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zuträglich war. Andernfalls fischten die Beamten des Öfteren im Trüben. Dann verfolgten sie die Methodik von Köder und Streuung. So viel Appetithäppchen wie möglich auf den größtmöglichen Radius verteilen und warten, bis der nervöseste Fisch anbeißt.

      Angesichts der Untätigkeit der Kriminalisten bestanden nicht unerhebliche Unterschiede zur Schutztruppe, die präventiv und aktiv agierte, bei Wind und Wetter, gegen zuschlagende Diebe und räuberische Gewalttäter. Die Kriminalisten, dagegen, konnten nur herumsitzen und warten, bis der getretene Hund bellte oder der morgendliche Hahn krähte, ferner das Telefon klingelte. Ein regelrechter Graben entfaltete sich zwischen den beiden Polizeigattungen. Die uniformierten Männer der Schutzpolizei, der Schupo, hatten nicht selten Vorbehalte gegen die im feinen Zwirn auf ihren Ärschen hockenden Schaumschläger der Kriminalpolizei, der Kripo.

      Unfall

      Gideon Voss war so ein Schaumschläger. Nicht weil er übermäßig klug und dadurch prädestiniert für den Kriminalkommissar war oder weil er eine ausgezeichnete Vorgeschichte in seiner Vita stehen hatte, die seine steile Karriere begünstigte, sondern weil das Neunte Polizeirevier im öden Randgebiet der Stadt einen Kommissar brauchte, der die Nachtschicht übernahm, sprich am Telefon auf einen Anruf wartete. Da chronischer Personalmangel herrschte, vor allem im verpönten Beruf des Polizisten und in den Nachtstunden, hatte er sich gemeldet. Als versehrter Schutzpolizist, der der Stadt auf der Tasche lag, weil er nur noch für den Innendienst geeignet war, hatte man ihn sehr geschwind nach oben befördert. Nach oben, weil es einen Aufstieg im Dienstgrad bedeutete, aber auch nach oben, weil er in seinem Revier vom Erdgeschoss in den ersten Stock ziehen durfte, wo die Kriminalpolizei mit ihren Büros über den Mannschaftsräumen der Streife laufenden Schutzpolizei thronte.

      Ein Vorfall hatte seine Laufbahn bei den Uniformierten rasch beendet und ihn ins Revier gesperrt: Pflege der Ausrüstung, Empfangsdame, Essensversorgung der Mannschaft. Seine unterdurchschnittlichen Leistungen hatten ihn schnell unbeliebt gemacht, denn beim persönlichen Wohlfühlbereich endete die Kollegialität. Er hatte einfach keine Lust gehabt, seinen Kameraden den Mund abzuwischen. Den Dienst nach Vorschrift, sofern es für das Geschirrspülen eine Vorschrift gab, erledigte er an der Grenze zur Arbeitsverweigerung. Dafür hatte er sich im städtischen Dienste nicht über den Haufen schießen lassen.

      Voss mochte die Nachtschicht. Die Schutzpolizei reduzierte auf die Hälfte, was den Geräuschpegel erheblich verminderte, und im ersten Stock des Gebäudes verrichtete er allein seinen Dienst, denn die Kriminalpolizei hielt nachts nur einen Beamten in Bereitschaft, zumindest im Neunten Bezirk, im Randgebiet der Stadt. Durch den Zwiespalt zwischen Ordnungshütern der einen Seite, unter ihm, und Ordnungshütern der anderen Seite, seine Seite, musste er auch nicht befürchten, dass ihn jemand störte. Es sei denn, seine Befugnisse waren von Nöten, was äußerst selten vorkam. Verbrechen, die seiner bedurften, wurden zumeist erst am nächsten Morgen gemeldet, was dann der Tagdienst übernahm. Er vertrieb sich die Zeit mit zwei Dingen: Schuhe und Schokolade.

      Voss trug seine pechschwarzen Haare glatt nach hinten gestrichen, gehalten von einer dicken Schicht Pomade. Sein Gesicht war glattrasiert, wie das der modische Herr von damals bevorzugte. Ein schlichter Anzug machte ihn auf der Straße unsichtbar, wenn er nicht sein Beinholster mit der Pistole umgeschnallt hatte. Das übliche Schulterholster, das in zivil verdeckt unter der Jacke getragen wurde, engte ihn ein und schabte über die Wunden auf seinem Rücken, die ihn seit dem Vorfall stigmatisierten.

      In seinem Büro – ein kleiner Raum mit zugemülltem Schreibtisch, den er sich mit den Tagschichtlern teilte – schlüpfte er aus seinen Schuhen und genoss die Freiheit, lediglich das Gewebe der Socken zwischen Fußsohle und Teppichboden zu haben. Viel wichtiger war jedoch sein routinemäßiger Usus seine Schuhe akribisch zu putzen. Jede Nacht.

      Immer wenn er seine einsamen Stunden absaß, wichste er, bis der Arm krampfte und seine schwarzen Schuhe glänzten. Dabei beeilte er sich keineswegs. Er hatte genügend Zeit. Wenn er mit einem Schuh fertig war, gönnte er sich eine Pause, wo er seinem anderen Laster nachging. In der Schublade lagerten golden eingewickelte Schokoladentaler. Jeden einzelnen entpackte er voller Vorfreude. Genüsslich schob er sich die Taler in den Mund, ließ sie für eine Weile auf der Zunge zergehen und zerkaute anschließend den Rest. Wäre er nicht allein gewesen, hätte man ihn gebeten, nicht bei jedem Kiefermalmen lustvoll zu stöhnen. Aber so konnte er sich dem Spektakel ohne Bedenken hingeben.

      Die Nacht war sein Freund. Er hasste den Trubel des Tages, hasste die Helligkeit und die Wärme der Sonne, hasste die Offenheit, die jeden Makel offenbarte. Nachts ist der Mensch ein schwaches, verletzliches Tier; braucht künstliches Licht, um zu sehen; fürchtet sich vor allem und jedem. Voss konnte sich in der Finsternis frei bewegen. Er bestimmte, wer ihn sehen und hören durfte, was er preisgab und was nicht. Aber er musste diese dunkle Tageszeit erst schätzen lernen. Dafür hatte er diesen Vorfall benötigt, der ihn aus seinem bisherigen Leben herausgeschleudert hatte.

      Nicht nur seine Patrouillentauglichkeit verlor er durch die Kugeln eines hinterhältigen Bankräubers, die ihn rücklings durchsiebten. Auch seine Frau entschied sich für den einfachen Weg und war verschwunden, als er eines Tages noch auf Krücken nach Hause kam. Einzig der Kater war ihm geblieben. Eine Erinnerung an sie, denn es war ihre Katze gewesen. Anubis hieß der kleine Racker.

      Seitdem seine Frau Hals über Kopf das Weite gesucht hatte, schlief Voss nicht mehr richtig. Der Mond zog ihn an, trat an ihre Stelle. Voss war süchtig nach ihm. Das nächtliche Umherwandeln hatte seinen Schlafrhythmus zerstört, wie auch einige Tassen, die er im Delirium auf einen imaginären Tisch stellen wollte. Also hatte er beschlossen die Nacht zu seinem Tage zu machen. Die vakante Stelle des Nachtkommissars kam ihm da gelegen entgegen. Er hatte keine Sekunde gezögert.

      In aller Seelenruhe widmete er sich dem zweiten Schuh. Er rubbelte daran, bis die trübe Wichse Glanz aus dem Leder herauskitzelte. Zufrieden stellte er die Treter neben den Schreibtisch. Sein Blick glitt zu den großen Zeigern der Wanduhr – die Geisterstunde war vorüber. Wie sonst auch, griff er blindlings in die Schublade, um sich weitere Schokoladentaler zu gönnen. Er tastete den Hohlraum ab, als er merkte, dass keine mehr da waren. Erschrocken schaute er hinein. Seine nervlich angeschlagene Hand hatte Recht. Selbst die eiserne Reserve im hintersten Eck der Schublade war aufgebraucht. Anscheinend hatte er nach dem ersten Schuh ordentlich zugeschlagen. Die Gedanken an den Vorfall und seine Frau trieben ihn zum Exzess.

      Voss überlegte kurz. Robert Schumann hatte Innendienst im Erdgeschoss. Einer der Kollegen, die die Mauer zwischen Schupo und Kripo ignorierten. Und das Beste an Schumann: er mochte die Goldtaler genauso gern. Sicherlich hatte der sich einen kleinen Vorrat für die Nacht mitgebracht. Voss schlüpfte in die frisch gewienerten Schuhe. Auf die Jacke oder das Pistolenholster verzichtete er. Schließlich musste er lediglich ein paar Treppen hinunter, betteln und die Treppen mit vollen Händen wieder hinauf. Ein letzter Blick auf den Telefonapparat. Das schrille Klingeln riss ihn immer aus seinem Dämmerzustand, auch wenn dies sehr selten vorkam.

      Im Erdgeschoss suchte Voss nach Schumann, dem bulligen Bullen. Der Empfangstresen war unbesetzt und im Aufenthaltsraum döste auch keiner. Die Streifentrupps mussten allesamt auf der Straße sein. Und Schumann? Voss krallte sich eine Taschenlampe vom Tresen. Nachts wurde die Gebäudebeleuchtung heruntergefahren. Zu dunkel fürs Berichtetippen, zu hell fürs Schlafen. Geradeso ausreichend, um zu überleben.

      »Schubi!« Voss hielt die als Patsche geformte Hand vertikal an den Mund, um den Ruf zu verstärken. »Schubi!«

      Schumann war der einzige Schutzpolizist, mit dem er zurechtkam. Möglicherweise lag das am geteilten Bedürfnis für Schokolade. Oder es lag an der gemeinsamen Vorliebe für die Nachtschicht. Oder am Händchen für einseitige, volatile Frauengeschichten.

      »Ja?«, schallte es aus dem Nebengang, der zu den Toiletten führte.

      Voss lachte. Schumann schien eine große Notdurft zu verrichten, so gepresst wie das Lebenszeichen durch den Flur drückte. »Hast du Taler dabei?«

      Die nächste Antwort ließ auf sich warten. Voss wusste, dass Schumann abwog, ob er das Geheimversteck verraten sollte oder nicht.

      »Aber lass mir was

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