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Körper laufen, einfach die anhaftende Last des schrecklichen Tages von ihrem Körper fortspülen. Mit einem Badetuch bedeckt, ging sie zurück in das Schlafzimmer. Dort ließ sie sich aufs Bett fallen, bevor sie erschöpft in einen Halbschlaf sank.

      Erinnerungsfetzen von einem längst vergessenen Reitunfall tauchten in ihrem Dämmerzustand auf. Ihre gutmütige Fuchsstute scheute vor einem grausigen Rascheln im Gebüsch, daraufhin ging sie durch. Nela stürzte, dabei blieb sie im Steigbügel hängen. Der schwarze Schemen des geheimnisvollen Schutzengels blitzte flüchtig auf, als er sich zu ihr hinunter beugte.

      Kurze Zeit später wachte Nela auf. Unruhig zog sie sich an, schnappte ihre Tasche und öffnete kaum hörbar die Tür, bevor sie zügig zur nächsten Zimmertür huschte. Sie hoffte, dass Tristan dort sein würde. Zaghaft klopfte sie an, ehe sie eintrat.

      Tristan lag nicht in seinem Bett, sondern stand angespannt am Fenster. Kurz drehte er sich zu ihr um, dabei legte er den Zeigefinger an seine Lippen. Leise kam Nela zu ihm. Auf dem Hof unterhielten sich Männer mit Johanna, wo vorhin noch Tristans Scirocco gestanden hatte.

      „Drauger“, flüsterte Tristan ihr zu, als sie dicht neben ihm am Fenster stand.

      „Drauger?“ Fragend runzelte sie die Stirn. Gehörten Drauger zu dem alten Glauben? Wer oder was waren Drauger?

      Die Drauger gingen zu dem dunkelblauen Mittelklassewagen, der ganz in der Nähe des Eingangs parkte. Zügig stiegen sie ein. Doch ehe der letzte sich in das Fahrzeug setzte, blickte dieser direkt zu Tristan und Nela, die in der Dunkelheit der Nacht gehüllt waren. Unmöglich konnte er sie sehen, dennoch wich Nela zurück, während Tristan einen Namen nuschelte, den sie nicht verstand. Rasch, aber unauffällig ohne Beleuchtung fuhren sie die Auffahrt entlang zur Straße. Johanna ging ins Haus, augenblicklich wandte Tristan sich vom Fenster ab und ging zur Tür. „Bleib hier. Ich komme gleich zurück.“ Nela nickte. Ängstlich schaute sie sich im Zimmer um, während sie auf seine Rückkehr wartete. Vor dem Bett stand eine graue Sporttasche, und die Bettdecke lag zerwühlt auf der Matratze.

      Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie dieses Landhaus bald verlassen würde. Sie schwebte immer noch in Gefahr, denn sie war noch nicht in Sicherheit. Vielleicht würde sie es nie wieder sein. Panik stieg in ihr auf, aber sie bekämpfte die Angst, da sie einen klaren Kopf bewahren musste, wenn sie überleben wollte, und das wollte sie. Sie wollte leben!

      Hektisch kam Tristan zurück ins Zimmer. „Wir müssen gehen. Die Drauger haben uns gewarnt. Die Birger wissen, wo wir uns aufhalten.“ Nela nickte nur, da sie große Mühe hatte, ruhig zu bleiben. Hastig nahm Tristan seine Tasche.

      „Nela, vertrau mir. Alles wird wieder gut.“ Sie blickte in sein zuversichtliches Gesicht, sogleich unterdrückte sie die aufkeimende Verzweiflung. Schnell verließen beide das Zimmer, als das Geräusch von quietschenden Reifen von der Straße ertönte. Nur kurz hielten sie inne, um dann den Korridor zur Treppe entlang zu rennen. Sie durften keine Zeit verschwenden, denn die Birger waren eingetroffen.

      Bewaffnet kam Johanna ihnen im Erdgeschoss entgegen. Im Vorbeigehen befahl sie eindringlich: „Kommt mit!“

      Nelas Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie zu einem Seitenausgang liefen. Vorsichtig öffnete Tristan die Tür einen Spalt weit. Es waren nur wenige Meter bis zum Auto, aber der Weg war ihnen versperrt, da sich dort schon bewaffnete Birger aufhielten, die sich zügig dem Landhaus näherten. Sie saßen in der Falle. Schleunigst mussten sie eine andere Möglichkeit finden, ihnen zu entkommen. Leise schloss Tristan mit einem ratlosen Kopfschütteln die Tür.

      Kampfgeräusche drangen an Nelas Ohr, und eine neue Welle der Angst durchfuhr sie. Warum wachte sie nicht endlich auf? Plötzlich ertönte die Alarmanlage. „Sie sind im Haus“, stieß Johanna verärgert und zugleich bestürzt aus. Schnell zeigte sie auf eine Tür und Tristan öffnete diese hastig, bevor jemand sie auf dem Flur entdeckte. Sie betraten die Bibliothek, die sie schnellen Schrittes durchquerten.

      „Frau Bonengel“, erklang die Stimme des Butlers von der offen stehenden Flurtür.

      „Geht weiter“, befahl Johanna nachdrücklich mit einem Fingerzeig, bevor sie sich unerfreulich ihrem Angestellten zuwandte. „Thomas, was tun Sie hier?“

      Vor ihnen im Schatten der Bücheregale erschien eine verzierte Tür aus Eschenholz. In einem Halbbogen waren alte Schriftzeichen in das Holz eingeritzt. Nur flüchtig sah Nela die Runen, da Tristan die Tür rasch mit einem Blick über die Schulter aufriss. Dort war es dunkel. Stockdunkel. Nela griff mit ihrer schwitzigen Hand nach Tristan, doch sie konnte ihn nicht ertasten. Ihr heftiger Atem erklang laut in der totenstillen Finsternis. „Nela?“, flüsterte ihr Schicksalswächter, und sie folgte vorsichtig seiner Stimme.

      Die Begegnung im Eichenhain

      Als Nela mit Tristan zusammen den dunklen Fluchtweg beschritt, durchflutete sie ein fremdartiges Gefühl. Etwas zog sie an Fäden durch die Finsternis, dabei setzte sie unsichere Schritte auf den federnden Untergrund. Plötzlich befanden sie sich auf der Lichtung eines Laubwaldes, und der Eindruck des Einfädelns war fort. Ringsherum standen mächtige, alte Eichen. Ganz in der Nähe lagen Findlinge und die Überreste einer Burg. Nur wenig Licht ermöglichte es Nela, die Umgebung wahrzunehmen. Nirgends konnte sie einen Weg entdecken.

      Nela schaute zum nächtlichen Himmel, der ihr einen atemberaubenden Anblick bot. So klar und so viele Sterne sah sie noch nicht leuchten. Unerwartet tanzte das grün-gelbliche Polarlicht über ihr und wies ihr in wellenförmigen Bahnen den Weg nach Norden.

      „Sobald die Walküren auf ihren prachtvollen Rössern reiten, um ihre ehrenvolle Bestimmung zu erfüllen, spiegelt sich das gelbe Mondlicht in ihren glänzenden Schwertern und malt das Nordlicht an den Himmel“, rezitierte sie ergriffen die Worte ihres Vaters.

      Kurz lächelte ihr Begleiter. „Wir sind durch ein Schicksalstor gegangen.“ Schicksalstor? Tristan blickte in ihr verwirrtes Gesicht. Die schrecklichen Ereignisse, ihre Trauer, diese rätselhaften Ausdrücke und mystischen Ideen setzten ihr ziemlich zu. Sie brauchte etwas Normalität, an der sie sich festhalten konnte.

      „Es heißt, wenn es das Schicksal will, kann es uns an einen anderen Ort bringen“, begann Tristan erklärend. Nela setzte an, um ihm zu widersprechen, aber er fuhr deutlich fort: „Eigentlich sind diese Orte nur parallele Welten zu unserer. Wir können immer zwischen ihnen hin- und hergehen, überall ist dieselbe Zeit. Nur in den anderen Welten halten sie an dem Althergebrachten fest.“ Forschend blickte Tristan sich um. „In welcher Welt sind wir gelandet?“

      Fassungslos stand Nela vor ihm. Er musste verrückt sein, anders ließ sich vieles nicht erklären. Sprachlos beobachtete sie Tristan dabei, als er seine Tasche schulterte. Sie konnte doch keinem Verrückten trauen! Aber andererseits hatte sie auch keine andere Wahl, denn sie saß mit ihrem Retter mitten in der Wildnis fest und floh vor den Birgern. Was machte es da schon, dass er verrückte Ideen hatte?

      „Nela, wir müssen weiter“, drängte Tristan. Wenige Minuten waren vergangen. Doch schon die kurze Zeitspanne konnte den Birgern reichen, um sie einzuholen. Nela folgte Tristan in den Laubwald hinein. Immer wieder blickte sie über ihre Schulter. Erleichtert stellte sie fest, dass niemand sie verfolgte.

      Seit Stunden war die Angst ihr ständiger Begleiter. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, um der Gefahr zu entkommen. Der Schock saß immer noch tief, und die Angst verschleierte ihren Verstand.

      Die Sterne spendeten genügend Licht, um einen Weg durch den lichten Wald zu finden, der kein Ende nahm. Stolpernd bewegte Nela sich mit ihren Stöckelschuhen über den unebenen Boden fort. Nachdem sich beide durch das Gebüsch gekämpft hatten, erreichten sie einen morastigen Weg. Nela schaute in beide Richtungen. Nirgends waren Anzeichen für eine befestigte Straße.

      Nach einer Weile des anstrengenden Laufens schmerzten ihre Füße, also streifte sie kurzerhand ihre Schuhe ab. Erleichtert atmete sie auf, als sie unter ihren Füßen den kühlen Erdboden fühlte. Geduldig wartete Tristan auf sie, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte.

      „Wir sollten rasten“, schlug er vor und blickte sich nach einem geeigneten

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