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dorthin telegrafieren. Die Menschen interessieren sich dort unten anscheinend für das, was in Queensland geschieht.

      Brisbane, 2. Dezember 1912

      Es hat mir doch immer noch der Anfang des ersten Rougon-Macquart-Bandes gefehlt. Es sind gut achtzig Seiten, die ich jetzt für mich allein gelesen habe. Wie kann man einen Friedhof umgraben, wie kann man all die Toten aus der Erde holen, ihre Knochen einfach auf einem Haufen zusammenlegen und hinterher auf einem Karren fortschaffen. Vater sagt, dass dies auch in Paris üblich war, um Platz zu schaffen, für neue Häuser und Wohnungen. Die Gebeine der Toten wurden in den Katakomben gesammelt. Es gibt tatsächlich Höhlen unterhalb der Stadt Paris. Ich finde es schrecklich, in einem Haus zu wohnen, das auf einem ehemaligen Friedhof steht.

      Brisbane, 17. Dezember 1912

      Über die Ereignisse der letzten Monate habe ich den Brief längst vergessen. Vater hat es aber nicht vergessen. Er hat jetzt einen Zweiten geschrieben, den er nicht nach England, sondern an eine Adresse in Paris geschickt hat. Er hat sich auf dem Amt ein Postfach genommen, damit eine Antwort auch ankommt, falls wir in den nächsten Wochen hier in Brisbane umziehen. Ich weiß nicht, was ich von alldem halten soll. Auf den ersten Brief gab es keine Antwort und der Brief selbst ist auch nicht zurückgekommen.

      Brisbane, 25. Dezember 1912

      Die Perle, Onoos Perle, ich habe mir von Vater einen Anhänger mit Kette gewünscht und ihn jetzt bekommen, mein Weihnachtsgeschenk. Der Anhänger lässt sich aufklappen und die Perle steckt darin, sie wird von einem Bügel gehalten. In dem Anhänger ist sie von außen unsichtbar und sie soll auch unsichtbar sein. Ich hatte mir erst vorgestellt, die Perle einzufassen, aber solange Onoo nicht bei Tom und mir ist, solange lasse ich die Perle nicht frei. Ich kann sie mir ja betrachten, wann immer ich will.

      1913

      Brisbane, 9. Januar 1913

      In diese noch frühen Tage des Jahres dringt eine interessante Meldung aus England zu uns herüber nach Australien. In Sussex, in der Nähe eines Dorfes mit dem Namen Piltdown, wurden Teile eines Skeletts gefunden, vermutlich die Überreste eines Menschen, aber keines Menschen aus unserer Zeit, auch nicht aus einer Zeit vor hundert oder zweihundert Jahren, sondern wohl sehr viel älter. Die Jahre sollen in die Tausende gehen, wie jene Zeitungen schreiben, die die Geschichte über Kabel aus England bekommen haben. Vater kann diesmal natürlich nicht vor Ort berichten. Er ist aber sofort in die Bibliothek gegangen und hat sich erkundigt. Es gab schon früher Entdeckungen, bei denen Knochen und Schädel gefunden wurden, die menschlichen Knochen sehr ähnlich waren und die ebenfalls unvorstellbar alt sind. Vaters Artikel ist dann auch sehr interessant, wie ich finde. Im letzten Jahrhundert wurde ein Skelett in einem Tal im preußischen Rheinland entdeckt. Ich frage mich nur, was die Kirche zu alldem sagt, wurde denn schon vor der heutigen Welt eine andere geschaffen, waren es vielleicht erste Versuche, einen Menschen zu erschaffen, der dann nicht gefiel und vergraben wurde, um etwas Neues zu beginnen.

      Brisbane, 7. Februar 1913

      Heute ist wieder der Siebte. Tom ist jetzt genau neun Monate alt. Seinen Vater habe ich am 1. September 1911 zuletzt gesehen und jetzt haben wir schon 1913. Noch vor ein paar Monaten hatte ich die Gelegenheit, Onoo die Geburt seines Sohnes mitzuteilen. Ich habe es verpasst, aber es lag nicht an mir. Jetzt ist es dafür zu spät und es wäre unehrlich es noch zu tun. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt will, dass Onoo jemals von Tom erfährt. Dann kommt es mir plötzlich in den Sinn. Auf den Marquesas wird es niemanden geben, der nach so langer Zeit noch glauben kann, dass Onoo Toms Vater ist. Es wird keiner glauben. Ich überlege weiter. Onoo wird nie von seinem Sohn erfahren, und wenn Onoo in den nächsten Jahren Kinder mit einer anderen Frau haben wird, dann erfährt auch Tom nie, dass er Geschwister hat. Eines ist nur klar, Tom ist Onoos Erstgeborener. Ich denke, das ist eine Bürde für einen Vater. Meine Gedanken sind natürlich Unsinn. Es wird der Tag kommen, an dem alle alles erfahren. Tom wird seinen Vater kennenlernen und Onoo seinen australischen Sohn.

      Brisbane, 15. März 1913

      Vater hat es gerade noch nach Hause geschafft, schließlich habe ich übermorgen Geburtstag und da darf er nicht fehlen. Vater kommt von einem Ort, dessen Namen ich mir wohl jetzt merken muss, er lautet Canberra. Ich habe mir nie Gedanken darübergemacht, wie die Hauptstadt Australiens heißt und ich bin mir sicher, schon gehört zu haben, dass es Melbourne sei. Dies ist natürlich nicht richtig, denn Australien ist ein Bund von Territorien. Brisbane liegt im Territorium Queensland, Sydney in New South Wales und Melbourne in Victoria. Brisbane hatte wohl nie den Anspruch, Hauptstadt zu sein. Dagegen gab es schon seit Langem einen Streit zwischen Melbourne und Sydney, und weil dieser Streit zu nichts geführt hat, wird jetzt eine ganz neue Stadt gebaut, in einem ganz neuen Territorium, das von New South Wales abgetrennt wurde und gemäß seiner Bestimmung den Namen Australian Capital Territory trägt. Der Bau der neuen Hauptstadt hat schon begonnen und wird noch lange, lange dauern, denn was eine richtige Hauptstadt ist, braucht viele Gebäude. Wie lange wurde an Paris oder London gebaut, Jahrhunderte? Ganz solange wird es mit Canberra nicht dauern. Getauft wurde Canberra dagegen bereits und Vater hat diesem Ereignis beigewohnt und sein Artikel hat mir erst mein neues Wissen vermittelt. So plant ein amerikanischer Architekt das Aussehen der neuen Stadt, weil er im Wettbewerb den besten Vorschlag gemacht hat. Dritter wurde immerhin ein Franzose, was mich wieder stolz macht, denn beinahe wäre Canberra eine französische Stadt geworden. Jedenfalls, wenn mich jetzt jemand fragt, wie Australiens Hauptstadt heißt, so nenne ich ganz sicher den Namen Canberra. Trotz allem hat Sydney ein wenig verloren, denn bis in Canberra die Gebäude für die Regierung, die Ämter und Behörden fertiggestellt sind, wird Melbourne Regierungssitz sein.

      Brisbane, 18. März 1913

      Es war schön, dass Vater an meinem Geburtstag nicht unterwegs war und wir ein wenig gefeiert haben. Heute ist er auch noch zu Hause und auch morgen, aber dann geht es gleich weiter nach Sydney. Auf der Post habe ich mir heute wieder einen Vorrat an Briefmarken gekauft, denn wenn ich nicht in diesem Büchlein schreibe, hinterlasse ich alles und alle Neuigkeiten in meinen Briefen, die ich Vater an die Zeitungen schicke, die auf den Reisen immer seine Stationen sind. Es funktioniert recht gut, denn Vater teilt mir immer genau mit, welche Städte er anfährt und wann er dort sein wird. So gehen meine Briefe diesmal erst nach Sydney und dann nach Melbourne, also eine kurze Reise, die aber dennoch zwei Wochen dauern wird, weil Vater auch gern aufs Land, zwischen diesen Städten fährt, um seine Geschichten zu sammeln. Ich schreibe natürlich auch, weil Vater dann zurückschreibt. Die zwanzig Briefmarken, die ich gekauft habe, werden für die nächsten drei Monate reichen. Seit einiger Zeit gibt es australische Marken, die mir sehr gut gefallen. Sie eignen sich nämlich sehr gut, einem Reisenden zu schreiben. Die Briefmarken zeigen den australischen Kontinent als Landkarte, mit einem Känguru darauf. Ich zeichne immer einen Punkt für Brisbane in die Briefmarke und einen Punkt für die Stadt, in die ich den Brief schicke. Dann verbinde ich die Punkte mit einer dünnen Linie. Wenn Vater jetzt nach Sydney reist, zeichne ich eine Linie von Brisbane nach Sydney, im zweiten Brief, der nach Melbourne gehen wird, zeichne ich wieder die Linie von Brisbane nach Sydney und zusätzlich noch eine von Sydney nach Melbourne. Dieses kleine Spiel beginnt erst wieder von vorne, wenn Vater auf eine neue Reise geht. Anfangs hatte ich befürchtet, dass meine Linien die Briefmarken ungültig machen, aber bisher hat sich die Post noch nie beschwert und es ist alles angekommen.

      Brisbane, 5. April 1913

      Die ersten Wochen und Monate in Brisbane haben wir noch von unseren Ersparnissen gelebt. Dann hat Vater immer mehr Beschäftigung gefunden und hat eigentlich immer sehr gut zu tun. Vater hatte dafür natürlich ein passendes Zitat: »Wenig Arbeit ist eine Bürde, viel Arbeit ist eine Freude«. Es stammt von Victor Hugo, dem Schriftsteller. Ich überlege, wie es mir ergeht, ich habe auch immer viel zu tun, ich muss Tom versorgen, und wenn ich erst einmal aufs College gehe, dann wird es sogar noch mehr. Ich hoffe nur, es stimmt dann auch noch, dass viel Arbeit eine Freude ist.

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