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ist, aber ich bin nicht froh darüber, und mein Engel ist es auch nicht. Ist doch so, Engel, oder? Seien wir ehrlich: Es ist für dich nicht gut, dass es gleichbleibend ist.«

      Mit kleinen Schritten verließ er das Badezimmer. Sie sah ihm hinterher. Es war schlichtweg unfassbar, was mit ihm geschah. Sie hatte etliche Male versucht, etwas darüber herauszufinden. Erst vor wenigen Tagen hatte sie einmal mehr stundenlang am Computer der öffentlichen Stadtbücherei gesessen und die größte Suchmaschine des Internets mit allen für sie infrage kommenden Stichworten gefüttert. Doch sie hatte dazu nichts gefunden, nicht einen einzigen Eintrag. So wie es aussah, war er ein Einzelfall, mit ihm geschah etwas Einmaliges.

      Sie verließ das Badezimmer und folgte ihm über den schmalen Flur in das karge Wohnzimmer. Mit einem leisen Stöhnen setzte er sich in seinen angestammten Drehsessel.

      Sie fragte: »Was möchtest du heute Mittag essen?«

      Er überlegte kurz und sagte dann: »Nudeln, scharf wie ein anständiger Fick. Pasta arabiatta ficki, Engel.«

      Sie hob genervt die Augenbraue.

      Er sagte: »Sorry, sollte bloß ein Witz sein. Das mit dem Ficken ist natürlich reines Wunschdenken, ich schaffe es ja nicht mal mehr, mir einen runter zu holen. Ich kann an meinem Schwanz spielen, so viel ich will, da regt sich nichts. Das Ding ist bloß noch zum Pissen da.«

      Sie verdreht die Augen. »Gut, und was willst du nun zum Mittagessen?«

      »Nudeln mit Käsesauce wäre prima, dazu eine Flasche italienischen Weißen. Ein Pino, vielleicht. Was meinst du?«

      »Ja, warum nicht. Klingt gut.«

      »Das will ich doch wohl meinen. Heute Mittag hocken wir nicht in dieser muffigen Wohnung, sondern sitzen irgendwo in der Toskana auf einer Piazza am Tisch eines Restaurants. Engel, schöne und entspannte Menschen sitzen an den Nebentischen oder flanieren vorbei und fröhliche Kinder stecken uns mit ihrem Lachen an, ab und zu braust eine Vespa vorbei. Dolce vita, Engel.« Er streckte die Arme nach oben, blickte zur Zimmerdecke und rief: »Das Leben ist schön, preiset den Herrn! Halleluja, Hal-le-luja!«

      Ausdruckslos sagte sie: »Ich schaue nach, was wir sonst noch benötigen.« Mit diesen Worten verließ sie den Raum.

      Kurz darauf fiel die Wohnungstür zu. Er seufzte. Wie an jedem anderen Tag bestand die theoretische Möglichkeit, dass sie nicht zurückkehrte. Doch sie würde ihn nicht im Stich lassen, das hatte sie bisher nicht getan und würde es auch heute nicht tun. Sie war der großartigste Mensch, der jemals geboren worden war. Für jeden Tag, den sie ihm schenkte, verzichtete sie auf einen Tag ihres Lebens. Doch sie klagte nicht, für sie war es wie selbstverständlich. Sie war ein Engel in Menschengestalt.

      »Verehrte Kunden, bis auf diesen einen Engel sind leider alle Engel ausgestorben, und daraufhin mussten wir leider die Engelsabteilung schließen«, sagte er in den leeren Raum hinein. »Bitte besuchen Sie stattdessen die Teufelsabteilung im sechshundertsechsundsechzigsten Untergeschoss. Aber Vorsicht, dort unten ist es höllisch heiß, doch was macht das bisschen Hitze schon aus? Es erwartet Sie dort unten eine große Auswahl an Teufeln. Suchen Sie sich dort Ihren persönlichen Lieblings-abgründigen aus. Meine Damen und Herren,wir wünschen Ihnen einen diabolischen Einkauf!«

      Mit einer kurzen Handbewegung wischte er das Wasserglas vom Beistelltisch. Es flog ein kurzes Stück, dann fiel es zu Boden und zerbrach. Er würde ihr nachher sagen, das Glas sei ihm aus der Hand gerutscht, es täte ihm leid. Ob sie ihm glaubte oder nicht, würde sie für sich behalten. Sie würde schweigend die Scherben aufsammeln und die Splitter im Beutel des Staubsaugers verschwinden lassen, und es wäre ihr egal, dass es einmal mehr danach aussah, als sei sie seine Leibeigene, seine Sklavin. Es machte ihr nicht das Geringste aus, sich für ihn klein zu machen – und genau darin lag ihre tatsächliche Größe.

      Sein lieber, selbstloser Engel.

      3.

      Das Geräusch schlich sich in den dünnen Traum hinein, nistete sich dort ein und lief für eine unbestimmte Zeit mit. Dann war abrupt Schluss.

      Lars wurde wach. Das Telefon. Es klang so anders als Zuhause oder im Büro. Das Telefon zuhause hatte diese angenehm aufsteigende und abnehmende Melodie: Hallohooo, ist jemand dahaaa? Das Klingeln im Büro war ein penetrantes Schrillen: Nimm! Sofort! Ab! Dieses Klingeln hingegen war ein dezentes Schnarren, das zu sagen schien: Tut mir ehrlich leid, dass ich störe, aber es ist nun mal mein Job.

      Lars musste sich kurz orientieren, dann wusste er wieder, dass er in diesem privat geführten Hotel am Stadtrand von Düsseldorf war. Wie lange klingelte das Telefon bereits? Und wo stand es noch gleich? Nach kurzem Tasten hatte er den Hörer in der Hand.

      »Ja?« Eine Stimme wie aus der Gruft.

       »Guten Morgen, Herr Benthien. Hier spricht Karla von der Rezeption. Es ist sieben Uhr. Sie wollten um diese Uhrzeit geweckt werden.«

      Lars grummelte. »Sagten Sie, Ihr Name ist Karla?«

      »Ja, richtig.«

      »Karla, welches Jahr haben wir?«

      »2013.«

      »Okay. Und ist heute der erste April?«

      »Nein, der fünfzehnte Dezember.«

      »Hm. Also ist Ihr Anruf kein übler Aprilscherz und es ist wirklich an der Zeit, aufzustehen und die Welt zu erobern?«

      »Für die ganze Welt könnte es möglicherweise nicht ganz reichen, aber Sie werden sicherlich einen erfolgreichen Tag haben.«

      »Erfolg kann ich heute tatsächlich gut gebrauchen. Danke für den Weckruf, Karla.«

      »Sehr gerne.«

      Ein kurzes Knacken, gefolgt von einem durchgehenden Summen. Karla von der Rezeption hatte aufgelegt.

      Lars schlug die Augen auf, doch in dem Zimmer war es stockdunkel. Was das Tageslicht betrifft, war sieben Uhr am fünfzehnten Dezember mitten in der Nacht, zudem lag das Zimmer zum Hinterhof raus. In einem geschlossenen Sarg war es kaum dunkler.

      Lars spielte kurz mit dem Gedanken, zu Hause anzurufen, doch er verwarf die Überlegung. Es war zu früh, Melanie sollte endlich mal länger schlafen. Die vergangenen zwei Monate waren für sie anstrengend genug gewesen, sie hatte sich alleine um alles kümmern müssen.

      Während der zurückliegenden sieben Wochen hatte Lars sich zwei freie Sonntage gegönnt, ansonsten hatte er jeden Tag gearbeitet, mitunter bis in den späten Abend hinein. Er war Inhaber eines Planungsbüros für Erneuerbare Energien mit dem Schwerpunkt Photovoltaik. Mit mehreren festen und einigen freien Mitarbeitern projektierte er mittlere bis große Anlagen zur direkten Umwandlung der Sonnenenergie in elektrischen Strom. Das Projekt, für das er nun hier in Düsseldorf war, war die Photovoltaik-Lösung für eine Unternehmensgruppe mit Standorten in Deutschland und im benachbarten Ausland. Heute musste er in der Düsseldorfer Unternehmenszentrale das Projekt präsentieren. Wenn alles glatt lief, dürfte er seinen bislang größten Auftrag so gut wie in der Tasche haben.

      Als Lars sich vor rund drei Monaten dem Vorstand der Unternehmensgruppe vorgestellt hatte, hatte er zuvor einen Fragebogen ausfüllen müssen, in dem es auch um einige persönliche Angaben ging, die jedoch freiwillig waren. Lars hatte auch diese Fragen wahrheitsgetreu beantwortet, denn erstens hielt er es in Anbetracht des lockenden Auftrags für schlauer, und zweitens hatte er nichts zu verheimlichen. Also gab er wahrheitsgemäß an, dass er vierundvierzig Jahre alt und mit Melanie verheiratet war, die neun Jahre jünger war und mit der er seine knapp fünfjährige Tochter Juliana hatte. Zu dritt lebten sie in einer kleinen Gemeinde in Schleswig-Holstein im Hamburger Speckgürtel.

      Als Lars Melanie das erste Mal getroffen hatte, war er bereits seit einigen Jahren von Sonja geschieden gewesen. Sonja und er hatten damals überstürzt geheiratet, keine drei Monate, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Doch sie hatten nicht zusammengepasst. Nach dem Scheidungstermin hörten sie nichts mehr voneinander. Mit Melanie hatte Lars es dann langsamer angehen lassen. Erst

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