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das verlor,

      was du verlorst,

      macht nirgends halt.

      NIETZSCHE

      »VEREINSAMT«

Schreibmaschinenschrift

      fen und das »Staatsoberhaupt eines befreundeten Landes« mit derben Worten beleidigt. Auch Ernst hatte sich in die Diskussion gemischt und seinerseits manch saftige Grobheit über die hohen Herren in Berlin laut werden lassen. Die Spitzel im Saal wußten natürlich genau, daß diese beiden unverschämten Redner Deutsche waren, die sich ohne Erlaubnis in der Republik aufhielten. Die diplomatische Vertretung des Dritten Reiches beschwerte sich bei den Prager Behörden über Hans Schütte und seinen Freund Ernst. Die zwei erkannten: Es gibt dicke Luft! – »Wir machen uns dünn!« beschloß Hans.

      Es fiel ihnen gar nicht leicht, sich von der Stube zu trennen, die sie nun seit drei Jahren miteinander geteilt hatten. Aber gerade dort wären sie gleich geschnappt worden. Sie zogen es vor, bei einem Kameraden zu übernachten. Der verschaffte ihnen auch falsche Pässe. Übrigens wollten sie diese nur im äußersten Notfall benutzen. Was sie für die nächste Zeit vorhatten, war eine Art von Fußtour durch Europa. Über die Grenzen hofften sie ohne Papiere heimlich zu gelangen – ohne echte Pässe und ohne Benutzung der gefährlichen falschen. »Irgendwo werden wir schon bleiben dürfen«, meinten sie beide – immer noch zuversichtlich, trotz allem, was an trüben Erfahrungen schon hinter ihnen lag.

      Sie verabschiedeten sich von den Kollegen, die ihnen manchmal Arbeit verschafft hatten oder ein bißchen Geld oder ein warmes Abendessen. Während all der Jahre war man wöchentlich mindestens einmal in dem kleinen Bierlokal zusammengekommen, um Gespräche über Politik zu führen. Man hatte sich oft gezankt; aber schließlich war man doch immer irgendwie einig geworden. Es trafen sich Deutsche, die Sozialdemokraten waren, mit solchen, die zu den Kommunisten gehörten, und auch Tschechen aus den beiden Lagern fanden sich ein. Die Meinungen gingen auseinander; Sozialdemokraten und Kommunisten, Deutsche und Tschechen gerieten sich in die Haare. Am Ende aber stellte sich heraus, daß zwischen allen diesen das Gemeinsame stärker war als das Trennende. Die Tschechen räumten den Deutschen ein: »Natürlich, wir haben auch Fehler gemacht, bei der Behandlung von den Minoritäten. Man versteht das, wenn man weiß, was wir früher auszustehen hatten. – Fehler lassen sich aber korrigieren.« – Die Deutschen erklärten: »Wenn bei uns zu Hause anständige Kerle regierten, dann würde alles in Ordnung kommen, auch zwischen eurem Land und dem unsern. Alles eine Frage des guten Willens! Aber den Nazis ist es doch gar nicht um die Sudetendeutschen zu tun. Es kommt ihnen nur drauf an, eure Republik kaputt zu machen.« Die Tschechen nickten drohend. »Gerade das aber werden wir ihnen nicht erlauben.« Über soviel Entschlossenheit freuten sich auch die Deutschen. Man vertrug sich, und die Streitigkeiten, die es zwischendurch gab, wurden vergessen.

      Fast drei Jahre lang hatte man debattiert – welch eine lange Zeit, wieviel Ereignisse, wieviel großen Gesprächsstoff hatte sie gebracht! Im Februar 1934 waren die Flüchtlinge aus Wien gekommen; dort hatte der Bundeskanzler Dollfuß auf die Arbeiter schießen lassen. Noch nicht ein halbes Jahr später ließen die Nazis auf den Bundeskanzler schießen; er verblutete, nicht einmal ein Priester ward zu ihm gelassen. Die Nazis wollten Österreich haben. Mussolini mobilisierte am Brenner. Die Nazis zuckten zurück. – Viel Gesprächsstoff für die Männer am Prager Stammtisch, von denen die meisten beinah nichts besaßen; aber alle hatten sie doch das Recht, frei zu reden und nach Kräften nachzudenken. Von diesem Rechte machten sie Gebrauch, und sie wußten es hoch zu schätzen.

      Das Jahr 1935 war noch nicht alt, da trafen schon wieder neue Flüchtlinge ein. Es waren solche, die an der Saar gegen den Anschluß des Gebietes ans Dritte Reich agitiert hatten. Die Saar wurde deutsch. Hitler hatte seinen Triumph – der auch jeder anderen Reichsregierung zugefallen, aber von keiner so dröhnend ausgenutzt worden wäre.

      Kurze Zeit danach führte das Dritte Reich die allgemeine Wehrpflicht ein. Erst war die Aufregung kolossal, und am Stammtisch schien man auf das Äußerste gefaßt; dann stellte sich heraus: die großen Demokratien ließen es sich gefallen. Nun fragte man sich besorgt: Wie weit wollen die Nazis gehen, damit England und Frankreich die Geduld verlieren? – Irgendwo aber muß eine Grenze sein – empfanden sie alle. Wird Hitler vor ihr zurückscheuen? Kann er das Letzte und Gräßlichste wagen? – Manche meinten: Die Grenze ist Österreich. Wien bekommt er nicht. Andere blieben skeptisch: England würde auch Wien opfern, um des lieben Friedens willen. – Aber Mussolini? – Antwort: Dem bleibt nichts anderes übrig. – Da erklärten die Tschechen: Wenn es keine andere Grenze gibt – unsere ist unüberschreitbar. Wenn er uns angreift, ist es der europäische Krieg. Der Weltkrieg ist es, wenn er sich an uns wagt.

      Die Leute, die aus Deutschland kamen, berichteten von der Unzufriedenheit, die dort wuchs. Kein Amüsement, das man den Massen bot – weder die allgemeine Wehrpflicht noch die Judenhatz, noch die hübschen Feiern anläßlich des Saarplebiszits – konnte darüber hinwegtäuschen, daß viele verbittert waren. Auch fürchteten alle den Krieg. Man suchte, die Arbeiter mittels »Kraft durch Freude« bei Stimmung zu halten; aber am Schluß sollten sie doch nur Kanonenfutter sein, damit Deutschland die Ukraine und das Elsaß bekam; für den Augenblick gab es wenig Butter. Alle Nachrichten aus deutschen Städten sagten das gleiche: die Stimmung ist miserabel. Viele sind in der Opposition – Christen und Sozialisten, bürgerliche Intellektuelle und Proletarier. – Man hörte es gerne, und es ward eifrig besprochen. Übrigens gehörten viele von denen, die sich am Stammtisch trafen, selber zu den politisch Aktiven und Organisierten. Sie fuhren nach Deutschland, arbeiteten mit der illegalen Opposition. Sie hatten Freunde, Verbindungsleute, Mitverschworene in den großen deutschen Betrieben. Sie kannten die Gefahren und die Möglichkeiten dieses unterirdischen, geheimen Kampfes. Sie wußten auch: Man gewinnt ihn nur, wenn man ihn gemeinsam kämpft. In Deutschland, wo es keine Parteien mehr gab, nur noch Machthaber und Unterdrückte, wurde die Einheitsfront aller Antifaschisten fast zur Selbstverständlichkeit.

      Jetzt war man im Januar des Jahres 1936. Seit einigen Monaten besprach man die Entwicklung des italienischen Zuges gegen Abessinien. Man breitete afrikanische Karten aus auf dem Holztisch des Prager Bierlokals. Wie weit waren die Räuber schon vorgedrungen? Welche Ortschaften würden jetzt bombardiert werden? Wie lange konnte der Negus sich halten? Würde England Ernst machen mit den Sanktionen gegen die Angreifer? Und kam dann der europäische Krieg?

      Kommt der Krieg? Dies blieb immer die letzte Frage. – Werden die Diktaturen stürzen können ohne den Krieg? Und werden sie sich nicht ihrerseits zum Kriege eines Tages gezwungen finden, sogar wenn sie eigentlich viel lieber immer nur erpressen wollten, statt zu kämpfen? – Manche am Stammtisch wünschten sich schon fast die finale Katastrophe, und waren für das blutige Aufräumen – »damit nur endlich Schluß wäre!« Andererseits fürchteten sich alle. Sie erzählten sich Schauerliches über die neuen Erfindungen auf dem Gebiete der Giftgastechnik. »Die Deutschen würden Typhus- und Cholerabazillen aus ihren Flugzeugen werfen«, wußte Hans. »Wir gehen alle kaputt.« Dies war das letzte Wort in ihren Diskussionen.

      In Österreich hielten Hans und Ernst sich nicht lange auf. Dort war man gerade jetzt besonders unliebenswürdig zu verdächtigen Gesellen ihrer Art: paßlosem Gesindel, Emigrantenpack, dem die aufsässige Gesinnung, die revolutionären Vorsätze und Ideen auf den ungewaschenen Gesichtern geschrieben standen. – Ein paar Tage blieben sie bei Wiener Kameraden versteckt. Sie bekamen Aufträge für Genossen in der Schweiz. Der Post wagte man wichtige Nachrichten nicht mehr anzuvertrauen. Man verständigte sich durch Parolen, die vertrauenswürdige Boten überbrachten – wie in Zeiten des Krieges. Dann ging die Wanderung weiter.

      Manchmal nahm ein freundlicher Automobilist sie ein Stück Weges mit; aber es geschah ziemlich selten. Die meisten fuhren hochmütig vorüber und ließen die zwei Vagabunden auf der Landstraße stehen. Wenn ein Gendarm in die Nähe kam, mußte man sich unsichtbar machen. Es war kein gutes Leben. Manchmal hatten sie sich genug Geld erbettelt oder verdient, um eine kleine Strecke im Zug zu fahren.

      In Basel trennten sie sich. Sie waren beide relativ guter Dinge. Schweizer Freunde hatten ihnen zu essen gegeben und etwas anzuziehen; denn die Anzüge, die sie unterwegs getragen hatten, sahen schon unerlaubt

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