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Jenseits urteilen – in das er dann aber, wo es konkret jenseitig und unirdisch werden soll, doch lieber den schickt, dem er sein jenseitiges Urteil ausrichtet. Er maßt sich verblendet an, über letztes Erkennen zu verfügen, und meint zugleich, sich selbst schlau vor seinen Konsequenzen drücken zu können. Der größere Geist hingegen fürchtet aufrichtig die Endgültigkeit letzten Erkennens und Richtens – und bringt deswegen den Mut auf, das vorletzte Erkennen gegen das letzte zu verteidigen. Nicht der verschmockte Kleingeist, der die „Ewigkeit“ gegen die „Freuden des Irdischen“ in Stellung bringt und diese als Opfer und Preis für den Ewigkeitswert der geistigen Arbeit darzubringen verlangt, hat hier die „höhere“ Stufe auf einer von diesen unsäglichen Motivationsleitern, die eine ideologisierte „Entwicklungspsychologie“ sich auch heute noch munter leistet, erklommen. Reifer und weiser und „größer“ ist vielmehr der Geist, der es nicht nötig hat, die irdischen Freuden zu erniedrigen, um die Freuden darüber hinausweisender Erkenntnis würdigen zu können.[14]

      Der Philosophierende, der sich mit einer idealistischen Philosophie in dem Sinne glaubt identifizieren zu können, dass diese ihm nunmehr das Ende aller irdischen Dinge diktiere, macht etwas, worüber sich schon Kant in seiner Schrift vom Ende aller Dinge eher belustigte. Wenn Rosenzweig diesen Text im Sinn gehabt haben sollte, dann allenfalls in der Weise, dass er das Stillstellende eines solchen letzten Erkennens gerade aufzubrechen versucht. Zugleich entlarvt er das Tändeln mit irgendwelchen vermeintlich „wesensmäßig erfassbaren“ ewigen Wahrheiten als das unernste Spiel, das es im Angesicht der Sterblichkeit der denkenden Menschen immer nur sein kann. Im Kontext der Apologetik heißt das: Rosenzweig treibt seinen – freilich sehr liebevollen – Spott mit der religiösen Apologetik, die ihr eigenes, notwendiges Scheitern noch nicht ganz verstanden hat, und zeigt ihr, was sie bestenfalls sein kann. Indem er formuliert, wie er sich eine gute Verteidigung vorstellt, holt er ein, was er im oben zitierten Satz vom „Innersten“ moniert hatte: „Aber trotzdem kann Verteidigen eine der edelsten menschlichen Beschäftigungen sein. Nämlich wenn es bis auf den Grund der Dinge und der Seelen geht und, auf die kleinen Mittel der Lüge verzichtend, mit der Wahrheit selbst, der ganzen Wahrheit nämlich, ent-schuldigt. In diesem großen Sinn kann auch literarische Apologetik verteidigen. Sie würde dann nichts beschönigen, noch weniger einen angreifbaren Punkt umgehen, sondern gerade die bedrohtesten Punkte zur Basis der Verteidigung machen“.[15]

      Vom Grund der Dinge und der Seelen aus sollen diese verteidigt werden. Nämlich gegen ein letztes Erkenntnisurteil, gegen das, was Hermann Cohen in seinen Ausführungen zum Begriff des reinen Willens in der Ethik einen „fertigen Begriff“ und also ein „Petrefakt“ nennt.[16] Es ist im Grunde dieser Gedanke, der Gedanke einer Verlebendigung des Denkens noch in der Reflexion der eigenen Begriffe, den Rosenzweig übernimmt und im Sprachdenken zu einer eigenen „Grammatik“ weiter entwickelt. Fraglos zu den erstaunlichsten Passagen des Stern gehört eine, in der die für Rosenzweig philosophisch wie persönlich so typische Verbindung aus philosophischer Klarheit, methodischem Urteil und erzählerischer Personhaftigkeit von Schreiber und Geschriebenem an der Konstruktion einer Grammatik der Erkenntnis deutlich wird. Das einzelne Ding ist in der bei Rosenzweig (im ersten Buch des zweiten Teils) wie folgt beschriebenen Operation hervorgetreten: „Erst der unbestimmte Artikel gibt auf dies Was die Antwort, dass es sich um ‚einen’ Vertreter der und der Gattung handle, und erst der bestimmte Artikel drückt unter diesen großen Prozess den Stempel und bezeichnet ihn als vollzogen, ‚das’ Ding als erkannt.“[17] Ganz im Geiste von Cohens Logik und Ethik ist das Ding damit für Rosenzweig aber noch keineswegs ein wirkliches Individuum. Rosenzweig lässt es marschieren wie einen Herrn K.: "Um es, trotz des auf seinem Herweg beobachteten, höchst verdächtigen Vorsprechens bei der Gattung, dennoch zu werden, muss es sich als Glied einer Mehrheit legitimieren. Erst die Vielheit gibt allen ihren Gliedern das Recht, sich als Individuen, als Einzelheiten zu fühlen; sind sie es nicht an sich, wie das im Eigennamen bezeichnete singulare Individuum, so doch gegenüber der Vielheit“.[18] Schon bei Kant erweckte das „Ding an sich“ eine Ahnung von einem ungelösten Problem. Bei Rosenzweig ist der Grund für Kants Unbehagen wieder das Faktum des „Übrigbleibens“: Im Sinne dessen, was Rosenzweig den wahren Glauben nennt, haben Aufklärung und Idealismus eine Zerstörung der „Tatsächlichkeit Gottes und d[er] ihm gleichgültigen des Selbst“ erwirkt und um ihretwillen die Verwüstung der Tatsächlichkeit der Welt in Kauf genommen. Übrig blieb einzig das „Ding an sich“[19], und eben durch sein Übrigbleiben erweckte es in Kant immerhin die „Ahnung einer gemeinsamen Wurzel für dieses und den menschlichen Charakter“[20]. Diese Ähnlichkeit, der Kant, Idealist, der er nach Rosenzweig war, nicht mehr weiter nachgehen konnte, beansprucht Rosenzweig nun zur Erkenntnis zu entwickeln. Wie der menschliche Charakter hat das Ding der Grammatik, der Rosenzweigs Sprachdenken folgt, (und anders als das dazu nicht fähige Ding der Logik) auch als bestimmtes „kein eigenes Wesen, es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen“.[21]

      Man könnte sagen: In Rosenzweigs Philosophie findet eine Bewegung weg von der Verdinglichung von Personen hin zur Personifizierung des Begriffs vom Ding statt. Der Begriff des Dings selbst wird durch die Grammatik in eine fast personale Bewegung gebracht. In diesem Sinne sind nun auch die geistigen Gebilde, Judentum und Christentum, aber ebenso Heidentum und Islam, bei ihm „Dinge“, die zwar „auf eigenen Füßen einem etwaigen Schöpfer gegenüber jetzt dastehen“. Gerade deswegen sind sie freilich „eine noch in der Form des Objektes verhüllte Weissagung des Subjekts“[22] – und dies ganz besonders dann, wenn sie Objekte einer Verteidigung sind. Wer eines von ihnen verteidigt, schiebt mit den Mitteln der vorletzten Erkenntnis das Gerichtsurteil der letzten Erkenntnis auf. Und so kann Rosenzweig dann auch die Größen Judentum und Christentum wie Personen behandeln. Diese müssen notfalls noch gegen ihre eigenen Aussagen über sich selbst verteidigt werden.

      Dann und wann zitiert Rosenzweig ungenau – trifft dabei aber so zielsicher in einen Fall, dass die nachfolgenden Recherchen der Leserin immer belohnt werden. So auch im oben schon vorgestellten zweiten Teil des in vier Absätze gegliederten Textes „Apologetisches Denken“. Da schreibt er: „Der bekannte Ausspruch eines, der es wissen musste: ‚gebt mir von jemandem zwei geschriebene Worte, und ich bringe ihn an den Galgen’ – hat auch für geistige Bewegungen Gültigkeit“. Gemeint ist der berühmt-berüchtigte Ausspruch des Staatsrats Laubardemont aus der späten Blüte der Inquisition im 17. Jahrhundert: „Donnez-moi deux lignes de l'écriture d'un homme et je le ferai pendre“. Die Reduktion von zwei Zeilen auf zwei Worte ist für Rosenzweig natürlich kein Problem, dreht sich doch im apologetischen Projekt ohnehin stets alles um die richtige Reduktion – aber wie er dann hier selbst alles weiter dreht, verdient größere Beachtung.

      Zunächst einmal misstraut er dem gängigen, in diesem Falle durch den Mund Gustav Landauers herbeizitierten Gemeinplatz, nach dem apologetische Schriften stets dazu neigten, „das Eigene in seiner Idealität aufzufassen und das Fremde in der ganzen Breite seiner geschichtlichen und geschichtlich befleckten Wirklichkeit“. Das Gegenteil hält Rosenzweig für wahrscheinlicher: Da man das Eigene in seiner vollen Wirklichkeitsbreite kenne und nehme, das Fremde aber gerade nur nach Selbstaussagen „zur Kenntnis nehme“ (Rosenzweig selbst fasst dieses Wort mit den spitzen Fingern seiner Anführungsstrichlein an), habe man gerade vom Fremden meist eine zu ideale Auffassung – eine Bemerkung, für die man noch heute in vielen wohlmeinenden Idealisierungen des je Fremden eine Fülle von Beispielen zur Illustration heranziehen könnte. Was ich im siebten Kapitel als Eisenmengerei bezeichnet habe – die Suche nach anstößigen Texten in den Quellen der anderen – erfährt bei Rosenzweig eine signifikante Umdeutung, die ich hier wiederhole: Es ist dies ein Zitat, das man so manchem einfältigen Jäger nach antisemitischen oder antideutschen oder islamophoben oder sonst inkorrekten Texten gern ans Herz legen würde: „Was Eisenmenger und seine Vorgänger an ‚feurigen Satansgeschossen’ aus dem Arsenal des Talmud beibringen, könnte einen wahrhaftig eher an das Buch heranlocken als manche neuere Sammlung vorsichtig abgefilterter 'Lichtstrahlen'“.[23] Rosenzweig hat die Freundlichkeit, auch in dieser Frage die Allgemeinheit zu vollziehen:

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