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ihnen auftauchen konnten. Wieder fiel ihr Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige. Was sie dort sah, sollte sie eigentlich beunruhigen, doch sie dachte nur an eines: So schnell wie möglich mussten sie zur Polizei. Dort fanden sie Zuflucht. Gefangen in ihrem fassungslosen Leid, brachte Nela dennoch keinen Laut über ihre Lippen. Unentwegt erinnerte sie sich an die schrecklichen Minuten, in denen das Entsetzen ausbrach. Schüsse, Schreie, Schmerzen.

      „Lunela, vorerst bist du in Sicherheit“, versprach ihr unbekannter Retter, während er sie mit seinen gütigen braunen Augen ansah. Sicherheit! Ein wundervolles Gefühl, welches zurzeit für Nela unvorstellbar erschien. In jeder Faser ihres Herzens hatte sich diese unerträgliche Furcht eingenistet, dennoch erwachte hinter dem Schleier ihr wacher Verstand und forderte Antworten, um das Entsetzliche zu begreifen. Gleichwohl wunderte sie sich, dass der namenlose Retter sie kannte. Woher? Nela konnte sich nicht entsinnen, ihm zuvor begegnet zu sein. Er trug lässige Alltagskleidung, also konnte er nicht auf der Familienfeier ihrer Eltern eingeladen gewesen sein. Waren sie sich vielleicht flüchtig auf dem Campus der Uni begegnet?

       Nach einer Weile wisperte sie mit zittriger Stimme: „Nela. Niemand nennt mich Lunela.“

      Verstehend nickte der Mann, dabei bewegten sich seine halblangen dunkelbraunen Haare. „Mein Name ist Tristan Paladin“, stellte er sich vor. „Und du bist Lunela Vanadis.“ Eine kleine Sprechpause entstand, in der er sie mit einem vertrauensvollen Lächeln betrachtete, bevor er sich verbesserte: „Nela.“

      „Woher kennen Sie mich?“, flüsterte sie ihre Frage misstrauisch. Zwar hatte er sie vor dem sicheren Tod bewahrt, aber aus welchem Grund? Wer war Tristan Paladin?

      „Das ist nicht einfach zu erklären“, wich er ihr aus, nachdem er einen tiefen Atemzug genommen hatte. Erstarrt blickte Nela ihn an, zugleich verstärkte sich der Griff um den Riemen ihrer Wildledertasche. Ihr Retter durfte sich nicht als Unmensch entpuppen!

      Mit einem boshaften Blick zielte der Attentäter mit seiner Pistole auf Nelas Kopf. In letzter Sekunde riss Tristan den Arm des Mörders hoch. Dadurch wurde der Schuss von seiner ursprünglichen Bahn abgelenkt und pfiff mit einem ohrenbetäubenden Knall haarscharf an ihrem Kopf vorbei. Die fürchterlichen Schreie sowie der markerschütternde Laut dieses einen Schusses kehrten in ihr Bewusstsein zurück und ließen sie innerlich aufschrecken. Sogleich blitzten die furchtbaren Bilder ihres ermordeten Vaters auf. In seinem letzten Blick lag die stumme Forderung, sie müsse dieses Massaker überleben.

      „Wissen Sie, wer diese skrupellosen Männer sind, die meine Eltern und mich ohne Grund überfallen haben?“ Langsam löste sie sich aus ihrem Schockzustand, indem sich der schützende Schleier lichtete, sofort drängte die schmerzende Trauer in ihr empor, doch mit einer enormen Willenskraft sperrte Nela sie tief in ihrem Innern ein. Jetzt war nicht der richtige Moment, einem hysterischen Weinkrampf zu erliegen.

      „Birger“, mehr erwiderte er nicht. Das war keine zufriedenstellende Antwort. Wer verbarg sich hinter den Birgern? Warum töteten sie während einer Familienfeier unschuldige Menschen?

      Stur richtete er seine Augen auf die vielbefahrende Fahrbahn, die sie, inzwischen dem Verkehrsfluss angepasst, entlangfuhren. Anscheinend wollte er ihr keine Fragen beantworten. Jedenfalls jetzt nicht. Seufzend wandte Nela ihren Kopf ab, weil sie in ihrem jetzigen Zustand keine Kraft zum Beharren auf Antworten fand.

      „Vor langer Zeit schloss sich eine Gruppe fanatischer Menschen zu einem Orden zusammen. Sie bezeichnen sich selbst als die Bewacher der Menschheit. Die Birger sind Feinde unseres Ordens. Sie wollen uns vernichten“, fuhr Tristan überraschend fort, sodann beobachteten Nelas grüne Augen ihn aufmerksam. Sein markantes Profil kam ihr bekannt vor, doch sie konnte es nicht einordnen. „Eigentlich darf ich dich nicht einweihen. Du bist eine Unwissende.“

      „Unseres Ordens? Unwissende?“, wiederholte Nela verwirrt, während sie nachdenklich seine Gesichtszüge betrachtete, die ihr aus einem unerklärlichen Grund vertraut waren.

      Kurz nickte Tristan. „Wir gehören demselben Orden an. Sein Name lautet Elhaz. Das Wort Unwissende erklärt sich von selbst.“

      „Ja, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“

      „Ich werde zum nächsten Ordenshaus fahren, dann sehen wir weiter“, erzählte Tristan ihr sachlich.

      „Wo befindet sich das nächste Ordenshaus?“

      „In der Nähe von Bremen.“

      „Wir müssen sofort zur Polizei!“ Ein mulmiges Gefühl kroch in Nela empor, dass ihr das Atmen erschwerte, und ihr die Kehle zuschnürte. Konnte sie Tristan vertrauen? Warum hatte er sie gerettet? Was wollte er von ihr? Immer mehr Fragen bildeten sich strudelnd in ihrem Kopf.

      Kurz schaute er sie nachdenklich an, bevor er mit einer sehr ernsten Stimme beschloss: „Die Polizei lassen wir besser aus dem Spiel.“

      „Wieso?“, stieß sie aufgewühlt aus.

      „Die Polizei weiß nichts von uns, von unserer Welt.“ Unsere Welt? Keine Polizei? Ist es ein Fehler, ihm zu vertrauen? Heftig raste ihr Herz in der Brust, während sie sich hilfesuchend umsah. Schließlich entdeckten ihre Augen ein Schild mit der Aufschrift „Raststätte Ostetal“.

      „Halt an!“, forderte Nela panisch. „Halt sofort an!“ Verwundert schaute Tristan sie an, aber kam ihrer Bitte nach. Der Scirocco verließ die Autobahn und rollte auf den belebten Rastplatz. „Wir müssen...“, mahnte Tristan eindringlich, doch bevor der Wagen zum Stillstand kam, öffnete Nela die Tür und sprang hastig heraus, wobei sie fast über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Fluchtartig rannte sie an den parkenden Fahrzeugen vorbei zu der Schutz versprechenden Raststätte. Überall befanden sich Menschen. Hier war sie in Sicherheit. Zumindest hoffte sie es.

      „Nela!“, hörte sie Tristan beunruhigt hinter sich rufen. Doch sie lief weiter und taumelte angsterfüllt durch den Eingang des Restaurants.

      „Ich brauche Hilfe!“, schrie sie in den großen Gastraum, dabei blickte sie sich flehend um. Doch keiner der Anwesenden interessierte sich wirklich für ihren Hilferuf. Nur vereinzelte, neugierige Blicke und genervtes Gemurmel. Eine Kellnerin rief ihr zu: „An der Tanke bekommen Sie Hilfe.“

      Fassungslos stand Nela am Eingang. Sie hatte doch kein Problem mit dem Auto! Anscheinend erweckte sie mit ihrem eleganten Sommerkleid, das ihrer femininen Figur schmeichelte, den hochhackigen Sandalen und ihren lässig hochgesteckten dunkelblonden Haaren nicht den Eindruck, dass sie auf der Flucht war.

      Jemand umfasste ihren Arm mit bebenden Fingern, daraufhin zuckte sie erschrocken zusammen. Ihr Herz raste, zudem erschwerte ihr das drückende Gefühl der Angst das Atmen. Tristan schenkte ihr ein freundliches Lächeln, überdies war in seiner Mimik kein Zorn oder eine Verärgerung zu erkennen, aber er wirkte höchst alarmiert und schaute sich angespannt nach allen Seiten um. Aller Vernunft zum Trotz verspürte Nela keinen erneuten Drang, die Flucht zu ergreifen.

      „Ich will dir nichts tun. Im Gegenteil. Ich beschütze dich, weil ich dein Wächter bin. Dein Schicksalswächter“, raunte Tristan ihr zu, augenblicklich zog er sie nach draußen. Erstaunlicherweise vertraute Nela diesem Mann, obwohl die Angst ihr stetig zuflüsterte, vor allem und jedem auf der Hut zu sein. Unbegreiflicherweise fühlte sie sich in seiner Nähe sicher. Tristan, ihr Beschützer, der sie vor diesem eiskalten Attentäter mit den hasserfüllten Augen rettete.

      Stockend atmete Nela ein und aus. Niemand interessierte sich für die beiden. Niemand sah hin. Würden sie auch noch wegsehen, wenn sie lautstark um ihr Leben schrie?

      Beim Scirocco angekommen, löste Tristan seine Hand von ihrem Arm. „Wir sollten weiterfahren. Überall können uns Birger auflauern“, drängte er gehetzt.

      Als sie wieder im Auto saßen, schnallte Nela sich mit zitternden Händen an. Kurz darauf, nachdem er ihr einen ermutigenden Blick zugeworfen hatte, startete Tristan den Motor und fuhr zurück auf die Autobahn.

      Einem unerklärlichen Drang folgend, warf Tristan einen Blick in den Rückspiegel und bemerkte einen Mann, der ihnen mit einem hasserfüllten Blick hinterher sah, während er sofort sein Handy ans Ohr legte, dabei wurde seine auffällig große

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