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nur er, Gis, sie nicht vernahm? Es war an der Zeit aufzubrechen, nicht alte durch neue Knechtschaft zu ersetzen. Aus seinem Dorf wurde er vertrieben, die in der Unterdrückung liegende Geborgenheit wurde ihm gewaltsam genommen. Er durfte nicht wieder darauf warten, dass die Götter ihn zwangen, seinen Weg zu gehen, durfte nicht wieder so viele Leben gefährden. Er musste aufbrechen und frei sein. Seine Augen trafen die der Schwarzen. Stehen nicht die Pferde den Göttern am nächsten, fragte Gis sich selbst und das Pferd. Und das Pferd sah ihn ruhig an, ließ Ruhe in die aufgewühlte Seele des Jungen einkehren. Er wollte aufbrechen, wollte seine neuen Kleider packen, sich auf seine Stute schwingen und in die Welt ziehen. Er wollte es nicht gleich tun. Auch bei diesem Gedanken blickte ihn das Pferd ruhig an, als bestätigte es seinen Plan. Er wollte erst den Winter vergehen lassen. Mit der Kraft des Frühlings wollte er sich auf den Weg machen. Gis stand auf, drückte sein Gesicht in das weiche schwarze Fell, strich mit der Rechten über die lange schwarze Mähne, umfasste mit der Linken den kräftigen schwarzen Hals. Endlich wusste er, was er wollte.

      "Ich nenne dich Alitiksok, Taube. Mit dir werde ich davonfliegen." Gis sprach die Worte leise. Er musste lernen, sich zu beherrschen, musste lernen, vorsichtig und verschlagen zu sein. Er würde auch töten müssen. Er würde es tun, für die Freiheit, so wie er es für sich, für sein Leben, so wie er es für Kaya, die er einst meinte zu lieben, tat. Fest drückte er den schwarzen Hals. Pferde sind den Göttern so nah. Er war den Göttern so nah. Auf Alitiksok könnte er bis zu ihnen fliegen. Und doch hallte diese Stimme in ihm, die Stimme Adalberts, die Stimme, die Gis mit dem neuen Gott assoziierte. Du sollst nicht töten, rief sie in seine Seele, in sein Denken, in die ganze Welt.

      "Schweig", schrie Gis. Alitiksok sprang erschrocken zur Seite. Wollte sie ihn nicht bestätigen? War es nicht der Ruf seiner Götter, der Aufruf Wodans und Saxnots, die ihn aufforderten zu kämpfen? Und bedeutete Kampf nicht immer auch Tod?

      "Gib mir ein Zeichen Wodan. Sag, was ich tun soll Saxnot." Es war ein jämmerlicher, ein klagender, ein verzweifelter Ruf eines an der Grenze zum Mann stehenden Jungen, der alles verlor, was seine Welt ausmachte, der nichts als sein Leben rettend, eine neue Bleibe fand, eine neue Familie fand, der dennoch nicht zu ihnen gehörte, der sich im Stall verstecken musste, während sie feierten. Wie sollte er das Werk des Ziehvaters denn fortsetzen, wenn er keinerlei Kontakt zu Fremden haben durfte? Angestrengt dachte Gis nach. Frysunth würde ihn reich machen. Er zweifelte keinen Augenblick am Wort des Ziehvaters. Wenn er ginge, gäbe er das alles auf, gewänne jedoch die Freiheit zurück, das höchste Gut eines Sachsen. Und er müsste es nicht ertragen, Kaya in den Armen eines anderen zu sehen. Er gestand es sich nicht ein, dass seine Seele nach der dunklen Schönheit schmachtete, dass er durch Gleichgültigkeit, durch Gefangenschaft in sich selbst die Chance verstreichen, die Frau, die wirkliches Interesse an ihm zeigte, so ohne jeden Widerstand ziehen ließ. Sollten sie nicht besser gemeinsam fliehen, jetzt, sofort, unabhängig von Jahreszeit und Vorbereitung? Und ohne es zu wollen, formte Gis Seele das eine Wort, öffnete die Seele seinen Mund, warf die Seele diesen einen Namen gegen die Stallwände, zwischen die glänzenden Pferdeleiber, getragen von der erzitternden, staubgeschwängerten Luft.

      "Kaya", schallte es so laut, dass es selbst in Walhall nicht überhört werden konnte.

      Kaya erschrak, duckte sich hinter die braune Stute, die sie für ihren Plan auserkoren hatte. Woher wusste Gis, dass sie kam? Er konnte sie doch noch gar nicht sehen. Hatten noch andere ihr Gehen bemerkt, beobachtet, wie sie ihr Bündel nahm, sich zum Stall schlich?

      "Ganz ruhig meine Freundin", flüsterte Kaya der tänzelnden Stute ins Ohr. "Bald bis du frei. Bald sind wir frei."

      "Kaya?" Gis traute seinen Ohren nicht. War sie wirklich gekommen? Das musste das Zeichen sein. Erwartungsvoll sah er sich um. Stand Saxnot hinter ihm? Es war nur die Schwarze, Alitiksok, sein Pferd. Pferde sind den Göttern nah, dachte er und wusste, die Götter gaben das Zeichen, nach dem er schrie. Es gab kein Zurück mehr.

      "Sei still", fauchte Kaya und holte Gis in die Gegenwart zurück. Des Jungen Unbedachtheit ärgerte sie. Worauf ließ sie sich nur ein? Sie floh mit einem Kind, musste nicht nur auf sich, sondern auch noch auf dieses unbeherrschte Wesen achten. Doch dieses Wesen liebte sie. Er war nicht wie Tahnker, doch er konnte so werden, konnte noch viel mehr werden. Sie würde ihn formen, Gis, ihren Mann. Sie hatte nachgefragt, sich erkundigt, von Eludin, dem Knecht, dem im Sachsenland Geborenen, erfahren, was die Symbole auf Gis Körper bedeuteten, dass er nicht mehr als Kind galt, eine Familie gründen, seine eigenen Entscheidungen treffen durfte. In ihren Augen kam das zu früh. Doch es gab wohl Gründe, die sie nicht kannte. Auch Eludin konnte nur Vermutungen anstellen, meinte, Gis Eltern hätten alles nur symbolisch gemeint, den Weg des Kindes in die Hände ihrer heimischen Götter gegeben, ihn dem Christengotte und seinen Missionaren entziehen wollen, was sich dann ja auch als große Sünde erwies und grausame Strafe fand. So jedenfalls deutete Eludin Gis seltene Berichte über seine Vergangenheit. Der Knecht selbst war mit ganzer Seele konvertiert, hatte die Taufe mit jeder Faser seines Körpers angenommen, konnte in den heidnischen Bräuchen seiner ehemaligen Landsleute nur noch Teufelswerk sehen. Kaya hingegen sah, die Götter der Sachsen und ihre Götter ähnelten sich in so vielem, hatten verwandte Namen, wohnten im gleichen Hause. Für sie war Gis vor den sächsischen Göttern zum Manne geworden. Sie würde ihn vor Frigga zum Manne nehmen und mit ihm in die Welt gehen, mit ihm und als seine Frau leben.

      "Nimm die Schwarze und folge mir." Kayas Worte erlaubten keinen Widerspruch.

      "Sie heißt Alitiksok", wagte Gis lediglich zu sagen.

      "Also nimm Alitiksok und komm. Wir haben nicht ewig Zeit."

      Gis wusste, die Götter führten ihn, führten sie beide, hatten entschieden. Er würde ihrem Rat folgen. Es musste gut werden.

      Die Geräusche des großen Festes prallten laut gegen die Ohren der Flüchtenden. Es gab wohl niemanden mehr, der noch nüchtern, kaum einen, der noch Herr seiner Sinne war. Es gab keine bessere Gelegenheit, den Plan zur Flucht auszuführen. Zielstrebig schritt Kaya voran, die braune Stute an der Hand führend. Sie hatte ein Ziel, ihr erstes und letztes konkretes Ziel. An der Esche angekommen, band sie die Stute fest und forderte Gis auf, gleiches zu tun. Das ganze Dorf befand sich im Stadium der Agonie. Kaya wusste das. Es war jedes Jahr dasselbe. Erntedank begann mit Reden und endete mit völliger Trunkenheit. Niemand würde kommen. Sie konnte es hier tun. Am Beginn ihrer Flucht konnte sie Hochzeit mit Gis feiern. Ab diesem Moment wären sie unzertrennlich. Kaya wusste von der alten Skroba, was sich zwischen Mann und Frau tat, beobachtete die Zieheltern mit ganz anderen Augen, nachdem ihr die sowohl als Heilkundige als auch als Hexe angesehene Frau das Geheimnis der Vereinigung offenbart hatte. Für einen kurzen Moment bedauerte sie, nicht noch viel mehr von der Alten gelernt, nicht noch viel tiefer in das Wissen um den Kreislauf des Lebens, um Krankheit, Gesundheit, Heilkunst und Magie eingedrungen zu sein. Doch dafür blieb keine Zeit. In spätestens zwei Tagen wäre sie Tahnkers Frau. Sie musste heute den anderen, den einen nehmen, wollte sie ihn nicht auf ewig verlieren.

      "Zieh dich aus", befahl sie Gis, blickte ihm tief in die Augen und begann auch selbst, die Kleider abzulegen. Gis Körper wogte. Er hatte Ähnliches schon einmal gespürt. Schon einmal hatte Kaya ihm unbekannte Gefühle geweckt. Damals vergingen sie wieder. Diesmal wollte er alles dafür geben, dass sie ewig blieben. So tat er, wie sie ihm befahl. Bald standen sie nackt voreinander, musterten einander von Kopf bis Fuß, sahen die Veränderungen am Körper des Gegenübers, mussten sich von einer inneren Stimme getrieben erst zögerlich, dann umso intensiver berühren, erst auf Abstand, dann bis zum Aneinanderschmiegen ihrer Körper zusammentreten. Kaya spürte, wie sich ihre Brüste strafften, wie sie nach Gis Händen, nach seinem festen Griff gierten. Noch fester, wollte sie rufen. Er schien sie ohne Worte zu verstehen. Sie schlangen die Arme umeinander. Kayas Schoß trieb Gis Männlichkeit fast zur Verzweiflung. Doch zunächst suchte ihr Mund den seinen, ihre Zunge die seine. Er konnte nichts bestimmen, wusste nicht, was kommen würde, wusste nur, dass es wunderschön sein würde, dass er es immer wieder würde spüren wollen, dass er mit dieser Frau auf ewig vereint sein musste. Kaya drückte ihn zu Boden, setzte sich auf ihn wie auf ein junges Fohlen, ganz vorsichtig, sich abstützend, die eigene Last ausbalancierend. Sie zeigte ihm den Weg und er folgte ihr. Aus dem Fohlen wurde ein Pferd, ein galoppierendes, schäumendes, rasendes Pferd. Kaya schrie, als sie spürte, was sie noch nie spürte. Gis

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