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zehn Minuten wohl zehnmal vergegenwärtigt hatte, sah er an der Biegung der Straße, wo Rosine verschwunden war, zwei Mädchengestalten erscheinen.

      Ungeachtet der Dämmerung erkannte er Rosine. Die Andere war nicht zu erkennen, sie war in einen Mantel gehüllt.

      Er war so befangen und aufgeregt, daß er nicht die Kraft hatte, den beiden Mädchen entgegen zu gehen; er erwartete sie.

      »Nun, was habe ich Ihnen gesagt, Herr Baron?« rief, ihm Rosine zu.

      »Was hast Du ihm denn gesagt?« fragte die junge Dame im Mantel.

      Michel seufzte; an dem festen, entschiedenen Tone der Stimme erkannte er Bertha.

      Ich habe ihm gesagt, erwiderte Rosine, »daß es mir bei Ihnen nicht so gehen würde, wie im Schlosse La Logerie – daß man mir die Thür nicht weisen würde.«

      »Aber,« sagte Michel, »Du hast vielleicht dem Fräulein von Souday nicht gesagt, was für eine Krankheit dein Vater hat.«

      »Nach den Symptomen,« antwortete Bertha, »scheint es ein Nervenfieber zu seyn; deshalb ist keine Minute zu verlieren. Die Krankheit erheischt schnelle Hilfe. Kommen Sie mit uns, Herr Baron?«

      »Aber, mein Fräulein,« entgegnete Michel, »das Nervenfieber ist ansteckend —«

      »Einige behaupten es und Andere leugnen es,« sagte Bertha gleichgültig.

      »Aber das Nervenfieber ist tödtlich —«

      »Ja, in vielen Fällen; aber man hat doch auch manche Beispiele von Genesung.«

      Der junge Baron zog Bertha an sich.

      »Sie wollen sich einer solchen Gefahr aussetzen?« fragte er.

      »Allerdings.«

      »Für einen Unbekannten – einen Fremden —«

      »Wer für uns ein Fremder ist,« erwiderte Bertha sehr sanft, »ist für andere Menschen ein Vater, ein Bruder, ein Gatte. In dieser Welt ist kein Mensch dem andern fremd. Und steht der Kranke Ihnen nicht näher, als andere Seinesgleichen?«

      »Er ist der Ehemann meiner Amme, —« sagte Michel verlegen.

      »Sehen Sie wohl!« erwiderte Bertha.

      »Ich erbat mich, mit Rosine in’s Schloß zu gehen; ich würde ihr Geld zu den Curkosten gegeben haben —«

      »Und Du hast deine Zuflucht lieber zu uns genommen?« sagte Bertha, »das ist schön von Dir, Rosine.«

      Der junge Baron war ganz beschämt. Er hatte viel von der christlichen Barmherzigkeit gehört, aber nie gesehen, und nun erschien sie ihm auf einmal in der Gestalt Bertha’s.

      Er folgte den beiden Mädchen in tiefem Nachdenken.

      »Wenn Sie mit uns kommen,« Herr Baron, sagte: Bertha, »so haben Sie die Güte dieses Arzneikästchen zu – tragen.«

      »Der Herr Baron wird nicht mit uns kommen,« meinte Rosine, »er weiß, wie sehr seine Frau Mutter die bösartigen Fieber fürchtet.«

      »Du irrst Dich, Rosine,« sagte Michel, »ich gehe mit.«

      Er nahm dem Fräulein von Souday das Kästchen ab.

      Eine Stunde nachher kamen alle Drei zu der von Rosinens Vater bewohnten Hütte.

      XI.

      Der Eilbote

      Die Hütte stand nicht im Dorfe, sondern etwa einen Büchsenschuß außerhalb desselben vor einem kleinen Gehölz, mit welchem sie durch eine Hinterthür in Verbindung stand.

      Rosinens Vater war ein Chouan von altem Schrot und Korn; er hatte, kaum dem Knabenalter entwachsen, den ersten Krieg in der Vendée unter Charette, la Rochejacquelein und anderen Führern mitgemacht.

      Später hatte er sich verheirathet; ein Sohn war ihm gestorben; Rosine war sein einziges Kind.

      Bei jedem der beiden Kinder hatte seine Frau, der unter den armen Bäuerinnen herrschenden Sitte gemäß, einen Säugling genommen.

      Der erste war der letzte Sprößling einer adeligen Familie von Maine, Namens Henri de Bonneville. Er wird in dieser Geschichte bald erscheinen.

      Der zweite war Michel de La Logerie, eine der Hauptpersonen unserer Erzählung.

      Henri de Bonneville war zwei Jahre älter als Michel. Die beiden Kinder hatten vor dieser Thür, deren Schwelle Michel jetzt mit Rosine und Bertha überschreiten sollte, oft mit einander gespielt. Später hatten sie sich in Paris gesprochen. Die Baronin de La Logerie hatte diese Freundschaft sehr begünstigt, denn die Familie Bonneville war sehr angesehen und reich.

      Die beiden Knaben hatten einigen Wohlstand ins Haus gebracht; aber der Bauer in der Vendée hält seinen Wohlstand immer geheim. So machte es auch Tinguy; er stellte sich auf Kosten seines eigenen Lebens arm, und wie krank er auch war, so würde er sich doch wohl gehütet haben, einen Arzt, dessen Besuch ihm drei Francs gekostet hätte, von Palluau kommen zu lassen.

      Ueberdies glauben die Bauern, zumal die Vendéer weder an Aerzte noch an Arzneien. So hatte sich denn Rosine an die Baronin de La Logerie, und nachdem sie von dieser abgewiesen worden, an die Fräulein von Souday gewandt.

      Als die drei jungen Leute eintraten, richtete sich der Kranke mit Mühe auf, aber er sank sogleich ächzend auf sein Lager zurück. Ein vor dem Bett brennendes Licht warf einen matten Schimmer auf den etwa vierzigjährigen Mann, bei welchem alle Anzeichen eines heftigen Fiebers sichtbar waren.

      Er war leichenblaß, das Auge war matt und glanzlos, und von Zeit zu Zeit wurde er heftig geschüttelt, als ob er mit einer galvanischen Batterie in Berührung gekommen wäre.

      Der junge Baron schauderte bei diesem Anblicke; er fand die Furcht seiner Mutter vor Ansteckung ganz erklärlich, denn es schien ihm, als ob der Krankheitsstoff in sichtbaren Atomen um das Lager schwebte.

      Er dachte an Kampher, an Chlor, an Räuberessig, kurz an alle Vorbeugungsmittel, welche den Kranken von dem Gesunden trennen können, und da er weder Essig noch Kampher oder Chlor hatte, so blieb er wenigstens an der Thür, um sich mit der äußern Luft in Verbindung zu setzen.

      Bertha dachte an keine Vorsichtsmaßregeln; sie trat an das Bett und faßte die heiße Hand des Kranken.

      Michel wollte auf sie zueilen, um sie zurückzuhalten, er that den Mund auf, um sie zu warnen, aber er blieb regungslos, sprachlos vor Bewunderung und Schrecken.

      Bertha befragte den Kranken. Tags zuvor war er beim Aufstehen so matt gewesen, daß er sich nicht auf den Füßen zu halten vermochte. Aber statt sich wieder ins Bett zu legen und einen Arzt kommen zu lassen, hatte sich Tinguy angekleidet, einen Krug Cider aus dem Keller geholt und ein Stück Brot abgeschnitten: er glaubte, sich stärken zu müssen.

      Er hatte den Cider getrunken, aber das Brot hatte nicht geschmeckt. Dann war er an seine Feldarbeit gegangen.

      Unterwegs hatte er heftige Kopfschmerzen bekommen, und seine Mattigkeit war so groß geworden, daß er sich setzen mußte. Er hatte begierig aus einer Quelle getrunken, aber sein Durst war so groß geworden, daß er zuletzt aus einer Pfütze getrunken hatte.

      Endlich war er auf sein Feld gekommen, aber er hatte nicht die Kraft gehabt, seine gestern angefangene Arbeit fortzusetzen. Eine Weile hatte er sich auf sein Grabscheit gestützt, dann aber war ihm der Kopf zu schwer geworden, und er war zu Boden gefallen.

      Er blieb bis sieben Uhr Abends liegen, und er würde die ganze Nacht liegen geblieben seyn, wenn nicht zufällig ein Bauer aus einem Nachbardorfe vorbeigekommen wäre. Dieser rief ihn an; der Fieberkranke antwortete nicht, machte aber eine Bewegung. Der Bauer trat näher und erkannte Tinguy.

      Mit großer Mühe führte er den Kranken nach Hause. Dieser war so schwach, daß er länger als eine Stunde brauchte, um den kurzen Weg, den er sonst in einer Viertelstunde gemacht, zurückzulegen.

      Rosine hatte ihn schon mit Unruhe erwartet. Ueber das Aussehen ihres Vaters erschreckt, wollte sie nach Palluau eilen und den Arzt holen, aber der Kranke verbot es ihr ausdrücklich; er meinte, es habe nichts zu bedeuten, am andern Morgen werde er wieder gesund seyn.

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