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wurde, insgesamt sehr viel weniger apodiktisch, zunächst sogar ganz und gar „angelehnt“ daher: wie das bei Kommentaren eben so ist.[10]

      In seinen kleineren Schriften hat Franz Rosenzweig besonders in den Jahren seiner Krankheit die Kunst des Kommentierens zu einer bei jeder Neulektüre wieder begeisternden Größe entwickelt. Gerade in seinen Rezensionen umrahmt er eigene apodiktische Sätze so kunstvoll mit spielerischer Leichtigkeit, dass alle seine kommentierenden Texten in ihrer eigenwilligen Stärke den äußerlich meist klein wirkenden Anlass weit überstrahlen. Im Schlussabsatz von "Apologetisches Denken" fasst Rosenzweig seine Doppelrezension (darum handelt es sich eigentlich) von Max Brods Heidentum, Christentum, Judentum von 1921 und Leo Baecks Das Wesen des Judentums, 2. Aufl. von 1921, noch einmal zusammen. Er bringt das Verhältnis von äußerem Anlass und innerster Wahrhaftigkeit der Antwort auf den Begriff – und schafft damit etwas wie ein Manifest der philosophischen Notwendigkeit der inneren Einheit und wechselseitigen Verwiesenheit der verschiedenen Menschen. Dabei vergisst er keinen Augenblick, dass er hier über zwei konkrete Bücher schreibt, die in seinen allgemeinen Überlegungen nicht verschwinden sollen, so wenig, wie die einzelnen Menschen, für die er philosophierend „die Allgemeinheit vollzieht“, wie Cohen das ausgedrückt haben würde:

      „Sie sind beide Antworten auf Angriffe. Vom Angriff her haben sie sich ihr Thema bestimmen lassen. Das Thema ist das eigene Wesen. Man könnte denken, dass es nun zu höchster Bewusstheit käme. Aber eben der apologetische Charakter verhindert das. Indem der Denker in sein Innerstes hineinschaut, sieht er zwar dies Innerste, aber deshalb noch lange nicht – sich selbst. Denn er selbst ist nicht sein Innerstes, sondern ebenso sehr auch sein Äußerstes und vor allem das Band, das sein Innerstes an sein Äußerstes bindet, die Straße, auf der beide wechselseitig miteinander verkehren. Er aber setzt sein Innerstes ohne weiteres mit seinem Selbst gleich und ahnt nicht, dass sein Innerstes, je mehr es innerst ist, jedes Menschen Innerstes ist. So spricht er, obwohl er sich selbst meint, vom Menschen, von allen. Und so bleibt sein Selbst, die Bindung der Elemente der Menschen zu dem Gebinde, das er selber ist, ihm ein Geheimnis. Diese Schranke überschreitet apologetisches Denken nicht. Die letzte Kraft des Erkennens ist ihm versagt, wie das letzte Leiden des Erkennens ihm erspart bleibt. Denn letztes Erkennen verteidigt nicht mehr, letztes Erkennen richtet.“[11]

      Es möchte scheinen, als wären diese Sätze am Ende doch noch eine Abfertigung der Apologetik, die Rosenzweig zuvor mit brillant verdichteten Formulierungen zu verteidigen unternahm. Und doch lässt ein Blick auf den Schlusssatz des zweiten Teils des vortrefflich gegliederten Ganzen ganz das Gegenteil vermuten: Hier schreibt er über Brods Buch, dass es „gerade da, wo es in die Tiefe steigt, einen Herzpunkt erreicht, an den die Titelfrage mit ihren Gegensätzen schon nicht mehr hinfolgen kann und wo das, was er im Namen seines, unseres Judentums spricht, nur noch im letzten Sinne wahr ist, in keinem vorletzten mehr.“[12]

      Genial an diesem Widerspruch ist, dass er die Leserschaft wirklich in ein Paradox verwickelt, das nur der sehr oberflächlichen Lektüre entgehen kann – also derjenigen Lektüre, die stets übersieht, wo mit dem Gesagten ein Ungesagtes regiert, welches, ob man es nun „Subtext“ nennt oder ganz einfach nach dem bekannten Verfahren einer im weiteren Sinne dialektische Lektüre im Aufspüren und Aussprechen ungesagter Voraussetzungen im Gesagten erkennt, einfach zum Text gehört.

      Den Schlusssätzen von Rosenzweig könnten professionelle Schreiber und Leser leicht etwas zu viel Bedeutung beimessen: Wir halten es oft für ausgemacht, dass ein Autor am Ende seines Textes zu dem Schluss kommt, von dem aus wir alles früher Gesagte verstehen können und müssen. Meist schreiben wir unsere Schlussabsätze in einer entsprechenden Annahme. Aber gehen wir wirklich immer so stringent von A über B nach C? Rosenzweigs Stern hat sein „Herzbuch“ bekanntermaßen nach eigener Auskunft in der Mitte – und ich könnte etliche Texte nennen, in denen die entscheidende Botschaft im „Innersten“ steht. Mit beiden Annahmen, der, dass das Entscheidende im Innersten, also in der Mitte ist, ebenso wie mit der Annahme, dass das Ergebnis am Ende präsentiert wird und von da aus über die Geltung aller anderen Passagen entscheidet, treibt Rosenzweig hier ein raffiniertes Spiel. An der zitierten Stelle aus dem zweiten Kapitel ist immerhin gesagt, dass im Innersten die letzte Wahrheit enthalten sei – aber dann ist das im Namen des Judentums Gesprochene „nur noch im letzten Sinne wahr, in keinem vorletzten mehr“. Es ist also nicht mehr jüdisch, sondern allgemein? So dass also der eigentlich wahre Sinn, auf den es im Schreiben über das Judentum anzukommen hätte, gerade der vorletzte wäre? Dem scheint wiederum der Schluss das Ganzen zu widersprechen, in dem über das apologetische Denken überhaupt gesagt wird, dass ihm das letzte Erkennen versagt bleibe. Wie ist das nun wieder zu erklären?

      Zunächst möchte ich in meiner eigenen Auslegung das Changieren zwischen letzter Erkenntnis und vorletzter Wahrheit, zwischen Entscheidung-im-Schlusssatz und Leben-im-„Herzsatz“ offen, lebendig und in Geltung. Das muss mich keineswegs daran hindern, eine Hypothese zum Verständnis dieser Konstruktion zu formulieren: Rosenzweig, der sich hier oberflächlich als Kenner des letzten Erkennens aufspielt, weiß nach allem, was wir von ihm kennen, ganz genau, dass er das aus einem philosophisch, aus einem gerade durch seine eigene Philosophie völlig ungedeckten Raum heraus tut. Mit der Behauptung, letztes Erkennen zu kennen, setzt sich Rosenzweig in einen klaren Gegensatz zu seiner Philosophie. Niemand weiß das besser als er. Und er hat das, was als letztes Erkennen galt, gefürchtet wie einen bösen Geist – aber welcher philosophische Name würde diesem Geist passen? Der des Idealismus, der des Christentums, der der Autorität überhaupt? Vielleicht hat er ihn selbst als etwas empfunden, dessen Konturen man ahnt, das man aber nicht in den Griff nehmen kann, ohne daran zugrunde zu gehen. Üblicherweise bekämpfte er die Anmaßungen derer, die ihn unter Berufung auf ihre je eigenen Autoritäten daran hindern wollten, zu bleiben, was er war, mit Philosophie. Wo er nicht kämpfte, fürchtete er die Macht derer, die ihn erschüttern wollten, offenbar weit mehr, als die, von denen er sich gern erschüttern ließ. Außer der für Rosenzweig zeitlebens als Gegner präsenten Gestalt der idealistischen Philosophie waren im konkreten vor allem die seine Gegner, die sich als Christen, anders als er, und anders als sein geliebter Hermann Cohen, ohne skeptischen Vorbehalt und dialektische Brechungen wirklich autorisiert fühlten, von einem durch sie selbst irrtümlich und anmaßlich für „letztes Erkennen“ gehaltenen „Vorletzten“ aus über ihn, den Liebhaber des Vorletzten und Fürchter des Letzten, zu richten. Die Absolutheit, die Rosenzweig, da er sie bewusst entwendet hat, immer spielerisch anzieht wie ein schlecht sitzendes Kleid, sitzt denen, die sie „ohne innere Umkehrung“ eigentlich aus der hebräischen, also seiner eigenen Tradition, genommen haben, an wie eine mit der Haut verwachsene Rüstung. Wer bewusst eine richtende Sprache spricht oder doch auf sie referiert, hat immer auch eine Verhandlung im Kopf: mit Anklage, Verteidigung und Richter. Wer sich hingegen qua Geburt oder kraft seiner Religion zum Weltenrichter berufen fühlt und nie in das Säurebad des Zweifels, des existentiellen Angezweifeltseins durch andere, geworfen wurde (oder entsprechende Erfahrungen erfolgreich verdrängt), spricht oft richtend, ohne es auch nur zu bemerken.

      Ein Beispiel für solch unbedachtes, symbolisch schon einmal mordendes Richten zitiert Heinzjörg Görtz in seinem Beitrag zur Rosenzweig-Konferenz in Kassel (2004) aus einem unpublizierten Brief von Rudolf Ehrenberg: „Du bist eben wirklich schon so jenseits, dass Du nicht erwarten kannst, dass Dir ‚aus dieser Erden Freuden noch quellen können’. Aber Du würdest ja auch nicht tauschen, Du bist ‚Mund’ gewesen und hast über die Jahrhunderte hin gesprochen, […] ja, es ist eben Prophetie“.[13] Damit lässt Ehrenberg sich mit der dem Mehrheitschristentum seiner Zeit völlig selbstverständlichen Geste hören, die das Judentum immer schon für klinisch tot erklärt – und wendet sie konkret auf den nicht zum Christentum konvertierten Cousin. Selbst zum Christentum konvertiert, scheint Ehrenberg den Lohn für seinen Übertritt einzutreiben und das Selbstgefühl der Zugehörigkeit zur Mehrheitsreligion ähnlich voll auszukosten wie Rosenstock an anderen, bereits zitierten Stellen. Das ist mehr als „deutscher Idealismus“, das ist eine Missionswut, gegen die Rosenzweig mit wachsender Verzweiflung anschrieb. Und seine Verzweiflung wird immer dann besonders schwer gewesen sein, wenn es den Gegnern wie hier gelang, ihre missgünstigen

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