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Gretel. Alptraum wäre der richtige Ausdruck für das, was damals geschah.“

      Maggie neigte sich nach vorne und hing an den Lippen Satorius. Sie ahnte, welchen Vorfall er ihr schildern wollte und das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

      „Nennen Sie mich Meg, Hans. Meine Freunde nennen mich so. Ursprünglich haben sie es als eine Art Abkürzung für Margreth gesehen. Ich glaube aber, dass kaum jemand, der mich Meg nennt, meinen richtigen Namen kennt.“ Sie beugte sich noch etwas weiter nach vorne. „Erzählen Sie mir von diesem … Vorfall? Was ist passiert?“ Sie versuchte gleichgültig zu erscheinen.

      Satorius nickte. Irgendwie war er froh, dass er jemanden gefunden hatte, mit dem er über diese Sache sprechen konnte. Möglicherweise konnte er sogar davon profitieren. Irgendwie, dachte er.

      „Oben am Waldrand, einige hundert Meter von der Ortsgrenze entfernt geschah es, vor rund 18 Jahren“, begann er. „Ein Mord. Ein brutaler Mord. Der Eigentümer des Hauses wurde erschlagen, seine Frau vergewaltigt. Es sollen vier Täter gewesen sein.“

      „Das ist … das ist schlimm.“ Maggie zögerte, denn die Erinnerungen stiegen langsam wieder in ihr hoch. Plötzlich sah sie die Situation ganz deutlich, so, als stünde sie auf der Balustrade des Wohnzimmers. Dann verschwamm alles vor ihren Augen. Nur das Abbild eines Vogels, eines tätowierten Adlers, erfüllte ihren gedanklichen Blick. Sie sah das Gesicht des Mannes nicht. Er war maskiert. Sie sah nur den Adler. Sie sah ihn deutlich vor sich, so sehr hatte sie ihn sich eingeprägt.

      „Meg, ist Ihnen nicht gut? Was haben Sie?“ Die Stimme Satorius rief sie in die Gegenwart zurück.

      „Ich überlegte nur gerade, wie ein Mensch so etwas tun kann“, sagte sie leise.

      „Sie wissen nichts davon? Ihnen ist nicht bekannt, was damals geschah? Sind Sie denn nicht hier zuhause? In Hermeskeil oder in der Region weiß jeder, was damals geschah. Es ging durch alle Zeitungen, bundesweit. Eine grauenvolle Tat.“

      „Nein, ich habe nichts davon gewusst“, entgegnete Maggie abwesend. Satorius hatte plötzlich den Eindruck, er säße alleine an diesem Tisch im Restaurant.

      „Ich habe lange im Ausland gelebt und bin erst seit einigen Tagen wieder hier“, hörte er die Frau auf der anderen Seite des Tisches sagen. Doch dann schien sie ihre Natürlichkeit wiedergewonnen zu haben.

      „Und über diese Sache wollen Sie noch einmal berichten? Jetzt, nach so langer Zeit?“

      „Meg ist die amerikanische Abkürzung für Megan“, sagte Satorius, ohne auf ihre Frage einzugehen. Führen sie ihn als Zweitnamen?“

      „Nein, ich sagte es doch bereits, mein Bekanntenkreis hat sich diese Abkürzung einfallen lassen. Womit Sie allerdings Recht haben, ist die Tatsache, dass diese Freunde in Übersee leben.“

      „Ja, sehen Sie, jetzt wird ein Schuh daraus“, lachte Satorius. Das ist typisch für die Amerikaner. In solchen Dingen greifen sie zur einfachsten Variante.“

      „Ja, vielleicht“, antwortete Maggie und hoffte, dass dieses Thema nun erledigt sei. „Warum wollen Sie noch einmal berichten?“, schob sie ihre bereits gestellte Frage nach.

      „Unsere Leser interessiert, was mit den Beteiligten von damals geschehen ist. Da war noch eine Tochter, die von Pflegeeltern aufgezogen wurde, da sind die Täter, die ihre Strafe abgesessen haben und sich wieder auf freiem Fuß befinden. Was all diese Menschen heute tun, wie sie leben, wie sie mit der Tat fertiggeworden sind, all das wollen unsere Leser wissen. Doch erst muss ich nach diesen Menschen suchen. Aber, Meg, ich muss Ihnen doch nicht sagen, wie unser Geschäft läuft. Sie sagten, sie seien Journalistin. Also, was halten Sie von der Sache?“

      „Was soll ich wohl davon halten?“ Maggie sah Satorius an und ihre Stimmung wandte sich von einem Moment auf den anderen ins Positive. Ihn hatte der Himmel gesandt. Da saß ihr ein Mann gegenüber, der ihr bei ihrer Suche nach Vergeltung helfen würde. Er würde sie zu den Tätern von damals führen. Sie hörte seine Stimme und nickte bereits zustimmend, bevor er zu Ende gesprochen hatte.

      „Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns gemeinsam auf die Suche begeben? Es wäre eine gute Gelegenheit für mich, die Zeit zu überbrücken, bis ich wieder eine Anstellung gefunden habe.“

      Kapitel 16

      Aus dem Kopfhörer bahnte sich die eingehende Melodie von Johnny Logans Grand Prix-Siegertitel It`s another year den Weg durch die Gehörgänge von Ewald Kerner.

      Er hatte die Lautstärke seines Walkmans auf einen hohen Pegel einjustiert, um das Geratter und Geschepper der Einkaufswagen, die er auf dem Parkplatz des Thalfanger Supermarktes einsammelte, um sie dann in Schlange aneinandergereiht in Abstellboxen zu bringen, nur in mäßiger Lautstärke mitzubekommen.

      Ab und zu glitt sein Blick hinüber zu einem Teil des Parkplatzes, auf dem man für heute ein kleines Fest für die Kunden ausgerichtet hatte. Zahlreiche Besucher hatten sich dort auf Bänken niedergelassen oder standen am Bierstand. In der Luft lag der Duft von gegrilltem Fleisch. Nach Feierabend, und das würde in wenigen Minuten sein, würde er sich ebenfalls dorthin begeben und ein Bier oder gar mehrere trinken.

      Plötzlich spürte er eine Hand, die ihm unsanft den Kopfhörer vom Ohr riss und ihn anbrüllte.

      „Wenn Sie die Dinger auf dem Kopf haben, können Sie ja nicht hören, wenn die Leute nach Ihnen rufen. Ich habe Ihnen den Job hier gegeben, damit Sie gute Arbeit machen!“, schrie ihn ein Mann an, der sich nun vor ihn stellte und sich als der Filialleiter des Supermarktes entpuppte.

      „Dort hinten stehen Einkaufswagen und behindern die Fahrzeuge auf den Parkplätzen. Sollen die Kunden hier selbst für Ordnung sorgen?“ Das runde Gesicht des kleingewachsenen Filialleiters, der in zu engem weißen Kittel über seinem hervorstehenden Bauch vor ihm wütete, war dunkelrot angelaufen. Sein Blick huschte schnell über den Parkplatz, um sich offensichtlich zu vergewissern, dass man es auch hörte, wie er mit Untergebenen sprach.

      „Nein, natürlich nicht“, antwortete Kerner kleinlaut. „Ich werde mich sofort darum kümmern.“

      „Das will ich aber auch hoffen“, schnauzte der Filialleiter grimmig. „Sie wissen, dass Sie diesen Job brauchen. Wer gibt schon einem Knastbruder eine Anstellung? Also, dass mir so etwas nicht noch einmal vorkommt. Ihre Schicht ist gleich zu Ende, also beeilen Sie sich!“

      Kerner nickte und schob die Einkaufswagen an ihre Stelle. Dann machte er sich auf, das angesprochene Problem zu lösen. Sein Blick glitt über den Parkplatz des Supermarktes und blieb schließlich an einem ockerfarbenen Fiat Cinquecento hängen. Eine junge Frau lehnte am vorderen rechten Kotflügel. Vor ihr standen drei ineinandergeschobene Einkaufswagen.

      Er machte sich auf den Weg zu dem Fahrzeug und wollte die Einkaufswagen gerade davonschieben, als er die Stimme der jungen Frau hörte.

      „Wollen Sie sich ein paar Euro dazuverdienen?“

      Kerner drehte sich in Richtung der Stimme und betrachtete die junge Frau näher. Blue Jeans, hellblaue Bluse, hohe Stöckelschuhe und bis auf die Schultern fallendes glattes mittelblondes Haar ließen seine Blicke länger auf der Person ruhen, als er das sonst aus einem so geringen Abstand getan hätte. Er fragte sich, warum sie gerade ihn ansprach. Doch dann dachte er an das Trinkgeld, das vielleicht üppig ausfallen könnte. Er konnte jeden Cent gebrauchen.

      „Was muss ich tun?“, fragte er.

      „Fahren Sie meinen Wagen durch die Waschanlage. Ich werde derzeit dort hinten unter einem der Sonnenschirme bei einem kühlen Glas auf Sie warten.“

      „Warum tun Sie es nicht selbst?“, fragte er. „Sie könnten sich das Trinkgeld sparen.“

      Die Frau sah ihn freundlich an und fragte: „Wollen Sie oder wollen Sie nicht?“

      „Okay“, willigte Kerner ein. „Ich werde die Wagen an ihren Platz stellen. Bin gleich zurück.“

      „Die Schlüssel. Nehmen Sie. Ich werde dort hinten auf Sie warten.“

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