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der Anke wahrscheinlich vorgefahren ist. Sollte sich die Spur nicht vor der Steilstufe scharf nach rechts wenden, dann führt sie in einen fast unfahrbaren Teil.

      „Du, Joe. Diese Spur kommt mir eigenartig vor. Fahren wir ihr mal nach.“

      Joe nickt nur und zeigt mit dem Stock, dass sie als Erste fahren soll. Marlies fährt der Spur leicht versetzt entlang. Im nur leicht fallenden Beginn muss sie mit den Stöcken anschieben, so tief ist der Schnee durch die starke Sonneneinstrahlung schon geworden. Sie kommen an eine Kante, ab der es unvermittelt wesentlich steiler wird. Marlies blickt nach rechts. Ungefähr fünfzig Meter entfernt sieht man die Abfahrtsspuren der Variantenfahrer. Unmittelbar nach der Kante sind offensichtliche Zeichen eines Sturzes zu erkennen. Der vorfahrende Schifahrer hat kurz unterhalb abgeschwungen. Die beiden Spuren wenden sich noch weiter nach links. Die eine zeigt ein seitliches Abrutschen, kein einziger Schwung ist zu erkennen. Die andere muss von einem sehr routinierten Geländefahrer stammen. Es sind kurze, teilweise gesprungene Schwünge, die perfekt ins anspruchsvolle Gelände gesetzt sind. Die Abrutschfahrt endet in deutlichen Anzeichen für einen weiteren Sturz. Hier wendet sich die routinierte Spur scharf nach rechts.

      „Warte hier bitte“, sagt Marlies.

      Auch Joe ist mit seinen Schiern seitlich abgerutscht. Marlies hat ihm schon am Beginn der Steilstufe empfohlen, mit den Schispitzen links zu bleiben, also mit der linken Schulter zum Berg. Marlies vermutet keine drei Meter weiter unten den Abbruch. Von oben ist nur eine weitere Kante zu sehen. Fußspuren führen direkt dorthin. Anke hat offensichtlich die Schier abgeschnallt. Für Marlies gibt es keine Zweifel mehr, dass es sich um ihre Spur handelt. Aber warum ist sie nicht wieder bergauf gestapft? Sie wird im Nebel orientierungslos gewesen sein. Außerdem ist es leichter, mit den Schischuhen bergab als steil bergauf zu gehen. Die Schier muss sie aber getragen haben, vielleicht links und rechts einen, um sich darauf abzustützen. Jedenfalls liegen keine herum. Oder hat sie die Bergrettung mitgenommen? Auch sie müssen jetzt dringend nach rechts, um in wieder besser fahrbares Gelände zu gelangen.

      „Joe, wir müssen nach rechts weg. Weiter unten können wir versuchen, zur Unfallstelle zu gelangen.“

      Marlies setzt zwei, drei kurze Schwünge und hört Joe fluchen. Er ist gestürzt und hat große Mühe, wieder aufzustehen.

      „Wie soll ich da nur runterkommen?“

      „Hier ist es wirklich schwierig. Abrutschen ist wegen der kleinen Felsblöcke und Latschen nicht ratsam. Du müsstest springen.“

      „Ha, ha. Kann ich nicht.“

      „Komm erst einmal zu mir runter.“

      Eigentlich stellt sich Joe gar nicht so schlecht an, denkt Marlies. Durch seine Angst hat er aber zu viel Rücklage und kann daher seine Schier nicht steuern. Joe kommt unmittelbar vor ihr erneut zum Sturz. Marlies hilft ihm auf.

      „Vorschlag. Ich fahre dir so flach wie möglich vor und mache dann eine Spitzkehre.“

      Es sind vielleicht zwanzig, dreißig Höhenmeter. Dann wird es wesentlich leichter. Da jede Hangschrägfahrt wegen der Felsen und Latschen nur sehr kurz ausfällt, sind einige Spitzkehren nötig. Joe braucht für eine Spitzkehre sicher die doppelte Zeit wie Marlies, dafür gibt es aber keinen weiteren Sturz. Schließlich bleiben sie bei einer kleinen Kuppe stehen.

      „Magst was trinken?“

      „Nein, ich will nur hier raus.“ Marlies schmunzelt, weil sie der Satz an das Dschungelcamp erinnert.

      „Bist du ein Star?“, fragt sie ihn keck.

      „Was soll das? Mir ist nicht zum Scherzen.“

      „Na, es heißt doch: Ich bin ein Star, holt mich hier raus.“

      „Sehr witzig. Und was jetzt?“

      „Wir fahren jetzt wieder nach links. Hier unten sollte es auch für dich kein großes Problem sein. Dann müssen wir die Schier abschnallen und die Steilstufe bis zum Ende des Abbruchs hinaufsteigen.“

      „Ich bin jetzt schon schweißgebadet. Aber gut, wenn wir schon so weit gekommen sind.“

      Der felsige Abbruch ist von hier aus gut zu sehen. Marlies schätzt, dass er gute zehn Meter hoch ist. Beim extrem steilen Aufstieg mit den Schischuhen müssen sie die Stöcke kurz nehmen, um nicht die Balance zu verlieren.

      „Schau mal. Da links ist was Rotes.“

      Marlies schaut in die Richtung, in die Joe mit dem Schistock deutet. Richtig, da schaut ein kleiner roter Zipfel unter dem Schnee hervor.

      „Du hast ja Adleraugen.“

      „Behalte die Handschuhe an, wenn du’s rausziehst.“

      „Alles klar, Herr Kommissar.“

      Marlies ist schon bei der Stelle und zieht ein rotes Täschchen aus dem Schnee. Muss wohl von der Unfallstelle abgerutscht sein, denkt sie.

      Was ist wohl in dem Täschchen? Obwohl sie sich noch immer im steilen Hang befindet und keineswegs sicher steht, öffnet sie den Reißverschluss des Täschchens. Sie hat nur dünne Handschuhe an, sodass sie gezielt hineingreifen kann. Als Erstes holt sie ein Handy hervor, das aber tot ist. Sie zeigt es Joe, der unterhalb von ihr auf der rechten Seite steht. „Akku leer, glaub ich. Aber wir können dann im Hotel schaun. Mein Ladegerät sollte passen.“

      Sie steckt das Handy in ihre Jackentasche und holt als Nächstes einen Ausweis heraus. Dieser lautet auf Anke Oswalt und ist zu Marlies´ Überraschung ein Behindertenausweis.

      „Du, Joe, diese Anke ist, also war, Epileptikerin. Was sagst jetzt?“

      „Vielleicht hatte sie einen Anfall und ist deshalb abgestürzt?“

      „Möglich, aber genauso gut könnte sie im Nebel den Abbruch einfach nicht gesehen haben. Die Frage ist doch, welche Rolle der zweite Schifahrer gespielt hat.“

      Dann ein deutscher Personalausweis.

      „Rat mal, wie alt die Anke ist.“

      „Keine Ahnung. Sag schon.“

      „Fünfundvierzig, wenn ich mich nicht verrechnet habe.“

      „Ich hätte sie jünger geschätzt, etwa so alt wie du.“

      „Danke. So schnell wird aus einem Vorschuss-Wunsch ein richtiger.“

      Als Letztes fischt Marlies ein durchsichtiges Plastiksäckchen mit einigen Geldscheinen darin heraus.

      „Marlies, hör jetzt auf. Schaun wir, dass wir zu der Aufprallstelle kommen. Ich fühl mich da nicht sehr wohl.“

      „Ja, okay.“

      Marlies schaut in das Täschchen und glaubt, nur noch einen Lippenstift und ein Päckchen Taschentücher zu erkennen.

      Sie erreichen die zertrampelte Unfallstelle und blicken nach oben. Der Abbruch ist zerklüftet und fast senkrecht.

      „Das reicht, um zu Tode zu kommen“, sagt Joe keuchend. „Hat sie einen Helm getragen?“

      „Auf dem Foto in der Zeitung ist sie ohne Helm, aber mit einer Haube zu sehen.“

      „Egal. Ein Genickbruch ist auf alle Fälle drin. Selbst mit Helm.“

      Marlies sucht mit den Augen den Felsen ab und entdeckt bei einem Vorsprung einen rosa Stoffrest, der von einer Schibekleidung stammen könnte. Sie klettert nach oben. Mit den Schischuhen ist das selbst für sie keine einfache Angelegenheit.

      „Hat sie einen rosaroten Anorak angehabt?“, fragt sie nach unten.

      „Ich habe sie nie in Schibekleidung gesehen. Komm jetzt bitte vorsichtig runter. Sonst muss ich wegen dir auch noch die Bergrettung rufen.“

      Marlies springt das letzte Stück hinab und landet direkt neben Joe. Sie sehen sich noch um, können aber nichts mehr entdecken. Also wieder hinunter zu den Schiern. Fünf Minuten später kommen sie bei der Piste, knapp oberhalb der Mittelstation der Mittersteinbahn, heraus.

      „Nie

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