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      Die Tugend von Tokyo

      Götz T. Heinrich

      published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

      Copyright: © 2012 Götz T. Heinrich

      Umschlagfoto: Public Domain

      ISBN 978-3-8442-2705-5

      Prolog: Montag, 5. April 2004, 23.21 Uhr

      Masakiri Satoshi war ein Mann mit vielen Sorgen, und er hatte jeden Grund dazu.

       Schering war weiter gefallen. Bayer war gefallen. Novartis war gefallen, und auch der Börsenwert von Pfizer wackelte gewaltig. Wenn man seinen acht wichtigsten Investoren empfohlen hatte, größere Mengen von Kapital in Pharmafonds eines eigentlich kleinen Geldunternehmens zu investieren, sollte man eigentlich bessere Nachrichten als diese liefern können. Morgen früh würde Masakiri einiges zu erklären haben, und die am Wochenanfang allgemein schleppend anlaufende Börse in New York war nicht wirklich eine Erklärung, die Leute in der Hochfinanz interessieren würde.

       Seufzend griff der Investmentberater in seine Westentasche und griff nach seiner Zigarettenpackung. Leer. Richtig - er hatte am Nachmittag, als die ersten Nachrichten über den Börsenticker gekommen waren, wieder einmal zehn oder zwölf Glimmstengel aufgeraucht, aus purer Spannung, ob sich in dieser Woche das Blatt endlich wendete. Nachdem nichts dergleichen geschehen war, hatte er sein Handy ausgeschaltet und sich in den Feierabend verabschiedet und darüber sogar vergessen, sich eine neue Schachtel Davidoff zu besorgen.

       In letzter Zeit wurde er immer nachlässiger - eigentlich ein Unding für einen tüchtigen Geschäftsmann, aber es kam ihm nicht mehr so vor, als habe er seinen Erfolg oder Misserfolg noch wirklich selbst in der Hand. Die Daytrader machten vielleicht noch mit ihrer eigenen Arbeit einen ordentlichen Profit, aber genau mit dieser Arbeit sorgten sie dafür, dass das Börsenparkett zu einem derart unsicheren, unmöglich vorherzusagenden Markt wurde, dass kaum noch jemand im Investmentgeschäft sicher sein konnte, in welche Richtung sich alles entwickelte. Vor ein paar Jahren hatte einmal eine Zeitung in Amerika einen Affen mit Wurfpfeilen auf einen Kurszettel werfen und anhand der Treffer Aktien kaufen lassen. Das vom Affen "ausgewählte" Paket hatte sich als gewinnträchtiger erwiesen als die Kaufempfehlungen selbst der renommiertesten Beraterinstitute.

       Vielleicht hätte er damals den Affen als Geschäftspartner anheuern sollen, dachte Masakiri bitter. Noch schlechter als heute hätte es ihm damit jedenfalls kaum ergehen können. Richtige Erfolgserlebnisse hatte er schon seit über einem Jahr nicht mehr gehabt, und der einzige Grund, wieso er noch nicht alle seine Investoren verloren hatte, war die Tatsache, dass im Moment ausnahmslos alle Beraterinstitute mit ihren Empfehlungen kaum mehr ernstzunehmen waren und er zumindest mit Fug und Recht sagen konnte, dass es keine besseren Alternativen zu seinen Dienstleistungen gab. Allerdings - und das machte einen großen Teil seiner Sorgen aus - fragte er sich, wieso er sich eigentlich noch immer mit Marktanalysen anstrengen sollte, wenn er eigentlich irgendetwas hätte empfehlen können und das genauso gut oder schlecht gewesen wäre wie seine mit viel Mühe erstellten Unternehmensprofile.

       Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, Masakiri war in einer Existenzkrise, der dritten in seinem achtundvierzigjährigen Leben. Die erste hatte er in den letzten Jahren seiner Schulzeit gehabt, als er unter dem Leistungsdruck der Oberschule fast zerbrochen wäre, die zweite war als Juniorpartner in einem Beratungsinstitut während der letzten Wirtschaftskrise gekommen, als er mit elf Millionen Yen in der Kreide gestanden hatte. In beiden Situationen hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen, das erste Mal mit einer Überdosis Schlaftabletten, das zweite Mal auf die klassisch-japanische Art - durch den Sprung vor eine U-Bahn. Beide Male waren aber zu seiner Enttäuschung sehr viel unromantischer verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte, und was das wichtigste war: er hatte sie leider überlebt.

       Inzwischen war er allerdings älter und gereifter, und der Gedanke an Selbstmord kam ihm nicht mehr so leicht. Zudem war das einundzwanzigste Jahrhundert angebrochen, und für Menschen in fordernden Situationen gab es zahlreiche Methoden, den aufgestauten Stress wieder loszuwerden. Psychologische Beratung, Antidepressiva und die Anerkennung von psychischen Problemen als Berufskrankheit sorgten dafür, dass vielen potentiellen Selbstmördern geholfen werden konnte, ehe der innere Druck in ihnen so groß wurde, dass sie keinen Ausweg außer dem Freitod mehr sahen. Masakiri hatte zwar von diesen Mittel noch keine genutzt, aber er wusste, dass es sie gab, und wahrscheinlich hätte er auch nicht gezögert, nach professioneller Hilfe zu suchen, wenn es ihm unerträglich geworden wäre.

       Vorerst aber war der Gedanke an Selbstmord erst einmal nur da; noch war er nicht wirklich unerträglich. Unerträglich war eigentlich nur das Fehlen von Zigaretten, und in einem Anfall plötzlichen Zorns zerknüllte der Investmentberater die leere Schachtel in seiner Hand und warf sie im hohen Bogen vom Dach des Parkhauses, wo er seinen Mercedes geparkt hatte. In der Innenstadt, unter Menschen, hätte er es nicht gewagt, so einfach die Straßen zu verschmutzen; wenn es um diese Dinge ging, war jeder erwachsene Mensch in Tokyo ein Hilfspolizist, der solche Akte von mutwilligem Vandalismus sofort scharf angeprangert hätte. Japan hatte da eine ganz eigene Moral, was diese kleinen Dinge anging, und sie sorgte dafür, dass man sich in der Gesellschaft anderer Menschen noch ein klein wenig unfreier vorkam, als man das ohnehin schon als beruflicher Versager war.

       Dennoch war Masakiri über alle Maßen darüber erstaunt, dass ihm, der schon zweimal beinahe gestorben wäre, die dritte Gelegenheit seines bevorstehenden Todes immer noch solche Panik einflößte, dass er ihr nicht still und würdevoll entgegensehen konnte, sondern sie mit einem gellenden Schrei kommentieren musste. Aber wahrscheinlich schrieen alle Leute, die vom Dach eines elfstöckigen Parkhauses hinunter in den Gerätehof fielen. Zumindest so lange, bis sie unten aufschlugen.

      Montag, 5. April 2004, 19.11 Uhr

      Die Marunouchi-U-Bahn-Linie verband Nakano mit Ikebukuro und gehörte schon tagsüber zu den besonders überfüllten Strecken in Tokyo, besonders zur Rushhour. Doch zwischen achtzehn und einundzwanzig Uhr war sie quasi täglich hoffnungslos überlaufen, und das lag daran, dass sie in Shinjuku hielt, dem Unterhaltungsviertel der Metropole. Täglich zwängten sich in die Wagen Schüler auf dem Weg in die Spielhallen, Geschäftsleute in die Pachinko-Bars, Hausfrauen in die Kinos - es war eine formlose Masse von Menschen, die sich quallenähnlich zusammenquetschte, auseinanderzog und manchmal auch trennte, als bestehe sie aus einer einzigen Zelle und habe sich soeben geteilt.

       Eigentlich war die Enge in einer so besetzten U-Bahn geradezu unerträglich; die Fahrgäste jedoch standen sie mit stoischer Ruhe aus. Niemand beschwerte sich; warum auch, es ließ sich doch ohnehin nicht ändern, und manchen gelang es sogar, in den überfüllten Wagen zu schlafen. Wieder andere lasen, starrten vor sich hin oder waren in Gedanken schon im Feierabend. Eine Tokyoter U-Bahn war eine Studie in Introvertiertheit, wie man sie sonst vielleicht nur noch in tibetanischen Mönchsklostern oder bei Bergsteigern auf dem K2 beobachten konnte, und wenn sich doch jemand nicht nur mit sich selbst beschäftigte, nahm davon niemand Notiz - man tat sein bestes, die anderen Fahrgäste einfach zu übersehen.

       Aber als die Marunouchi-Linie in Richtung Nakano an diesem frühen Abend um elf Minuten nach neunzehn Uhr in die Haltestelle Shinjukusanchome einfuhr, war die bisherige Fahrt der U-Bahn für die Mitfahrer an diesem Abend völlig anders als sonst verlaufen, vor allem für acht Männer mittleren Alters, die die Wagen nicht, wie sonst üblich, ohne Begleitung verließen, sondern mit jeweils einem in Zivil gekleideten Polizeibeamten der "Tokyo Metropolitan Police", Abteilung "Öffentliche Sicherheit", direkt hinter sich. Einige neugierige Köpfe reckten sich ihnen nach, doch zum Glück nur wenige Sekunden, bis die Türen der Bahn sich wieder schlossen und sie abfuhr.

       Die Polizisten führten die Männer den Bahnsteig hinunter und auf eine der an der Station befindlichen kleinen Polizeistationen zu, die in der Stadt als "Kobans" bekannt waren. Diesmal war das Häuschen aber nicht, wie sonst üblich, von zwei uniformierten Mitgliedern der Gemeinschaftspolizei besetzt. Ein nahezu kahlköpfiger, gut durchtrainierter Mann in den Vierzigern saß auf einem Hocker in dem Koban, und ein etwas jüngerer mit leicht gebräunter Haut und einem konservativen Seitenscheitel in seinem schwarzen

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