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werden Puppen und Teddys lebendig.

       25.12.1973

       Ich bin eingeschlafen.

       Eine leichte kleine Wölbung des Papiers spricht weiter. Von dem Schmerz der verpassten Gelegenheit, über die Enttäuschung des Versagens.

       Achtlos überblättere ich die nächsten Seiten. Kümmere mich nicht um das Leben, das sie verbergen, finde die Eintragung des nächsten Jahres.

       24.12.1974

       Ich habe mir eine Taschenlampe gewünscht, damit ich bis Mitternacht lesen kann.

       Das Kind wusste, warum diese Stunde von Bedeutung war, es konnte auf eine Erklärung verzichten.

       25.12.1974

       Scheiß-Schlaf.

       Da hatte ich sicher gelernt, Wut in Sprache zu verwandeln.

       Was den Mund so verließ, musste sich nicht mehr als Tränen den verschlungenen Weg nach außen bahnen.

       An das nächste Jahr erinnere ich mich noch.

       Es war das Jahr, in dem das Vertrauen in meine Eltern zum ersten Mal einen Riss bekam.

       »Ihr weckt mich auch ganz bestimmt?«, hatte ich unter dem leuchtenden Christbaum gefragt.

       »Das haben wir dir doch versprochen«, hatten sie einträchtig geantwortet.

       Aber dann war ich am anderen Morgen wach geworden und hatte sie mit ihrer Waffe gezüchtigt: dem stummen, anklagenden Schweigen.

       Im nächsten Jahr war ich klüger.

       Es schien mir ganz einfach, mein Teddy sollte mich um Mitternacht wecken.

       Wenn er es tat, konnte ich diese Nacht mit ihm erleben, wenn nicht, dann war die ganze Geschichte ein Lügenmärchen der Erwachsenen.

       An diesen Weihnachtsmorgen habe ich noch oft gedacht.

       Niemand hatte mich geweckt.

       Jetzt kannte ich den Schlüssel zur Lüge.

       Ich musste die Drohungen und Warnungen nur an der Wirklichkeit überprüfen.

       Von diesem Tag an führte ich den Schwarzen Mann, den Osterhasen und Gott in Versuchung. Immer wieder, bis ich erkannte, dass Erwachsene sich mit Lügen umgaben, um die Macht zu behalten.

       Ich lernte die großen Menschen zu unterscheiden.

       Meine Eltern und noch ein paar andere versuchten, ihre Geheimnisse zu verstecken.

       Hinter Märchen, die sie selbst wohl einmal geglaubt hatten.

       Manche Erwachsene aber antworteten mit richtigen Sätzen.

       Ihre Geschichten konnte ich anhand von alten Fotografien, Bilderbüchern und mit Hilfe meiner eigenen Erfahrungen überprüfen.

       Die Welt sah plötzlich ganz anders aus.

       Es gab keinen Schwarzen Mann, der mich holte, wenn ich Schokolade stibitzte.

       Doch am nächsten Samstag konnte es keine Süßigkeiten geben wie sonst, die Geldbörse war leer und die Bonbondose auch.

       Ich fing an, vieles zu verstehen und an die Erklärungen dieser Erwachsenen zu glauben.

       Noch heute liebe ich es, ihnen zuzuhören und die Bücher, die sie empfehlen zu lesen.

       Ein solches Buch, das ich vor vielen Jahren gelesen habe, hat mir meinen Traum zurück gebracht.

       Ihm verdanke ich diese Nacht hier. Auch wenn es Jahre gedauert hat, bis ich den Traum wiederfand.

       Neue Träume hatten diesen weit fortgeschoben.

       Das Vertrauen zu meinen Eltern brach mehr und mehr auseinander.

       Schon rebellierte ich gegen ihr Weihnachtsfest.

       Mit Freunden auf einer einsamen Hütte im Schnee sah ich mich.

       Ein Bild, das jedes Jahr wiederkehrte, bis ich mich an den Heiligen Abend gewöhnt hatte.

       Auch mich hatten das Altern und der Alltag gezähmt, aus der Rebellion war Resignation geworden.

       So wäre es sicher geblieben, wenn mich nicht diese kleinen Hefte aus meiner Lethargie gerissen hätten.

       Erinnerungen spazierten plötzlich durch meinen Kopf, manche fanden Gefallen aneinander und bedrängten mich, den Heiligen Abend hier oben zu verbringen.

      Kapitel 3

      Meine Gedanken lösen sich aus dem Kreis der Erinnerung. Sie bestehen auf einer Pause, in der ich meinen Augen Auslauf lasse.

       Hinter dem Fenster scharen sich jetzt die Schneeflocken. Sie haben scheinbar einen Verbund gebildet, um den Einlass zu erzwingen.

       Ich fühle mich sicher.

       Die Erfahrung vieler Jahre lehrt mich, dass es ihnen nicht gelingen wird, mich zu besiegen.

       Das Glas steht als unüberwindbare Mauer zwischen uns.

       Das Feuer im Kamin hat seine Forderungen eingestellt und ruht sich aus, ehe ich ihm neue Arbeit vorlege.

       Es muss sich als Verwandter des Sisyphos fühlen.

       Sobald es einen Holzscheit verarbeitet hat, wird ihm ein neuer vorgeworfen.

       Eine Pause wird ihm kaum gestattet.

       Die Ur-Menschen haben erkannt, dass diese Freiheit ihr Ende bedeuten würde.

       Sollte das Feuer auch nur für einen Moment seinen Traum erleben, müsste es für immer verstummen und die Menschen mit ihm.

       Wird es mir auch so ergehen mit meinem Traum?

       Aber heutzutage gibt es Streichhölzer und Feuerzeuge, die das Feuer neu entfachen, meine Sorge ist also überflüssig.

       Die Gedanken treiben meine Augen weiter, sie wollen Erholung und keine Arbeit.

       Sie führen den Blick auf den Rucksack und erinnern mich an Tee und Gebäck, die mir den einsamen Heiligen Abend versüßen sollen.

       Auf dem Weg zur Kochplatte streife ich den Teddybären, der still und abwartend auf dem Tisch sitzt.

       »Na du«, grüße ich ihn, aber er antwortet nicht, sicher sammelt er Kräfte für das Leben nach Mitternacht.

       Ein Buch war es, das mir das Vertrauen in meine Puppen zurückgab.

       Alice im Wunderland bestätigte sicher nicht nur mir, was ich als Kind ahnte: Mein Teddy war ein weiser, aber schweigender Beobachter meines Leides und meiner Freude.

       Alice gab mir auch meine Eltern zurück.

       Nun musste ich sie nicht als ständige Lügner betrachten, sondern nur als gelegentliche Schwindler.

       Ich vertraute den anderen Erwachsenen, die mir das Buch geschenkt hatten.

       Sie würden mir keine Märchen, nur Wahrheit geben. Also war dieses Märchen wahr.

       Diese einfache Logik der Kindheit, die wir Erwachsenen meist ablehnen, ohne zu beachten, dass sie vieles erleichtert.

       Alice hatte mir meinen Traum zurückgegeben.

       Ich hatte ihn jedoch vergessen, denn bald darauf beschäftigten mich andere Dinge:

       Ob der Klassenkamerad mich wohl auch liebte?

       Warum hatte ich keine Freundin?

       Hatten mich die Freundinnen verraten, als sie mich von ihrer Fete ausschlossen? Welch existenzielle Fragen den Teenager gequält hatten.

       Heute sehe ich sie ganz anders.

       Nein, ich lache nicht über sie, ich erkenne in ihnen den Schmerz, der mich weiter quält.

       Das Leid an den Menschen, die nur an sich denken.

       Das Leid an den Menschen, die sich selbst als Ebenbild Gottes darstellen und andere erniedrigen, die dieser Vorgabe nicht entsprechen.

       Das Leid an den Menschen, die nicht erkannt haben, dass Gott viele Menschen geschaffen hat.

       Er hätte sich mit einem

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