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bei, das sie sich in ein kleines Buch schrieb. Sie erklärte ihm im Gegenzug, was ein It-Girl und ein Influencer war, welche Promis Spanx trugen oder bei wem sich die Nase oder das Kinn nicht mehr in ihrer ursprünglichen, natürlichen Form befanden. So lernte sie nach und nach die Worte Aktiva und Passiva, den Unterschied zwischen Gewinn und Umsatz und was eine Mehrwertsteuer war. Eines Morgens wachte sie auf und konnte genau den Unterschied zwischen der doppelten und der einfachen Buchhaltung erklären, weil sie inzwischen über dreißig Seiten in ihrem Buch vollgeschrieben und damit langsam einen Einblick in die Welt der Finanzen bekommen hatte. Am nächsten Tag besuchte sie den Buchhalter an seinem Schreibtisch, unterhielt sich mit ihm über das Thema Bilanzierung und diskutierte die Vor- und Nachteile dieser und jener Unternehmensform. Drei Monate später unterschrieb sie ihren Ausbildungsvertrag zur Kaufmännischen Angestellten im Autohaus, verbesserte sich damit finanziell ein wenig und sah eine Zukunft vor sich, die rosig zu werden schien.

      Als der Buchhalter vor einigen Jahren verstarb, fehlte Jen ein Teil ihres Lebens, den sie sehr vermisste. Er hatte ihr eine neue Sichtweise auf die Dinge gelehrt, und bis heute trug Jen das Gefühl in sich, diesem Menschen viel zu verdanken. Noch heute öffnete sie manchmal die letzte Seite des Notizbuches, um seine Worte zu lesen, die er ihr dort hinein geschrieben hatte.

      Vor zwei Jahren war ein Kunde in das Autohaus gekommen, um sich die Wagen der gehobenen Klasse mit Sonderausstattung anzusehen, und Jen war bis heute offiziell Single, denn nie und niemandem gegenüber verlor sie auch nur ein einziges Wort darüber, seit eben jenem Tag die Geliebte eines verheirateten Familienvaters zu sein. Von Anfang an war ihr klar, dadurch ein Stereotyp zu werden, zu einem Klischee, das Vorurteile bestätigte und sie in eine Form pressen würde, in der sie sich selbst nicht sah.

      Jen legte ihren kleinen Koffer auf das Bett und stellte den Ventilator an. Aus einer Schublade holte sie die Unterwäsche hervor, die sie nicht oft trug, weil sie nicht sonderlich bequem war. Sie legte sie auf das Bett und machte ein Foto davon, das sie John schickte. John, dessen Geliebte sie war, dessen Geheimnis, dessen Flucht aus seinem Leben. John, der als Familienvater Jonathan hieß und achtzehn Jahre älter war als sie, der ihr die Unterwäsche an einem Winterwochenende geschenkt hatte, das sie außerplanmäßig in der Schweiz verbrachten. Wieder so ein Klischee. Auf ihrem Handy durchsuchte sie die Fotos, die sie in der letzten Zeit aufgenommen hatte. Die einzigen Bilder, die sie je von einem Fotografen machen ließ, waren die für die Internetseite des Autohauses, die sie auch auf den Businessnetzwerken verwendete. Die Finanzbuchhalterin Jennifer L. trug die Haare zu einem Zopf gebunden, einen Blazer in Größe achtunddreißig und ein schlichtes, aber elegantes Oberteil darunter. Um den Hals trug sie eine Silberkette mit einem silbernen Anhänger in Form eines Widders und kleine Ohrstecker in den Ohrläppchen. Ihr Make-up war dezent, ihr Lächeln sympathisch aber angemessen zurückhaltend, und ihre Stärken waren der sichere Umgang mit allen gängigen Computerprogrammen im Bereich Finanzbuchhaltung, selbstständiges Arbeiten und Zuverlässigkeit. Und weil sie nur durch einen Freund in den Job als Bedienung in einem Steakhouse und ihre Ausbildung als kaufmännische Angestellte gerutscht war, war sie nie auf die Idee gekommen, ihr öffentliches Image zu hinterfragen oder auf seine Funktionalität hin zu überprüfen. Jen wechselte den Ordner und sah sich die privaten Schnappschüsse an, auf denen sie zu sehen war. Diese Bilder zeigten einen fröhlichen Menschen, tierlieb, weil Katzenbesitzerin, mit einer Vorliebe für Makroaufnahmen und Schattenspiele an öffentlichen Gebäuden. Eines Tages wollte John wissen, warum sie ihre Fotomotive so aussuchte, und sie erklärte ihm, dass Schatten die Sicht auf die Welt verändern. „Du bist klug“, hatte er gesagt, sich zu ihr gedreht und das Geschenk mit der Unterwäsche hervorgeholt. Wenige Stunden später waren sie in ihre Leben zurückgekehrt, und Jen schickte ihm von Zeit zu Zeit ein Bild von ihr, das er oft nur kurz kommentierte. Von ihm bekam sie selten Bilder zugeschickt, denn er war Jonathan, ein verheirateter Mann, der im Winter Schneemänner mit seinen Kindern baute und ihnen im Sommer den Kopfstand beibrachte. Und der regelmäßig Seminare besuchte und viele Geschäftsreisen unternahm. Vor knapp einem Jahr lernte Jen einen anderen Mann kennen, verliebte sich in ihn, und für einige Monate war sie glücklich. Weil John und sie immer offen und fair zueinander waren, wusste er Bescheid. Nach einigen Monaten entschied Jen, diese Beziehung wieder zu beenden und erzählte es John bei ihrem nächsten Treffen. „Tut mir leid“, sagte John und meinte es ernst.

      Jen scrollte immer weiter herunter und war inzwischen bei Bildern aus dem vorletzten Jahr angekommen. Würde sie all die Bilder zusammenlegen zu einer Collage, sähe diese aus? Zeig mir deine Freunde, und ich sage dir, was für ein Leben du führst, zeig mir deinen Kleiderschrank, und ich sage dir, welche Persönlichkeit du hast, zeig mir deine Musiksammlung, und ich weiß, wer du bist. Oder wer du nicht bist.

      Jen legte das Handy zur Seite und packte einige Sommersachen in den Koffer, ein paar bequeme Sandalen und die hohen Schuhe. Noch gab es keine Nachricht von John, vielleicht war ihm ein Termin bei der Arbeit dazwischen gekommen. Genauso gut konnte er auch schon zu Hause sein und seinen Koffer für das Seminar packen, das er vorgab zu besuchen. Für Jen benutzte er ein Prepaidhandy, das er nie mit nach Hause nahm, sondern das immer im Büro in einer Schublade blieb, die er abschließen konnte, oder in seinem Dienstwagen.

      Jen packte ihr Schlafshirt ein, auf dem Joy and Fun stand. Ein uraltes Ding, das sie gern trug. Sie füllte ein Schälchen mit Katzenfutter auf und stellte eine zweite Schale Wasser daneben, dann trug ihren kleinen Koffer die Treppe hinunter und schickte John eine Nachricht, dass sie nun losfahren würde. Noch immer zeigte ihr Display keine Mitteilung von John an.

      

       Sonja und Richard

      Sonja betrachtete ihr Alter, das sich in feinen Linien auf ihrer Haut abzeichnete, im Spiegel. Seit vielen Jahren praktizierte sie regelmäßig Yoga und Pilates, sie versuchte, sich fit zu halten, aber mit dreiundsechzig war man einfach nicht mehr jung. Sie war schlank geblieben, worüber sie sehr froh war, aber was sie störte, war das Hin- und Herschieben der Haut, wenn sie sich eincremte. Ihre Haut war schon immer trocken gewesen, und nun rächten sich die vielen Sonnenbäder der letzten Jahrzehnte. So war das früher, man war an den Stand gegangen und verschwendete keine negativen Gedanken darüber, ob das stundenlange Sonnenbaden gesund sei oder nicht. Obwohl man damals schon wusste, dass in der Ozonschicht ein Loch klaffte. Dieses war nicht so einprägend wie das Waldsterben, denn schließlich lebten im Wald viele putzige Tiere, die alle ihr Zuhause verlieren würden, wenn es den Wald bald nicht mehr gäbe. So ein heimatloses Reh war viel bildhafter als ein Loch in einer unsichtbaren Ozonschicht.

      Richard stand in der Küche und bereitete das Frühstück vor. Sie hörte, wie er den Oberschrank öffnete, eine der kleinen Glasschüsseln hervorholte und auf die Anrichte stellte. Sogar das Abreißen des Küchenpapiers hörte sie deutlich, ihre Ohren waren noch erstaunlich gut und auch ihre Augen. Nur zum Lesen brauchte sie eine Brille. Richard öffnete den Kühlschrank, schloss ihn wieder, und wenige Sekunden später hörte Sonja das Aufschlagen der Eier. Sie wusste genau, dass Richard die Eierschalen auf das bereit gelegte Küchenpapier legte und hörte kurz darauf das Zuschlagen der Schranktür, hinter der sich der Mülleimer versteckte. Biomüll, Plastik, Restmüll und Altpapier. Sie legte Wert auf Ordnung. Die Kaffeemaschine gab ein Schnauben von sich, wie immer, wenn sie durchgelaufen war. Richard deckte den Tisch, und Sonja wusste, dass er ihre Lieblingstasse auf den Tisch stellte. Würde sie plötzlich eine andere Tasse bevorzugen, er würde trotzdem immer diese eine neben ihren Teller stellen, denn Richard war ein Gewohnheitstier. Sonja zog sich an und lief die Treppe herunter ins Wohnzimmer mit der offenen Küche. Richard saß schon am Tisch, die Zeitung lag aufgeschlagen vor ihm. Eine Angewohnheit, die sie immer nervte, wenn sie selbst nichts nebenher zu lesen fand. Die Tageszeitung las sie ungern, sah sich dafür aber jeden Abend zwei Mal die Nachrichten im Fernsehen an. Sie kam sich ignoriert vor, wenn er beim Frühstück hinter der Zeitung verschwand und sie sich nicht in eine Illustrierte vertiefen, das Fernsehprogramm studieren oder an ihrem Handy herum tippen konnte.

      „Freust du dich schon auf das Wochenende?“, fragte sie, um ihn von seiner Zeitung wegzulocken. „Natürlich.“ „Was meinst du, wie lange werden wir brauchen?“ Richard schaute sie über den Zeitungsrand an. „Haben wir doch gestern alles schon nachgeschaut. Knapp drei Stunden.“ Er versenkte seinen Blick wieder in die Zeitung und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, auf der in verblassten

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