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Abend vor der Eheschließung starb Lars' Vater. Er saß mit seiner Frau Helga bei einem Glas Rotwein, als sein Herz plötzlich den Dienst quittierte. Lars und Melanie wollten die Hochzeit verschieben, doch seine Mutter bestand darauf, dass alles wie geplant über die Bühne ging.

      Nach einer Nacht ohne Schlaf heirateten sie standesamtlich im engsten Kreis. Für den Abend hatten sie die Angehörigen und einige Freunde in ein Restaurant geladen, doch kaum jemandem war zum Feiern zumute. Melanies und Lars' schönster Tag wurde zu einer traurigen Veranstaltung. Die meisten Gäste gingen früh, und Lars betrank sich dermaßen, dass er sich bereits vor Mitternacht nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

      Knapp ein Jahr später kam Juliana auf die Welt, gesund und hübsch. Melanies und Lars' Welt war perfekt und alles, was sie sich wünschten, war, dass sich daran nichts änderte.

      Das erneute Schnarren des Telefons riss Lars aus seinen Gedanken heraus. Er nahm den Anruf entgegen.

      »Hier spricht noch mal Karla von der Rezeption. Bitte entschuldigen Sie die Störung, Herr Benthien, ich wollte nur sichergehen, dass Sie nicht wieder einschlafen. Sie klangen vorhin so, als könne das durchaus passieren.«

      »Das ist nett von Ihnen, Karla, Ihr Anruf rettet mich tatsächlich.«

      Es war geflunkert, doch Lars verspürte das Verlangen, Karla etwas Nettes zu sagen.

      Karla wünschte ihm erneut einen schönen Tag und legte auf.

      Lars schaltete das Licht ein. Zur Orientierung ließ er den Blick einmal durch den Raum schweifen, dann blickte er auf seine auf dem Nachtschrank liegende Armbanduhr. Er war gut in der Zeit. Mit Schwung stand er auf und ging in das Badezimmer.

      Er warf nur einen kurzen Blick in den Spiegel. Lars wusste auch so, was ihn erwartete, nur mit dem Unterschied, dass die bittere Wahrheit jeden Tag eine Nuance härter wurde. Die Fältchen um Augen und Mund wurden länger und tiefer und die Anzahl der grauen Haare nahm zu. Auch wenn Lars' Äußeres sich insgesamt gut gehalten hatte, lagen seine besten Jahre nun mal hinter ihm, selbst wenn Melanie nicht locker ließ zu behaupten, er sehe zunehmend interessanter aus – was in Lars' Ohren ein drittklassiges Synonym für alt war.

      Er zog das T-Shirt über den Kopf und ließ es achtlos zu Boden fallen. Dann trat er dicht an den Waschtisch und nahm die Dose Rasierschaum und das Rasiermesser aus der Kulturtasche. Er ließ das Wasser laufen und regulierte die Temperatur, dann wässerte er das Gesicht und den Hals. Anschließend sprühte er Rasierschaum in die rechte Handfläche, stellte die Dose ab und blickte in den Spiegel, um mit der Rasur zu beginnen – als ihn ein plötzlicher Hieb aus Verwunderung und Schrecken traf und fast von den Beinen riss.

      Lars blieb die Luft weg.

      Was zum Henker ... .

      Eine Zeichnung. Sie prangte mitten auf Lars' linkem Oberarm und er sah sie zum ersten Mal – denn bisher war sie nicht da gewesen. Lars riss sich von dem Spiegel los und starrte auf seinen Arm. Türkis. Blau. Rot. Schwarz. Die Farben schienen zu tanzen, sich übereinander zu legen und ständig neue Formen zu bilden. Es war, als blickte Lars direkt in ein Kaleidoskop.

      Was – in – aller – Namen – war – das?

      Reflexartig strich er mit der rechten Hand über die Farben und schmierte dabei Rasierschaum auf den Arm. Er riss das Handtuch vom Haken und wischte den Schaum ab. Die Farben hörten auf zu tanzen, und nach und nach bildete sich ein Motiv. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Lars drauf. Nach mehreren Sekunden begriff er endlich, was er sah.

      Es war ein Liebesherz. Ein fingerdicker blutroter Rand, um-schlungen von einem schwarzen Strang spitzer Dornen. In der Mitte des nicht mit Farbe ausgefüllten Herzens standen drei violette einzelne senkrechte Balken.

      »Wo kommt das denn her?«, murmelte Lars ungläubig. Er strich über die Farben und betrachtete seine Fingerkuppen, doch die Farben hatten nicht abgefärbt. Hektisch drückte Lars den Handseifenspender, und ein dünnes Band gelbliche, nach Limette riechende Masse fiel auf seine Handfläche. Er verrieb die Seife auf dem Arm, gab Wasser dazu und rieb noch kräftiger. Nichts. Die Zeichnung verwischte nicht und die Farben blieben unverändert kräftig. Lars nahm das Handtuch und rieb damit über den Arm bis die Haut schmerzte, doch außer, dass sie durch die Reibung leicht rot wurde, passierte nichts.

      Lars wurde schwindelig. Er setzte sich auf den WC-Sitz, schloss die Augen und mahnte sich zur Ruhe. Es musste der innere Stress sein, vermutlich setzte ihm der Druck der anstehenden Präsentation zu. Er zählte stumm bis Zehn, dann öffnete er die Augen und blickte auf seinen Arm – und sah die Zeichnung. Ohne darüber nachzudenken, spuckte er drauf und rieb über die Farben. Nichts.

      »Es geht nicht ab«, sagte er verwundert. »Wieso geht es nicht ab?«

      Warum wohl nicht, warum wohl nicht?, fragte eine helle Knabenstimme in Lars' Kopf. Er hatte sie nie zuvor gehört.

      »Ich habe keine Ahnung«, murmelte Lars, während sich ein aberwitziger Gedanke durch seinen Kopf schob. Sein Herz schlug bis in den Hals hinein.

      Und, Larsi, und? Die Knabenstimme lachte hysterisch.

      »Weil ...« – Lars musste kräftig schlucken – »es vielleicht eine Tätowierung ist.« Staunend hörte er seinen Worten hinterher.

       Schlaukopf, Schlaukopf!

      »Aber wie kann das sein?« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie kommt ... eine Tätowierung auf meinen Arm?«

      Keine Antwort. Die helle Knabenstimme schwieg.

      ●

      Etwas war anders. Stimmte nicht. Es war nur ein Gefühl, doch dieses Gefühl war so stark, dass es zur Gewissheit wurde.

      Sie trat noch näher an den Spiegel heran und betrachtete ihr Gesicht. Die grünblauen Augen waren wie immer, mit der Ausnahme, dass sie nervös flackerten. Der Mund war wie immer, die Nase auch, und auch darüber hinaus entdeckte sie nichts Ungewöhnliches. Alles schien so zu sein wie immer, doch sie war fest davon überzeugt – nein, sie wusste – dass genau das nicht der Fall war.

      Es war nicht wie immer.

      Es war komplett anders.

      Sie schloss die Augen, hielt den Atem an und horchte in sich hinein. Nichts drückte oder pochte, nichts schmerzte, doch das war nichts weiter als eine falsche Fährte. Irgendwo in ihrem Körper steckte etwas und fraß sich gierig schmatzend voran. Es hatte einen Vorsprung herausgeholt, und möglicherweise war dieser Vorsprung bereits so groß, dass er sich nicht mehr aufholen ließ.

      Mit einem Mal verspürte sie blanke Angst. Ohne einen weiteren Gedanken riss sie ihre Pyjama-Bluse auf. Zwei Knöpfe flogen durch das Badezimmer, um gleich darauf mit hellem Pling! Pling! Pling! auf den Fliesen zu tanzen. Sie tastete ihre Brüste ab, doch sie fühlte weder einen Knoten noch etwas anderes, das ungewöhnlich war. Aber das war keine Entwarnung. Wenn dieses tückische Etwas nicht in ihrer Brust steckte, hatte es sich woanders verschanzt.

      Feige und hinterhältig.

      Die Lymphknoten – was war mit den Lymphknoten? Mit un-ruhigen Händen tastete sie erst hinter, dann unterhalb der Ohren. Nichts. Dann den Nacken und den Hals. Sie strich sich über den Unterkiefer und das Kinn, tastete die Achselhöhlen und die Leistengegend ab, doch sie fühlte nichts, was dort nicht hingehörte. Alles war wie immer – und zugleich war es das nicht. Etwas steckte in ihrem Körper und hatte den Plan geschmiedet, sie zu töten. Schnell oder langsam, gütig oder quälend. Der Tod kannte viele Wege des Näherkommens, doch am Ende hatte seine Fratze immer dieselbe kalte Endgültigkeit.

      »Freu' dich nicht zu früh«, zischte sie ihrem Spiegelbild entgegen und zog die Pyjama-Bluse resolut zusammen, ganz so, als stünde jemand vor ihr, der ihren blanken Busen nicht anzustarren habe. Sie spuckte gegen den Spiegel. Trotzig wie ein kleines Kind, dem kein besseres Mittel des Protestes einfiel. Und während sie nur in Slip und Pyjama-Bluse bekleidet dastand und der Speichel das Glas herablief, ratterte in ihrem Kopf das Vaterunser herunter. Ohne ihr Zutun, ohne ihr Wollen. Es geschah einfach so, und sie fragte sich staunend, weshalb. Sie

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