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hat für sich selbst da längst eine Entscheidung getroffen: Er wird sich nicht mehr gegen den Vorwurf, zu sehr aus seiner eigenen Geschichte (sei es seine Geschichte als Jude in einem deutschen Staat, sei es seine Geschichte als der Freund Rosenstocks, der von diesem unentwegt zur Konversion gedrängt werden soll) zu sprechen, verteidigen. Er wird diese Argumentation vielmehr als seine annehmen, ohne das Elend mancher Erfahrung zu beschönigen. In diesem Geist wird er die Gegenseite „stellen“. Das heißt: Er geht gerade da am deutlichsten da über Cohen hinaus, wo er die geschichtliche Wirklichkeit noch viel ernster nimmt als dieser es getan hat. Für Rosenzweig gehört die geschichtliche Wirklichkeit von Menschen und Dingen, besonders von solchen „Großdingen“ wie den Religionen, unmittelbar in den Begriff einer Sache, eines Dings, einer Person. Und dies deswegen, weil die in ihr sich abspielenden Beziehungen der einen Glaubensweise oder Menschengruppe auf die ihr anderen den Kern ihrer Definition selbst bilden.

      Hier ist Rosenzweig übrigens nicht nur der späteren Religionswissenschaft und ihrer Beschreibung etwa der Entwicklung von rabbinischem Judentum und Christentum als wechselwirkender Prozesse weit voraus[25], sondern er ist sich zugleich über viele Jahre hinweg treu geblieben. Bereits in seinem berühmten "Ich-bleibe-also-Jude-Brief" an Rudolf Ehrenberg von 1913 hatte er ja geschrieben:

      „Ich hatte geglaubt, mein Judentum christianisiert zu haben. In Wahrheit hatte ich umgekehrt das Christentum judaisiert. Ich hatte das Jahr 313 für den Beginn des Abfalls vom wahren Christentum gehalten, weil – es für das Christentum den entgegengesetzten Weg durch die Welt eröffnet, den das Jahr 70 für das Judentum eröffnet. Ich hatte der Kirche ihren Herrscherstab verargt,weil ich sah, dass die Synagoge einen geknickten Stab hält. Du warst Zeuge, wie ich von dieser Erkenntnis aus mir die Welt neu aufzubauen begann. In dieser Welt – und ein auf dieses Drinnen unbezogenes Draußen ließ ich ja nicht mehr gelten (und lasse es auch jetzt nicht gelten) – in dieser Welt also schien für das Judentum kein Platz zu sein. Indem ich daraus die Konsequenz zog, machte ich gleichzeitig einen persönlichen Vorbehalt…; ich erklärte, nur als Jude Christ werden zu können.“[26]

      Bereits in diesem frühen Brief nimmt Rosenzweig in aller Selbstverständlichkeit das alte Lieblingsargument aller Ideologien, zu dem auch christliches Selbstverständnis immer wieder gern greift, denen, die es verwenden, nicht nur nicht ab, sondern verkehrt es in sein Gegenteil: Jenes Argument, nach dem das Christentum „in seiner Idee“ doch ganz anders sei als in seiner von Verirrungen heimgesuchten Geschichte. Rosenzweig nimmt das Christentum wie das Judentum (wie übrigens auch den Islam, nur dass er bei diesem wie bei der eigenen Tradition nach einer inneren Umkehrung der Begriffe verlangt) ungerührt bei seiner Geschichte und erklärt ihm immer wieder gerade in dieser Geste seine Anerkennung und sogar seine Liebe. Darin ist er noch ganz und gar konsequenter Schüler Cohens, der im Begriff des Menschen und seines sittlichen Selbst fest verankert, was dieser tut, und einen von den Taten unabhängigen Charakter nicht im entferntesten anerkennen will. Cohens Position soll in den Worten von Benzion Kellermann, einem anderen, in einem viel reduzierteren Sinn als Schüler Cohens zu bezeichnenden Gelehrten, noch einmal unterstrichen werden. In Polemik gegen Ernst Troeltschs Auffassung vom Monotheismus der Propheten schreibt Kellermann: „Es gibt […] weder eine Gruppe, noch eine einheitlich geschlossene Persönlichkeit, aus denen die vielen sittlichen Handlungen automatisch hervorquellen. Vielmehr setzt der Charakter die sittliche Tat voraus und hat nur soweit Realitätswert als die sittliche Handlung reicht. Mit ihrem Erlöschen verschwindet auch unmittelbar die Persönlichkeit: Nur in der ständigen Neuerzeugung sittlicher Taten kommt der Charakter rückwirkend zur Entdeckung.“ [27]

      Rosenzweig allerdings fasst die Sache hier wesentlich lapidarer zu einem neuen Prinzip seines neuen, zu einer Grammatik der Begriffe mobilisierten Denkens zusammen, und sie wird dabei zugleich viel leiblicher und lebendiger, wie im oben (Kap. 7.IV) schon zitierten Stück: „Es ist die erste Pflicht der theoretischen Nächstenliebe […], dass wir bei jeder Meinung, die wir über einen andern bilden, niemals vergessen uns zu fragen: kann der andre, wenn er so ist, wie ich ihn hier abmale, denn noch –leben? Denn das will und soll er doch – ‚wie ich’.“ Geradezu atemberaubend ist die Fortsetzung dieser bekannten Stelle. Von dem, was wir üblicherweise der Weiterentwicklung von Nietzsches Einsichten zur Psychoanalyse und über sie hinaus gutzuschreiben pflegen, zweigt sie ein Eigenes ab, das uns heute im Wortsinn „eigensinnig“ anschaut. Verblüffend ist die religionspolitische Aktualität seiner „Verwendung“ oder „Entwendung“ oder „Vorwegnahme“ der in ihrer Ungescheutheit maßlos wirkenden Übertragung von psychoanalytisch mittlerweile mehr als eingeführten Grundannahmen vom menschlichen Individuum auf die „Leiber“ religiöser Gemeinschaften. Die Verblüffung und das ihr folgende Gefühle der „Unangemessenheit“ lassen leicht übersehen, dass zumindest die christliche Religion in ihren Grundtexten eben dazu einlädt: „[…] Will man einen Geist verstehen, so darf man durchaus nicht von dem zugehörigen Leib abstrahieren. So wenig der Leib eine Verfallserscheinung des Geistes ist, so wenig ist das, was im geschichtlichen Bild einer Gemeinschaft zu ihren klassischen Urkunden nicht stimmt, ohne weiteres als Verfall, als ‚Amalgam’ zu beurteilen; vielleicht ist es ganz im Gegenteil die notwendige und in einem gewissen Sinn sogar schon ursprünglich ‚gewollte’ Korrektur an jenen Ursprüngen.“[28]

      Die Geschichte – dieses „tolpatschige Kind“, wie Wolfgang Koeppen sie verstörend nennt – hat hier später einen Unterschied gemacht, der uns bis heute beschäftigt.[29] Auf den größten historischen Exzess der Vernichtung der Juden durch überwiegend christliche bzw. nichtmehrchristliche Europäer, den Rosenzweig nicht mehr erleben musste, antwortete der Dichter Soma Morgenstern trotzig, in einer Sprache, die nach einer sehr modernen Erzählweise zu einem mythischen Ton zurückkehrt, der zu allen Zeiten Menschen in schwerer Erschütterung nahelag. Rosenzweig hingegen schrieb seinen Text über das apologetische Denken vor der historischen Katastrophe und in einer Zeit, in der ihm auffallen konnte, dass vom Sprechen aus dem Vollgefühl des richtenden letzten Erkennens mehr Gefahr als Trost ausgehen würde. Zwar argumentierte er in seinem ganzen Werk gegen das Vage und allzu Relativistische – dennoch war er wahrscheinlich da am meisten Philosoph, wo er mit einem „Vielleicht“ die petrifizierte Welt, in der alles schon gesagt und festgelegt wäre, wieder öffnete.[30] Denn auch das ist ein Nebensinn seines Offenbarungsbegriffs: dass er einer durch allzu sicher geglaubte Definitionen verschlossenen philosophischen Weltordnung den Weg ins Offene wies. Darum möchte ich jenen schroffen Satz am Ende von Rosenzweigs Essay über apologetisches Denken durch den Hinweis auf die „Lebensmitte“ desselben Textes modifizieren und wie folgt lesen:

      Wir sprechen als je bestimmte sterbliche Wesen und aus einem – sterblichen – Leib heraus. Sterblich ist dabei nicht „nur“ der individuelle physische Leib jedes einzelnen Sprechenden jeder beliebigen Religionsform oder sonstigen „Identität“. Sterblich sind auch die kollektiven und geistigen Gebilde, die uns unsere Sprachen geben – und deren Sprachen wir unsere lebendigen „Sprechwerkzeuge“ geben, wann immer wir etwas sagen. Rosenzweig hat immer wieder betont, dass der einzelne sterbliche Mensch in seinem „ganz Wahren“ wahrer sei als jedes kollektive Gebilde, in dessen Namen er lebt oder stirbt oder tötet oder getötet wird. Und er hat zugleich immer wieder die Juden, Christen, Philosophen, die Menschen mit eigener Geschichte, mit Eigennamen und Adressen, in ihrem Vorletzten gegen das vermeintlich Letzte ins Recht setzen wollen. Dabei war dem Dialektiker klar, dass jeder einzelne Mensch sich um seiner Erhaltung im Vorletzten willen auf letztes Erkennen beziehen können muss. Freilich nicht als auf etwas, das er „hätte“ – wie dies die Ansicht totalitärer Anhänger totalitärer Ideologien zu sein pflegt – aber doch als auf etwas, das er nicht nicht als äußersten Bezugspunkt seiner Gedanken denken kann. In diesem Sinne hat der Schwerkranke mit dieser Verteidigungsschrift eine Antwort aus dem Jenseits geschickt, in das ihn ein naseweiser Freund und Cousin gern schon zu Lebzeiten verbannen wollte. Er selbst muss in einem oftmals ziemlich tragischen Selbstbewusstsein nicht nur seine letzten Jahre verbracht haben, in denen er immer vehementer fürs Diesseits und um das Diesseits zu gewinnen schrieb, obgleich ihm klar war, dass seine Texte erst nach seinem Tod größere Wirkung entfalten würden.

      Dass er bei allem zu großartiger Heiterkeit und Ironie fähig war, nimmt dem Leiden nichts von seiner Wucht und seiner ursprünglich bleibenden Lebensbejahung nichts von seiner Stärke.[31]

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