Völker erschienen eingeschlossen in der einen großen Gemeinschaft der Heiligen, welche die streitende Kirche hienieden mit der leidenden Kirche der armen Seelen im Fegefeuer und der triumphierenden Kirche der Seligen droben im Himmel verband. Aus dem Gnadenschatze der guten Werke der Heiligen spendete die Kirche ihren Gläubigen die Vergebung der Sünden durch den Mund eines herrschenden Priesterstandes, der durch die geistige Zeugung der Weihe befähigt war, Brot und Wein in den Leib und das Blut des Erlösers zu verwandeln. Außer ihr war kein Heil; von der Wiege bis zur Bahre, von der Taufe bis zur letzten Ölung umfing und heiligte sie das Leben jedes Christen. Es war ein wunderbarer großer Gedankenbau; lange Jahrhunderte hindurch hatten die Weisheit und die Andacht so vieler heiliger Männer und eine seltene Kunst der Menschenbeherrschung daran gebaut; festgefügt stand Stein auf Stein, die unerbittliche Folgerichtigkeit dieser Lehre ließ dem Christen nur die Wahl zwischen der Unterwerfung und der Ketzerei. Doch die scharfe Logik der Romanen hat dem deutschen Geiste niemals ganz genügt; nicht so von außen her, nicht allein durch die Gnadenmittel der Kirche und durch vorgeschriebene gute Werke konnte das rege Gewissen unseres Volkes seinen Frieden finden. Schon im vierzehnten Jahrhundert erdröhnte das deutsche Land von den Kyrieleis-Rufen der Geißler, und immer lauter, immer verzweifelter, fast so herzzerreißend wie in den Anfängen der christlichen Geschichte, erklang seitdem der Aufschrei der sündigen Kreatur nach Versöhnung mit ihrem Schöpfer.

      Zugleich ward auch der kampfmutige Weltsinn der Deutschen an den Lehren der alten Kirche irr. So viele Kränze des Ruhmes, so viele edle Freuden bot diese schöne Erde dem tatkräftigen Manne; und das alles sollte nichts gelten neben der höheren Heiligkeit der begebenen Menschen, der Priester und der Mönche, die auf alles verzichteten, was Menschen menschlich aneinander bindet, die mit dem holden Glück auch die heiligen Pflichten des ehelichen Lebens verschmähten! Kummervoll sann der größte Dichter unseres Mittelalters, Walther von der Vogelweide, diesem dunklen Rätsel nach und klagte:

      Ach leider kann es nimmer sein,

       Daß Gottes Gnade kehre

       Mit Reichtum und mit Ehre

       Je wieder in dasselbe Herz.

      Und dieser Priesterstand, der sich so unnahbar hoch über die gehorchende Gemeinde erhob, der alle weltliche Arbeit so tief verachtete, war selber längst einer schamlosen Weltlust verfallen, die ihn den Weltlichen als ein Heuchlergezücht erscheinen ließ. Er besaß das reichste Drittel Deutschlands, gab auf den Reichstagen durch seine Überzahl den Ausschlag, und seine politische Macht ward von den Deutschen als Fremdherrschaft empfunden; denn in der Kirche regierte der Papst mit seinen italienischen Prälaten, und alle die Fülle von Geist, Witz und Bildung, die sich in dem Lügenstübchen des Vatikans gesellig zusammenfand, alle die Meisterwerke des Meißels und des Pinsels, die in der Sonne päpstlicher Gnade reiften, konnten unser Volk doch nicht darüber trösten, daß die Herrscherin der Christenheit die ruchloseste Stadt der Erde war. Vergeblich hatten die Deutschen, allen anderen Nationen voran, auf den Konzilien des fünfzehnten Jahrhunderts die Schäden der Kirche zu bessern versucht. Als Luther auftrat, war die Nation in unheimlicher Gärung, von widersprechenden Gefühlen stürmisch bewegt: hier die Gewissensangst der Frommen, die über ihre Sünden und guten Werke peinlich Buch führten und mit heiligem Schauer die volkstümlichen Bilder des Totentanzes betrachteten; dort der kecke Übermut eines sinnenkräftigen, lebenslustigen Geschlechts, das der derben Schwänke nicht satt ward und sich dreist spottend an dem Zerrbild der verkehrten Welt erfreute; dazu allen Deutschen gemein der Haß gegen das welsche Wesen.

      Die Tat der Befreiung ging aus den Kämpfen des ehrlichen deutschen Gewissens hervor; aus seiner Demut schöpfte Luther die Kraft der höchsten Verwegenheit. Getrieben von einer leidenschaftlichen Angst um seine und seiner Brüder Seligkeit hatte er einst Vater und Mutter verlassen und in seiner Klosterzelle durch alle Qualen mönchischer Buße den Himmel stürmen wollen, doch immer wieder klang es in seiner Seele: „O meine Sünde, Sünde, Sünde!” — bis dann endlich das Wort des Apostels von der Rechtfertigung durch den Glauben zündend in sein Herz schlug. Und nun kam sie über ihn, die Wandelung des inneren Menschen, die μετάνοια des Paulus; in demütiger Erkenntnis der Unzulänglichkeit alles menschlichen Verdienstes ergab er sich gläubig der Gnade des lebendigen Gottes und er wagte, dieses seines Glaubens zu leben. Der ganze Gegensatz romanischer und germanischer Empfindung tritt uns vor die Augen, wenn wir diese Seelenkämpfe Luthers vergleichen mit den inneren Anfechtungen, welche späterhin der Rittersmann der wiederhergestellten alten Kirche, Ignatius von Loyola, zu überwinden hatte. Der Spanier entledigt sich seiner Pein durch den Entschluß, diese Wunden seiner Seele nie mehr zu berühren; der Deutsche beruhigt sich erst, sobald sein Gemüt überzeugt ist und alle Zweifel vor der Gewißheit einer innerlich erlebten Wahrheit schwinden.

      Ohne jede Ahnung von der unermeßlichen Wirkung seiner Tat beginnt er nun den Kampf gegen den häßlichsten Mißbrauch der verweltlichten Kirche, und dann führt ihn Gott weiter wie einen Gaul, dem die Augen geblendet sind. Aus jenem entscheidenden Gedanken ergibt sich ihm die Erkenntnis, daß Gott keinen erzwungenen Dienst will und über die Gewissen niemand richten kann denn Gott allein. Kaum drei Jahre nach dem Beginne des Ablaßstreites sagt er sich schon los von der gebundenen Sittlichkeit des Mittelalters durch jenen mächtigen Hymnus der evangelischen Freiheit, das Buch von der Freiheit des Christenmenschen: der Christ ist niemand untertan in seinem Glauben und eben darum jedermanns Knecht, dem geringsten seiner Brüder zum Dienst der Liebe verpflichtet; gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann, sondern ein guter Mann machet gute Werke. Eine zugleich freiere und strengere Auffassung des sittlichen Lebens, die wieder anknüpft an die Kämpfe Jesu wider die starre Gesetzlichkeit der Pharisäer und den Schwerpunkt der sittlichen Welt im Gewissen des Menschen findet. An diese Erkenntnis wieder schließt sich die Forderung des Priestertums der Laien und der Gedanke der freien Gemeindekirche, die sich bescheidet, die äußeren Formen der Kirchengemeinschaft wie alles Menschliche in den Fluß der Zeiten

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