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nun meine Halsschleife aufzubinden. Ich mußte öfters ausruhen, ehe ich damit fertig werden konnte; endlich aber war es gelungen. Am einen Ende der Halsbinde befestigte ich nun die Schnalle, und das andere Ende band ich, der größeren Sicherheit wegen, um mein Handgelenk. Indem ich nun mit ungeheurer Muskelkraft meinen Körper nach oben schnellte, gelang es mir beim allerersten Versuch, die Schnalle gegen die Gondel zu schleudern, wo sie sich, wie ich erwartet hatte, in den Rand des Weidenkorbgeflechts einhakte.

      Mein Körper neigte sich nun seitwärts zur Gondel in einem Winkel von fünfundvierzig Grad; man darf aber nicht annehmen, daß ich mich darum nur fünfundvierzig Grad unter der Senkrechten befunden hätte. Weit entfernt davon, lag ich noch immer fast wagerecht, in gleicher Linie mit der Ebene des Horizonts; denn meine eigene veränderte Lage hatte den Boden der Gondel beträchtlich von mir fortgestemmt, was naturgemäß eine außerordentliche Gefahr bildete. Man muß jedoch bedenken, daß – wäre ich beim Herausstürzen so gefallen, daß mein Gesicht nach innen geblickt hätte statt nach außen, wie es der Fall war, oder hätte zweitens das Seil, an dem ich hing, über dem oberen Rand gelegen, statt aus einer Lücke am Boden herauszukommen – ich meine, man kann leicht begreifen, daß es mir in jedem dieser angenommenen Fälle nicht einmal möglich gewesen wäre, so viel zu erreichen, als mir bis jetzt gelungen war, und die hier gegebenen Enthüllungen würden für die Nachwelt verloren gewesen sein. Ich hatte daher allen Grund, dankbar zu sein, war aber tatsächlich zu benommen, um überhaupt etwas zu empfinden. Vielleicht eine Viertelstunde verbrachte ich in der neuen, ungewöhnlichen Lage, und ohne die geringste weitere Anstrengung zu machen, gab ich mich einer geradezu idiotischen Zufriedenheit hin. Dieses Gefühl wich dann aber dem einer grauenhaften Bestürzung und dem Bewußtsein meiner völligen Hilflosigkeit. Ja, das Blut, das sich bislang in den Gefäßen von Kopf und Hals gestaut und meine Lebensgeister in Benommenheit versenkt hatte, begann nun wieder in seine natürlichen Kanäle zurückzufluten, und die Deutlichkeit, mit der ich mir nun meiner Gefahr bewußt wurde, führte nur dazu, mir die Selbstbeherrschung und den jetzt dringend erforderlichen Mut gänzlich zu rauben. Diese Schwäche dauerte aber zu meinem Glück nicht lange. Zur rechten Zeit kam mir die Verzweiflung zu Hilfe, und mit wildem Schreien und Zappeln brachte ich mich ruckweise in die Höhe, bis ich mit verzweifeltem Griff den langerstrebten Korbrand erfassen und mich hinüberwinden konnte, um kopfüber und an allen Gliedern bebend in die Gondel zu stürzen.

      Erst geraume Zeit später erholte ich mich so weit, um dem Ballon die gebotene Sorgfalt zuwenden zu können. Ich prüfte ihn dann aber aufmerksam und fand ihn zu meiner großen Beruhigung unbeschädigt. Meine Instrumente waren alle in bester Ordnung, und glücklicherweise hatte ich weder Ballast noch Proviant verloren. Es war ja auch alles so sorgsam von mir befestigt gewesen, daß Verluste kaum möglich werden konnten. Ich sah nach der Uhr und stellte fest, daß es sechs Uhr war. Ich stieg noch immer mit großer Schnelligkeit, und das Barometer verzeichnete nun eine Höhe von drei und dreiviertel Meilen. Genau unter mir auf dem Ozean lag ein kleiner, dunkler Gegenstand von ziemlich länglicher Form und von der Größe eines Dominosteines und einem solchen überhaupt sehr ähnlich. Ich richtete das Teleskop darauf und erkannte nun deutlich, daß es ein britisches, sorgsam aufgeholtes Kriegsschiff war, das in westsüdwestlicher Richtung mächtig die Wogen stampfte. Außer diesem Schiff sah ich nichts als Meer und Himmel und die Sonne, die schon lange aufgegangen war.

      Es ist nun hohe Zeit, daß ich Euren Exzellenzen den Zweck meiner Reise auseinandersetze. Eure Exzellenzen werden sich erinnern, daß meine verzweifelte Lage in Rotterdam mich schließlich zu dem Entschluß getrieben hatte, Selbstmord zu begehen. Es war jedoch nicht das Leben selbst, das mich anekelte, sondern die zufällige Misere, unter der ich persönlich so sehr leiden mußte. In dieser Seelenstimmung, leben wollend und doch vom Leben zermürbt, eröffnete die Abhandlung aus der Bücherbude, unterstützt von der so gelegen kommenden Entdeckung meines Vetters in Nantes, meiner Einbildungskraft ein Ziel. Ich faßte also einen endgültigen Entschluß. Ich beschloß, zu verschwinden, doch am Leben zu bleiben – die Welt zu verlassen, aber nicht das Dasein – kurz, um nicht in Rätseln zu sprechen, ich beschloß, komme was wolle, wenn möglich einen Weg zum Mond zu erzwingen. Damit man mich nun nicht für verrückter hält, als ich tatsächlich bin, will ich, so gut ich kann, die Gedanken darlegen, die mich zu der Überzeugung führten, daß ein derartiges Unternehmen, wenn es zweifellos auch schwierig und gefahrvoll war, für einen kühnen Geist dennoch nicht außer dem Bereich des Möglichen lag.

      Zunächst war die genaue Entfernung des Mondes von der Erde in Betracht zu ziehen. Nun beträgt der mittlere oder durchschnittliche Abstand zwischen den Mittelpunkten der beiden Planeten 59,9643 äquatoriale Erdradien oder nur ungefähr 237 000 englische Meilen. Ich sage, die mittlere, durchschnittliche Entfernung – man muß aber beachten, daß sie, da die Mondbahn eine Ellipse ist, deren Exzentrizität nicht weniger als 0,05484 der großen Halbachse der Ellipse selbst beträgt, und da das Erdzentrum in ihrem Brennpunkt liegt, wesentlich vermindert werden mußte, wenn es mir irgendwie gelingen sollte, den Mond während seiner Erdnähe zu erreichen. Ganz abgesehen aber von dieser Möglichkeit war es auf alle Fälle gewiß, daß ich von den 237 000 Meilen den Radius der Erde, nämlich 4000, und den Radius des Mondes, nämlich 1080, zusammen 5080 Meilen, abziehen durfte, so daß die zurückzulegende Strecke nur noch durchschnittlich 231 920 Meilen betrug. Nun war das, wie ich meinte, keine unüberwindliche Entfernung. Landreisen sind wiederholt mit einer Geschwindigkeit von sechzig Meilen in der Stunde ausgeführt worden, und gewiß kann man eine noch viel größre Schnelligkeit entfalten. Doch selbst bei dieser Berechnung würde ich nicht mehr als einhunderteinundsechzig Tage brauchen, um die Mondoberfläche zu erreichen. Mancherlei Umstände aber ließen mich glauben, daß meine Durchschnittsleistung voraussichtlich sechzig Meilen in der Stunde bei weitem übersteigen würde, und da diese Betrachtungen nicht verfehlten, tiefen Eindruck auf mich zu machen, so will ich später ausführlicher darauf zurückkommen.

      Ein anderer Punkt war von weit größrer Bedeutung. Aus den Angaben des Barometers ersehen wir, daß man in einer Höhe von tausend Fuß über der Erde ungefähr ein Dreißigstel der gesamten atmosphärischen Luft unter sich hat, bei zehntausendsechshundert Fuß nahezu ein Drittel, und bei achtzehntausend, was etwa der Höhe des Cotopaxi entspricht, schwebt man über der Hälfte aller Luft oder jedenfalls über der Hälfte des wägbaren Luftkörpers, der die Erdkugel umspannt. Man hat ferner berechnet, daß in einer Höhe, die den hundertsten Teil des Erddurchmessers, also 80 Meilen, nicht übersteigt, die Verdünnung der Luft so beträchtlich ist, daß animalisches Leben darin nicht mehr bestehen könnte und daß hier selbst unsre feinsten Apparate das Vorhandensein atmosphärischer Luft überhaupt nicht mehr nachzuweisen vermöchten. Es war mir aber klar, daß diese Berechnungen nur auf unsern Experimentalkenntnissen der Lufteigenschaften beruhen und auf den mechanischen Gesetzen, welche die Ausdehnung und Verdichtung der Luft in unmittelbarer Nähe der Erde selbst betreffen; und gleichzeitig wird als selbstverständlich angenommen, daß das animalische Leben in einer gewissen, tatsächlich unerreichbaren Ferne vom Erdboden einer Anpassung unfähig sei. Nun müssen natürlich alle derartigen Schlußfolgerungen, die sich auf denselben Grundlagen aufbauen, analog verlaufen. Die größte Höhe, die Menschen je erreicht haben, betrug fünfundzwanzigtausend Fuß, ein Erfolg der aeronautischen Expedition der Herren Gay-Lussac und Biot. Das ist nur eine mäßige Höhe, selbst verglichen mit den in Betracht kommenden achtzig Meilen, und ich konnte den Gedanken nicht abweisen, daß hier dem Zweifel und der Spekulation ein weiter Spielraum gelassen war.

      Tatsächlich aber steht, wenn bei einem Aufstieg irgendeine gegebene Höhe erreicht ist, die überwundene Menge wägbarer Luft bei jedem weitren Steigen nicht im gleichen Verhältnis zu der vermehrten Höhenüberwindung (was aus dem vorher Gesagten leicht ersichtlich ist), sondern in einem beständig abnehmenden Verhältnis. Es ergibt sich also, daß wir, so hoch wir auch steigen mögen, wörtlich genommen zu keiner Grenzlinie kommen können, hinter der es keine Atmosphäre mehr gäbe. Sie muß vorhanden sein, schloß ich, wenn auch schließlich nur in unendlicher Verdünnung.

      Andrerseits war mir bewußt, daß es an Beweisen für das Vorhandensein einer wirklichen und endgültigen Grenze der Atmosphäre, hinter der es überhaupt keine Luft mehr gab, keineswegs fehlte. Ein Umstand aber, den alle, die für eine solche Grenze eintreten, außer acht gelassen haben, schien mir, wenn er auch keine positive Widerlegung ihrer Annahme ermöglicht, so doch eine Unterlage für eine Nachprüfung zu sein. Bei einem Vergleich

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