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dass er gerade eben um die geschlossene Seite herum spähen konnte. „Seltsam.“

      Der Alte schnalzte mit der Zunge, und Globoli folgte schleimend.

      Das vertraute Schmatzen im Rücken raffte der Reiter seine Röcke und schlüpfte in die Stadt hinein. Er sah in die leerstehenden Wachhäuschen links und rechts und schüttelte den Kopf. „Sehr, sehr seltsam.“

      Unter seinen Füßen veränderte sich die Konsistenz des Bodens von sandig-erdig zu kopfsteingepflastert und ließ ihn jede raue Kante durch die Sohlen seiner Stiefel spüren. Der Schnecke musste es bei ihrem nackten Bauch ganz ähnlich gehen.

      Als die beiden ihre Augen hoben, entrollten sich vor ihnen leicht ansteigende, krumme Pfade, die sich zwischen den verwinkelten Fassaden der Stadt hindurch schlängelten und in sämtliche Richtungen abzuzweigen schienen. Hinter mancher Ecke erhoben sich zudem Uhren jeglicher Form und Farbe. Manche hingen anstelle von Glocken in Türmen, waren golden und schwer. Andere sahen wie überdimensionale, hölzerne Kuckucksuhren aus und ließen träge ihre Pendel hängen.

      „Wirklich mehr als merkwürdig“, murmelte der Schneckenreiter. Und tatsächlich schien es sonderbar still und leblos in der Stadt zu sein. Trotz all der Uhren ringsum erfüllte nicht das kleinste Ticken die Sträßchen.

      Da spitzte Globoli die Innenohren. Unter Anstrengung versuchte er es noch ein wenig stärker und meinte beinahe die Organe nach außen klappen zu spüren, als er endlich begann etwas zu hören. Zumindest nahm er es an. Er wiederholte das Prozedere, bis er glaubte jeden Tentakelblick platzen zu müssen. Da war doch eindeutig ein Laut. Mehrere sogar. Er bog einen Tentakel treppenstufenförmig und deutete damit um eine Ecke voraus.

      Ein heiseres Scheppern und Poltern stahl sich nun auch an das gealterte Gehör seines Begleiters und wurde immer deutlicher vernehmbar, je mehr sich dieser darauf konzentrierte. Der zum Wanderer verwandelte Reiter setzte sich wieder in Bewegung und lenkte seine Schritte dem leisen Lärm entgegen, der schon bald nicht mehr ganz so leise klingen wollte.

      Sie folgten den Geräuschen immer der zunehmenden Lautstärke nach durch die Schlingen und Windungen der Wege. Schiefe Häuser säumten sie zu beiden Seiten. Teils handelte es sich um strohgedeckte Fachwerkhäuser, teils schienen sie in ihrer Steinbauweise noch deutlich älteren Epochen zu entspringen. Eine Gemeinsamkeit bestand jedoch in den Holzzierleisten, die eine Vielzahl von ihnen aufwies. Stellenweise erweckte es den Eindruck, als seien verschiedene Behausungen einfach übereinander gestapelt worden. In schiefen Türmen unterschiedlicher Stilrichtung schraubten sie sich wie aufrecht stehende Flickenteppiche dem Himmel entgegen. So stand es jedenfalls zu vermuten, denn die zusammengewürfelten Wohnhäuser wuchsen so hoch und beugten sich derart weit über die Straßen, dass sie beinahe aneinander stießen und vom Himmel kaum etwas zu sehen ließen. Genauso wenig konnten Reiter und Schnecke daher ahnen, wohin sie ihr Weg letztendlich führen würde.

      Sie folgten dem Poltern und Summen wie von einem gewaltigen Bienenschwarm weiter in Serpentinen durch Clockville und ließen ihre Blicke aufmerksam links und rechts an den Fassaden entlang schweifen. Manchem Turm entwuchs hier und da ein hölzerner Übergang mit geschnitztem Geländer. Nicht selten war er in sich verdreht, wackelte, knarzte unbehaglich oder endete bereits auf halber Strecke zum nächsten Turm. Die Rennschnecke blubberte, und ihr Reiter zögerte nicht zu antworten.

      „Den Rest des Weges zum anderen Turm müssen sich die Bewohner an jenem alten Uhrpendel dort über den Abgrund schwingen.“ Er deutete mit einem knochigen Finger darauf, und Globolis Augen weiteten sich schlagartig.

      „Jaja, das ist nicht ganz ungefährlich“, stimmte der Schneckenreiter zu und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Aber überaus typisch für die Ortsansässigen. Du musst wissen, dass sie nach einem strengen Zeitplan leben. Aufschub wird nicht geduldet, und wenn etwas eben nicht zeitgemäß fertig wird, belässt man es wie es ist und fährt dem Plan folgend mit der nächsten Aufgabe fort. Ihr Zeitplan ist genauso lückenlos wie die Stadtbebauung.“

      Er stützte sich auf den Stock und ging weiter. Die Schnecke schüttelte den Kopf und betrachtete noch ein Weilchen das angelaufene Pendel an der halben Brücke, bevor sie ihrem Reiter hinterherrobbte.

      In die Lücken zwischen den Häusern drängten sich immer wieder Kleinkunstläden, allen voran Uhrmachergeschäfte und Werkstätten. Sie schmiegten sich in jede erdenkliche Nische, ward sie auch noch so klein. Und wo sich tatsächlich einmal kein Gebäude erhob, standen knorrige Bäume, deren Äste teils zum einen Fenster hinein und aus einem anderen wieder hinauswuchsen. Ranken schlängelten sich über das Gestein der Wände und durchbrachen mancherorts das Kopfsteinpflaster.

      Dafür gab es keine einzige Bäckerei, wie Globoli mit entsetztem Schmatzen feststellen musste. Er verrenkte sich beinahe die Augtentakel, während er danach Ausschau hielt, immer in der Hoffnung in irgendeinem Winkel doch noch eine zu erkennen. Stattdessen erblindete er fast, wenn plötzlich ein ungefilterter Sonnenstrahl durch die Schatten fiel und den Stein unter seinem Leib erwärmte. Ein Prickeln durchlief seinen Körper, bis er weiter über die kühleren Steine schleimte.

      Obwohl der Geräuschpegel stetig zunahm, begegneten sie noch immer keinem einzigen Bewohner auf der Straße. Immerhin näherte sich die Steigung offenbar ihrem höchsten Punkt, denn die Gasse vor ihnen verlief zwar nach wie vor kurvig, doch wenigstens halbwegs eben, wenn davon bei dem holprigen Boden auch kaum die Rede sein konnte.

      Als sie um die nächste Häuserecke des nächsten Uhrenladens bogen, schwoll der Lärm noch einmal an und begann sich in seine Bestandteile zu zerlegen, während sich das Sträßchen vor ihnen zu einem weiten Platz öffnete. Das dumpfe Poltern verwandelte sich in deutlich erkennbares Klopfen, und das Summen entpuppte sich als Gemisch aus Schreien, Rufen und Massenmurren eines heillosen Haufen Durcheinanders, das über den Markplatz brandete. Schnecke und Reiter erblickten endlich … die Uhrlinge. Und zwar in riesigem Auflauf alle auf einmal.

      Sämtliche Bewohner Clockvilles hatten sich auf dem uhrigen Platz versammelt, in ihrem Zentrum die große Uhr, die als einzige schwieg. Dafür wurde von drei Seiten mit kleinen Meißeln auf sie eingehämmert, nur immer wieder davon unterbrochen, dass einer der Hammermeister die anderen anbrüllte.

      „Das tickt doch nicht richtig“, schrie er soeben einem anderen der drei Uhrlinge in schwarzen Latzhosen zu.

      „Hör auf mich zu beleidigen“, brüllte der prompt zurück und hämmerte noch fester auf den Uhrkasten ein.

      Der erste verdrehte die Augen. „Ich habe vom Uhrwerk gesprochen.“ Ein Brummeln kam zur Antwort aus dem Kasten, in dem der dritte Latzhosenträger und Hammermeister kopfüber bis zum Bauch feststeckte.

      „Es tickt einfach nicht richtig“, kam es dumpf daraus hervor.

      „Nichts anderes habe ich gesagt.“

      „Meine Worte!“

      „Die gehören dir längst nicht, nur weil du meinst, sie als Erster ausgesprochen zu haben“, fiel der Dritte ein und schwang seinen Meißel über dem Kopf.

      Ein weiterer Kopf löste sich aus der Menge und rief: „Probiert doch mal am Zeiger zu ziehen!“

      Der Dritte ließ über die Bemerkung glatt seinen Meißel fallen und klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Und dann auch noch umgeben von Dummlingen! Am Zeiger ziehen, am Zeiger ziehen“, zeterte er noch, während er sein Werkzeug wieder aufklaubte, und ihm der nächste Uhrling einen Rat zurief. Die Schaulustigen schauten, traten von einem Fuß auf den anderen, einige drehten sich sogar im Kreis. Sie klackerten mit ihren Fingern gegen die Gehäuse ihrer stillen Taschenuhren, sahen nervös über ihre Schultern und redeten wahlweise wild durcheinander oder auf die drei Latzhosenträger ein. Ein Uhrling stand bloß da, putzte permanent seine Taschenuhr, steckte sie in die Tasche zurück, zog sie erneut hervor, putzte sie und wiederholte die ganze Prozedur, immer wieder dieselben Worte intonierend. Mit wehklagendem Wimmern im Abgang. „Uneinholbar. Verloren.“ Wimmer. „Uneinholbar. Verloren.“ Wimmer.

      Die Kinder der Uhrlinge – oder Kuhrlinge wie sie der Zeitersparnis wegen genannt wurden – hingen zappelnd in den Armen einiger Fruhrlinge (Koseform der Frauen-Uhrlinge oder Frohnaturen, wie sie

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