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Chris keineswegs blutsverwandt.

      Anouks Mutter, eine erfolgreiche Schauspielerin, hatte Chris Vater kennengelernt, als die beiden schon Teenager waren. Chris hatte jedes zweite Wochenende in der Hamburger Luxusvilla verbracht, in der Anouk aufgewachsen war. Dort hatte auch Jenny ihn kennengelernt: einen coolen Fünfzehnjährigen, der regelmäßig mit einer Gitarre in der Hand und einer Sporttasche über dem Arm vor der Tür stand.

      Schluss!, befahl sich Jenny streng und konnte gerade noch einem Auto ausweichen, als sie eine Straße überquerte. Diese Träumerei führte zu nichts. Chris würde sicher nicht mit einem Haufen Normalos in ein Bauernhaus in der Pampa fahren. Sie würde ihn nicht zu Gesicht bekommen, sondern sich nur stundenlang Geschichten über ihn von Anouk anhören und dabei vor Sehnsucht zerfließen.

      Und genau das würde sie natürlich niemals, nie-ma-ls zugeben.

      Jenny hatte Chris seit Jahren nicht gesehen. Jedes Jahr kündigte Anouk an, dass ihr Stiefbruder irgendwo aufkreuzen wollte. Aber er tat es nie. Jenny hatte Jahre gebraucht, um sich Chris aus dem Kopf zu schlagen. Jetzt würde sie nicht wieder damit anfangen, von ihm zu träumen. Sie war verdammt noch mal kein dummes Schulmädchen mehr, sondern eine ausgebildete Ärztin!

      Chris gehörte so wenig in ihr Leben wie Designerklamotten und Filmstars. Das war die Welt von Anouk, nicht ihre.

      Jenny atmete tief ein und aus und verbot sich jeden weiteren Gedanken an Chris. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe! Sie musste sich auf ihren Job konzentrieren. Die nächste Woche in der Klinik würde besonders heftig werden: Jenny hatte drei Nachtdienste und es war verdammt stressig, zehn lange Nachtstunden die Verantwortung für die ganze Kinderstation alleine zu tragen. Sie musste allein entscheiden, was zu tun war, wenn ein Kind einen Fieberkrampf bekam oder plötzlich apathisch wurde.

      Aber wenn sie diese Woche geschafft hatte, lag endlich der Urlaub vor ihr - und den würde sie sich nicht kaputt machen lassen. Nicht von Ex-Freunden mit ihren blöden, neuen Flammen und schon gar nicht von Gitarristen, die nicht mal auftauchten. Ein Gutes hatte Anouks Ankündigung von Chris‘ Anreise auf jeden Fall: Jenny war es auf einmal vollkommen egal, ob ihr Ex-Freund Florian mit seiner neuen Freundin oder einem Yeti in dem alten Bauernhaus auftauchen würde.

      ***

      In ihrer Wohnung angekommen riss Jenny alle Fenster auf, um die Abendluft herein zu lassen. Dann ließ sie sich aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein. Ohne richtig hinzusehen zappte sie fahrig durch die Kanäle. Es war wie verhext.

      Egal, welches Programm sie wählte, sie sah überall blonde Männer, E-Gitarren oder britische Bands. Alles schien sie an Chris zu erinnern. Wütend schaltete sie den Fernseher wieder aus.

      Dann hörte sie auf, gegen sich selbst anzukämpfen. Sie ging zu ihrer Musikanlage und zog eine CD aus dem Stapel, der darauf lag. Sekunden später war der Raum von melancholischen Akkorden erfüllt und eine leicht kratzige Männerstimme sang von bittersüßen Erinnerungen und verpassten Chancen.

      Jenny nahm die CD-Hülle und ließ sich wieder auf die Couch fallen. Sie hörte den Song vom ersten Akkord bis zum letzten Klang und starrte dabei auf das kleine Cover, das fünf Männer im Post-Grunge-Look zeigte. Aber Jenny hatte nur Augen für den Blonden mit der Gitarre in der Hand. Christoph Emanuel Safier.

      Es war nicht seine Stimme, die sie hörte – schließlich war er nicht der Sänger der Band. Trotzdem hatte Jenny das Gefühl, dass dieses Lied nur für sie geschrieben worden war.

      „Peppermint Nights“, murmelte sie leise den Songtitel vor sich hin, um den Klang der Worte zu hören. Es erinnerte sie an den Geschmack von Mentos und den Geruch von Lavendel in einer längst vergessenen, fernen Nacht.

      Ihr Blick wanderte wieder zu dem Foto von Chris. Er war älter geworden, aber er sah auf jeden Fall genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er trug die blonden Haare immer noch im Beckham-Look der neunziger Jahre – mit Strähnen, die ihm in die Stirn fielen und im Nacken so lang, dass sie sich ein wenig kräuselten. Seine Augen sahen leicht zusammengekniffen und konzentriert in die Kamera.

      Jenny schloss die Augen und ließ den Kopf an die Sofalehne sinken. Chris. Was wäre, wenn sie ihn wirklich wiedersehen würde? Würde sie jetzt immun sein - gegen seine blöden Sprüche, seine Überheblichkeit und seine blauen Augen?

      Er fährt sowieso nicht mit, erinnerte sie sich.

      Richtig. War auch besser so.

      Sie stand auf, stellte resolut die Musik aus und holte die Wäsche aus dem Trockner. Dann schaltete sie die Abendnachrichten an und faltete Handtücher. Sie hatte weder die Zeit noch die Energie sich in so eine dumme Sache hineinzusteigern. Sie würde sich keine falschen Hoffnungen machen.

      Diesmal nicht.

      Kapitel 2 – Ernste Gespräche

      Es war eine harte Woche, aber auch eine Gute.

      Jenny meisterte ihre Nachtdienste mit Bravour und schon war ihr letzter Arbeitstag vor dem Urlaub geschafft und sie stand vor ihrem Kleiderschrank, um ihre Tasche zu packen.

      Als sie ein kurzes Strandkleid aus dem Schrank zog, musste sie daran denken, wie sie vor einem Jahr für die Juni-Reise gepackt hatte. Florian hatte auf ihrem Bett gesessen und auf seinem Tablet irgendeine Wissenschaftsdoku gesehen. Sie sah ihn förmlich vor sich. Seine schwarzen, kurzen Locken in die Hand gestützt, seine Augen konzentriert hinter der schwarzen Brille. Die Haare waren ein Erbe seiner Großmutter mütterlicherseits. Einer Brasilianerin, die ihrer großen Liebe nach Deutschland gefolgt war. Auch Florians Schwester Sophie und ihrer Tochter Emilia hatten die dunklen Locken geerbt.

      Jenny hatte Florian leicht rütteln müssen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dann hatte sie ihm das Minikleidchen hingehalten und gefragt, ob sie es mitnehmen solle. Er hatte gelacht und gesagt, wenn sie nicht irgendwelche Typen aufreißen wolle, würde sie es nicht brauchen.

      Florian war nie ein eifersüchtiger Freund gewesen. Schon vor ihrer Trennung hatten er und Jenny nicht allzu viel Zeit miteinander verbracht. Sie waren keines dieser Pärchen gewesen, die fortwährend zusammen sein mussten. Seit sie die Uni verlassen hatten, hatten sie sich nur noch an den Wochenenden gesehen. Ihre Berufe ließen es kaum zu, sich abends zu verabreden. Jenny war mit ihrem Job als Assistenzärztin eigentlich ständig überlastet und Florian musste für seine Pharmafirma neben seiner normalen Arbeit eine Fortbildung nach der anderen besuchen.

      Aber Anouk hatte Recht, sobald die Rede auf Chris gekommen war, hatte Florian immer ungewöhnlich heftig reagiert. Dabei hatten sich die beiden Männer nur zweimal getroffen.

      Auf einer Silvesterparty und bei einer Galerieeröffnung, die Anouk organisiert hatte. Florian hatte kein gutes Haar an Chris gelassen und sich furchtbar über seine schlechten Manieren aufgeregt. Jenny hatte Chris verteidigt und sie hatten einen Riesen-Krach deshalb gehabt.

      Jenny legte seufzend das Kleid in den Schrank zurück und suchte ihr Schwimmzeug heraus. In der Nähe des Bauernhauses lag ein wunderschöner Badesee. Eigentlich war es noch zu kalt zum Schwimmen, aber zum Sonnen war es sicher schon warm genug. Dann steckte sie noch die üblichen Jeans und Shirts ein und zog den Reißverschluss der Tasche zu.

      Jenny hatte die Hoffnung in den letzten Tagen fast aufgegeben, dass Chris tatsächlich auftauchen würde. Anouk hatte ihn nicht mehr erwähnt. Die Freundinnen hatten sich seit dem Abend in der Spreebar nicht mehr gesehen. Immerhin hatte Anouk schon Urlaub und war für ein paar Tage zu ihrer Familie nach Hamburg gefahren. Durch Jennys Nachtdienste hatten die beiden kaum Gelegenheit gehabt, miteinander zu telefonieren.

      Da Anouk kein Auto hatte, wollte Jenny ihre Freundin auf dem Weg zum Bauernhaus am Schweriner Bahnhof abholen. Der Rest der Gang würde erst einen Tag später kommen - ihr Ex Florian und seiner Freundin Kessy ebenfalls mit dem Auto, die anderen mit dem Zug.

      Jenny fühlte sich seltsam, als sie wenig später mit ihrer Tasche in ihr Auto stieg. Einerseits konnte das natürlich daran liegen, dass sie in der Woche so unregelmäßig geschlafen

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