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versuchte Nela, die Angst abzuschütteln und beschwor das Schicksal, dass sie keinen tödlichen Fehler beging, weil sie wieder in dieses Auto gestiegen war. Leise tönte Musik aus dem Radio und verjagte die laute Stille, die in ihren Ohren dröhnte.

      Angespannt umklammerte Tristan mit seinen Fingern das Lenkrad und sah unentwegt mit gehetzten Blicken in den Rückspiegel. Die schlimmsten Vorstellungen brachen in Nela empor, als sie Tristans Nervosität bemerkte. Sogleich wurde ihr Mund ganz trocken, und ihr Hals verengte sich. Hastig blickte sie nach hinten, doch sie konnte nichts erkennen, dass Tristans erneute Anspannung erklärte.

      „Auf dem Rastplatz war ein Birger“, stieß er beängstigend aus.

      Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie ihn an, als ihr die Tragweite ihres unüberlegten Handelns bewusst wurde. Ihretwegen wussten die Birger, kannten die Birger ihren derzeitigen Fluchtweg. Der saure Geschmack der Galle stieg ihr die Kehle hinauf.

      „Bisher verfolgt uns dieser Birger nicht.“

      „Was machen wir jetzt?“, stieß Nela schrill aus. Der hohe Ton ihrer eigenen Stimme ließ sie zusammenschrecken.

      „Ich weiß es nicht.“ Das waren nicht die Worte, die Nela in dieser Situation hören wollte.

      „Was ist mit diesem Ordenshaus? Was ist das überhaupt für ein Orden?“

      „Ich habe versagt“, entfuhr es Tristan verzagt, anstatt auf ihre Frage zu antworten. „Nie durfte ich mich, dir zu erkennen geben. Du gehörst nicht in unsere Welt. Du kennst sie nicht.“

      „Nein“, widersprach sie ihm vehement, „du hast nicht versagt. Deinetwegen lebe ich noch.“

      „Niemals werde ich bereuen, dir das Leben gerettet zu haben“, versetzte er.

      „Warum rufst du nicht deine Freunde an, damit sie uns helfen?“

      „Besser nicht. Ich möchte keine schlafenden Hunde wecken“, blieb er geheimnisvoll. „Allerdings sollte ich Johanna verständigen“, fügte er noch hinzu, während er nach seinem Handy suchte, indem er mit einer Hand seine Jeans abtastete. „Ich habe es verloren“, stellte er nüchtern fest.

      „Gehört Johanna auch zu diesem Orden namens Elhaz? Was bedeutet eigentlich Elhaz?“

      Tristan nickte, bevor er ihr eine Erklärung gab. „Elhaz ist der Name einer Rune. Unser Orden ist besser bekannt unter der Bezeichnung Orden der Walküren und der Walkür. Meine Antworten müssen dich nur noch mehr verwirren und verängstigen.“

      Zaghaft nickte Nela. Es stimmte, sie war verwirrt, aber nicht nur über seine spärlichen Enthüllungen, sondern auch über ihr natürliches Vertrauen ihm gegenüber. Weshalb?

      Tristan schaute kurz zu Nela, die fassungslos auf das ihr so vertraute Fadenmuster ihrer Wildledertasche starrte. Ihre augenblickliche Lage war so unwirklich. Nela versuchte, das alles zu verstehen; hinter die Mythologie zu schauen. Wo steckte der wahre Kern? Letztendlich spielte es keine Rolle, woran Tristan glaubte, solange er ihr kein Leid zufügte. Nach seinen Schilderungen war er nicht der Einzige, der von der Existenz dieser anderen Welt überzeugt war. Die fanatischen Birger taten es und töteten zudem ohne Skrupel. Jenes hatte Nela mit eigenen Augen gesehen, und sie war ebenfalls zu einem Opfer ihres blindwütigen Hasses geworden.

      Es war bereits später Abend, als sie das Ordenshaus nahe Bremen erreichten. Ein großes mit Efeu bewachsenes Landhaus mitten im Nirgendwo lag vor ihnen. Direkt vor der Eingangstür des Anwesens hielt Tristan. Gleichzeitig stiegen sie aus und das Klacken der Autotüren unterbrach die friedliche Stille des Anwesens. Es war ein schöner, alter Landsitz, der etwas Geheimnisvolles ausstrahlte. Staksig ging Nela über den festgefahrenen Kies hinter Tristan her, der nun nervös den Türklopfer in der Form eines Schwans betätigte. Ein paar Schritte hinter ihm blieb sie stehen und schaute sich wachsam um. Jederzeit rechnete Nela mit dem Auftauchen der brutalen Birger.

      Augenblicke später öffnete sich die Tür, und ein im Frack gekleideter Butler stand vor ihnen. Als er Tristan erkannte, sagte er höflich: „Herr Paladin, kommen Sie doch herein.“ Tristan ergriff Nelas Hand, während sie das Haus betraten.

       „Ist Frau Bonengel zu Hause?“

      Aufmerksam schaute Nela sich in dem Foyer des Landhauses um. In dem Terrazzo unter ihren Füßen war kunstvoll das Mosaik einer Esche eingelassen. An den kalten Steinwänden hingen Wandteppiche mit farbenfrohen Abbildungen. Der Butler, dessen kurze Haare seinem wohlgenährten Gesicht eine Strenge verliehen, musterte sie argwöhnisch, sofort war er ihr suspekt. Auch innerlich spürte sie Tristans Schutz, der dicht vor ihr stand, immer noch ihre Hand haltend.

      „Wenn Sie hier bitte warten würden.“ Der alte Mann ließ sie in dem Vorraum zurück. Gebannt betrachtete Nela einen Wandteppich mit einem schwarzen Schwan, der seinen Flügel schützend über einen weißen Schwan legte. Schweigend verharrten sie dort. Schließlich kam der Butler zurück.

      „Frau Bonengel erwartet Sie im Salon.“ Er machte eine einladende Geste, ihm zu folgen.

      Als sie das gemütliche, mit antiken Möbeln ausgestattete Empfangszimmer betraten, eilte eine ältere Dame auf Tristan zu. Nela befand sich immer noch hinter dem Rücken ihres Beschützers. „Tristan, ich hörte von dem Angriff der Birger auf die Vanadis“, entfuhr es ihr sogleich bestürzt. „Die Linie ist…“ Weiter sprach sie nicht, da sie nun Nela bemerkte. Fragend schaute die Dame Tristan mit wachen Augen an. Die Altersfalten verliehen ihrer Mimik eine ihr vertraute Autorität. Anscheinend hatte Johanna eine andere Person an seiner Seite erwartet.

       Tristan räusperte sich. „Johanna, darf ich dir Lunela Vanadis vorstellen?“

      Die ältere Frau schenkte ihr ein Lächeln, das Nela unsicher erwiderte. „Mein Beileid, Frau Vanadis. Es muss sehr schwer sein, die Familie auf solch furchtbare Art zu verlieren.“

      „Alle?“, entfuhr es Nela verzweifelt und schaute Tristan hoffend an, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Unmöglich konnte nur sie überlebt haben! Konnte ihr Bruder ihnen denn nicht entkommen? Bilder des Angriffes drängten sich wieder in ihr Bewusstsein. Schüsse fielen. Der leblose Körper ihrer Mutter sackte in sich zusammen. Blut verfärbte den Rasen rot. Unfähig sich zu bewegen, starrte Nela den Leichnam ihrer Mutter an. Panik brach aus, und schmerzerfüllte Schreie begleitet von Gewehrsalven hallten durch den Garten. Beherzt griff sie nach ihrem Handy und wählte den Notruf. Doch bevor sie die Polizei alarmieren konnte, wurde ihr das Gerät grob aus der Hand geschlagen.

      Tristan drückte Halt gebend ihre Finger. „Niemand hat den Angriff überlebt.“ Seine Stimme klang mitfühlend, jedoch konnte Nela ihn nur entsetzt anstarren.

      „Sie sind die letzte lebende Vanadis“, stockte Johanna. „Wir müssen sehr gut auf Sie achtgeben und später, wenn alles geklärt ist, in unsere Geheimnisse einweihen.“

      „Johanna, wir werden immer noch verfolgt“, brach es angstvoll aus Tristan heraus.

      „Mach dir darüber keine Sorgen, Tristan. Dieses Ordenshaus ist nicht schutzlos“, erwiderte Johanna eindringlich. „Thomas“, wandte sie sich an den Butler, der bisher reglos an der Tür verweilte, „geben Sie dem Sicherheitspersonal Bescheid, dass jederzeit ein Birgerangriff stattfinden kann.“ Mit einer Verbeugung entfernte sich der Bedienstete, daraufhin richtete Johanna ihre Aufmerksamkeit auf ihre Gäste. „Es war richtig, hierher zu kommen. Vorerst seid ihr hier in Sicherheit.“

      Müde trottete Nela dem Bediensteten den langen, schlecht beleuchteten Flur zu ihrem Zimmer hinterher. Nur Leere fühlte sie in sich. Eine große Leere. Der Butler blieb stehen, um die Tür zu öffnen. „Dies ist Ihr Zimmer, Frau Vanadis.“ Abwesend, in ihrem Schmerz gefangen, ging Nela hinein und zog die Tür hinter sich zu. Erschöpft schaute sie sich um. Die Schönheit des Zimmers und die geschmackvolle Einrichtung nahm sie gar nicht wahr. Sie waren bedeutungslos.

      Nela griff nach dem Riemen ihrer großen Wildledertasche, der quer über ihrer Schulter lag. Mit einem dumpfen Laut landete die Tasche auf dem Holzboden. Ermattet öffnete sie die Tür zum Bad, ging schwerfällig und müde hinein. Sie stellte die Dusche an, danach zog sie ihre Kleidung

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