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zu den alten Gebräuchen zurückzukehren. Die Gefahren des Besänftigungs-Systems waren immer sehr große, und seine Vorteile sind entschieden überschätzt worden. Wenn je – so ist es gerade in diesem Hause reichlich zur Anwendung gekommen; wir haben alles getan, was vernunftgemäße Rücksichtnahme tun konnte. Es tut mir leid, daß Sie uns nicht schon früher einmal besucht haben, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Ich vermute aber, Sie kennen das Besänftigungs-System – seine praktische Anwendung?«

      »Nicht ganz. Was ich davon weiß, habe ich aus dritter, vierter Hand.«

      »Das System läßt sich also gemeinhin als eines bezeichnen, das den Patienten rücksichtsvoll behandelt. Wir widersprachen den Einbildungen der Irren nicht. Im Gegenteil: wir duldeten sie nicht nur, sondern unterstützten sie sogar, und wir haben auf diese Weise unsere erfolgreichsten Kuren zustande gebracht. Kein Argument wirkt so nachhaltig auf die schwache Vernunft des Irren, wie das Ad-absurdum-geführt-werden. Zum Beispiel hatten wir Leute, die sich für Hühner hielten. Die Kur bestand nun darin, dies als Tatsache zu nehmen, den Patienten, der diese Tatsache nicht genügend anerkannte, für dumm zu erklären und ihm eine Woche lang jede andere Nahrung als die den Hühnern angemessene zu verweigern. Auf diese Weise konnte ein wenig Korn und Sand Wunder vollbringen.«

      »Doch war diese Nachgiebigkeit alles?«

      »Keineswegs. Wir hielten viel auf harmlose Zerstreuungen, wie Musik, Tanz, gemeinsame gymnastische Übungen, Kartenspiel, Lektüre usw. Wir behandelten einen jeden auf irgendein physisches Leiden hin, und das Wort ›Irrsinn‹ wurde nie gebraucht. Ein Hauptpunkt bestand darin, daß man jeden Irren anhielt, das Tun der andern zu überwachen. Dies Vertrauen in das Verständnis und die Diskretion eines Wahnsinnigen ist es, womit man ihn ganz gewinnen kann. Auf diese Weise konnten wir das kostspielige Wächterpersonal beschränken.«

      »Und Sie hatten keinerlei Strafen?«

      »Keine.«

      »Und Sie haben die Patienten nie isoliert?«

      »Sehr selten. Hie und da, wenn es bei irgendeinem zu einer Krisis oder einem Wutanfall kam, sperrten wir ihn in eine abgelegene Zelle, damit er die andern nicht mitreiße, und hielten ihn dort so lange, bis wir ihn den andern wieder zuführen konnten. Mit eigentlichen Tobsüchtigen haben wir nämlich nicht zu tun; die werden gewöhnlich den staatlichen Irrenanstalten zugeführt.«

      »Und alles dies haben Sie nun geändert – und wie Sie meinen, zum Guten geändert?«

      »Ganz entschieden. Das frühere System hatte seine Nachteile, ja sogar Gefahren. Man hat es nun glücklicherweise in allen Maisons de Santé Frankreichs fallen lassen.«

      »Ich bin außerordentlich erstaunt über Ihre Mitteilung,« sagte ich, »da man mir versichert hat, daß es heutzutage im ganzen Lande keine andere Methode der Behandlung Geisteskranker gebe.«

      »Sie sind noch jung, mein Freund,« erwiderte mein Wirt, »Und die Zeit wird kommen, da Sie sich über das, was in der Welt vorgeht, ein eigenes Urteil bilden und das Gerede anderer nicht beachten werden. – Glauben Sie nichts von dem, was Sie hören, und nur die Hälfte von dem, was Sie sehen. Was unsere Irrenanstalten anlangt, so ist es klar, daß irgendein Unwissender Ihnen etwas vorgeredet hat. Ich werde mich aber freuen, Sie nach Tisch, wenn Sie sich genügend von Ihrem ermüdenden Ritt erholt haben werden, durch das Haus zu führen und Ihnen ein System zu weisen, das sowohl mir selbst als einem jeden, der es angewendet sah, als das bei weitem erfolgreichste erschienen ist.«

      »Ihr eigenes System?« fragte ich – »Ihre eigene Erfindung?«

      »Ich bin stolz,« erwiderte er, »Ihre Frage bejahen zu können – wenigstens in gewissem Maße.«

      In dieser Weise unterhielt ich mich mit Herrn Maillard ein bis zwei Stunden, während er mich in Hof und Garten herumführte.

      »Ich kann Ihnen gegenwärtig meine Patienten nicht zeigen«, sagte er. »Ein empfindliches Gemüt wird von solchem Anblick stets etwas erschüttert; und ich möchte Ihnen den Appetit vor Tisch nicht verderben. Lassen Sie uns zuerst speisen. Ich kann Ihnen Kalb à la Sainte Ménéhould mit Blumenkohl in Sauce velouté vorsetzen – dann ein Glas Clos Vougeot – das wird Ihre Nerven genügend stärken.«

      Um sechs Uhr rief man zu Tisch, und mein Gastgeber führte mich in einen langen Speisesaal, wo ich eine große Gesellschaft versammelt fand – etwa fünfundzwanzig bis dreißig Personen. Es schienen Leute von Rang – wenigstens von guter Herkunft – wenngleich ihre Kleidung mir etwas überladen schien; sie hatte die aufdringliche Eleganz der Bourbonenzeit. Ich bemerkte, daß mindestens zwei Drittel der Gäste Damen waren, von denen einige sich keineswegs so trugen, wie es heutigen Tages in Paris zum guten Ton gehört. Manche z.B., deren Alter kaum unter siebzig sein konnte, waren mit Juwelen, Ringen, Armbändern und Ohrschmuck geradezu überladen, und ihr Taillenausschnitt war von bedenklicher Tiefe. Ich sah ferner, daß nur wenige der Kleider einen guten Schnitt hatten – wenigstens kleideten sie ihre Trägerinnen nicht gut. Während ich Umschau hielt, entdeckte ich das interessante junge Mädchen, mit dem Herr Maillard mich zuvor bekannt gemacht hatte; doch mein Erstaunen war groß, sie nun in Reifrock und Stöckelschuhen und einer Haube aus Brüsseler Spitzen zu sehen, einer Haube, die nicht nur unsauber, sondern so übertrieben groß war, daß sie das Gesicht lächerlich klein erscheinen ließ. Als ich die Dame zuerst gesehen hatte, trug sie ein geschmackvolles Trauerkleid. Kurzum, die Kleidung der ganzen Gesellschaft hatte etwas so Wunderliches, daß mir das »Besänftigungs-System« wieder einfiel und gleichzeitig der Gedanke kam, Herr Maillard habe mich bis nach Tisch im unklaren lassen wollen, damit mich bei der Mahlzeit nicht etwa die Vorstellung störe, mit Geisteskranken zu speisen. Ich erinnerte mich aber auch, daß in Paris die Rede ging, welch ein exzentrisches Völkchen die Bewohner der südlichen Provinzen seien und welch veraltete Anschauungen sie hätten. Nachdem ich mit einigen aus der Gesellschaft nur eine kurze Weile geplaudert hatte, schwanden bald meine Zweifel gänzlich.

      Das Speisezimmer war, obschon geräumig und praktisch eingerichtet, keineswegs elegant; so hatte es z. B. keinen Teppich, was allerdings in Frankreich nicht selten ist. Die Fenster waren ohne Vorhänge. Die Schalter waren geschlossen und mit diagonalen Eisenstangen verriegelt, wie es bei uns die Kaufläden sind. Der ganze Raum bildete, wie ich nun sah, einen besonderen Flügel des Schlosses und hatte daher an drei Seiten Fenster, nicht weniger als zehn; an der vierten war die Türe.

      Der Tisch war prächtig gedeckt. Er war mit Schüsseln überladen und mehr als überladen mit Delikatessen. Der Überfluß war geradezu geschmacklos. Nie in meinem Leben sah ich eine solche Verschwendung, ja Mißachtung der köstlichsten Dinge. Die Anordnung des Ganzen war übrigens sehr wenig anmutig. Meine an sanftes Licht gewöhnten Augen mußten nun den Glanz zahlloser Wachskerzen ertragen, die in silbernen Armleuchtern überall im Zimmer verteilt waren. Mehrere Diener warteten auf; und auf einem großen Tisch in einer entfernten Ecke des Saals saßen sieben bis acht Leute mit Geigen, Pfeifen, Blasinstrumenten und einer Trommel. Diese Burschen quälten mich während der ganzen Mahlzeit mit ihrem andauernden Lärm, der wohl Musik sein sollte und alle Anwesenden mit Ausnahme von mir sehr zu unterhalten schien.

      Alles in allem konnte ich nicht umhin, vieles von dem, was ich sah, recht bizarr zu finden – aber es gibt so vielerlei Menschen, mit so vielerlei Gedanken und so vielerlei Gewohnheiten! Auch war ich weit genug in der Welt herumgekommen, daß mir das » nil admirari« zur Selbstverständlichkeit geworden war. Ich nahm also gelassen an der rechten Seite meines Wirtes Platz und sprach mit viel Appetit den guten Speisen zu, die man mir reichte.

      Die Unterhaltung war allgemein und angeregt; wie immer, sprachen besonders die Damen viel. Ich fand bald, daß fast alle Versammelten eine gute Erziehung genossen hatten; und mein Wirt selber erzählte einen launigen Witz nach dem andern. Er schien geneigt, von seiner Stellung als Leiter der Irrenanstalt zu reden, und überhaupt war das Thema »Wahnsinn« zu meiner Überraschung ein beliebter Gesprächsstoff. Man erzählte eine Menge lustiger Stückchen von der Tollheit einzelner Patienten.

      »Wir hatten mal einen Menschen hier,« sagte ein dicker, kleiner Herr an meiner rechten Seite – »einen Menschen, der sich für einen Teekessel hielt. Nebenbei bemerkt, ist es nicht sonderbar, wie oft gerade diese Vorstellung bei Wahnsinnigen herrscht? Gibt es doch kaum

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