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Herr Ottinger und strich sich selbstbewußt den schön gewellten Bart. »Nie werde ich verstehen, daß ein Volk sich soviel bieten läßt wie das deutsche.« Für die Emigranten hatte er Sympathie. Sogar wenn sie in ihrer Opposition etwas maßlos wurden und sich zu kommunistischen Ideen bekannten – die Herr Ottinger mißbilligte – blieb er nachsichtig. »Man hat den armen Leuten sehr viel zugemutet«, pflegte er zu sagen. »Durch Haß und Leiden sind sie vielleicht etwas konfus geworden.« Und er schrieb noch einen stattlichen Scheck aus.

      Einmal in der Woche gab es bei Ottingers »Jour« mit Musik. Madame spielte Klavier und komponierte selbst kleine Piècen. Tilly führte auch ihre Mutter ein. Frau von Kammer erschien im besten Kostüm, mit weißen Glacéhandschuhen zu den Empfängen; manchmal wurde sie auch zu einer Bridgepartie gebeten. Hier durfte sie die Erfahrung machen, daß längst nicht alle Mitglieder der »besseren Kreise« jene Gesinnung teilten, durch die sie aus dem Salon der Krügis vertrieben worden war.

      Auf einem der »Jours« lernte Tilly den jungen Peter Hürlimann kennen. Er galt als ein besonders begabter Schüler des Züricher Konservatoriums und durfte mit Frau Ottinger musizieren. Hürlimann sah nett aus, wenngleich etwas plump; ein vierschrötiger Bursche mit langem, struppig schwarzem Haar und einer Brille im runden, gutmütigen, intelligenten Gesicht. Am ersten Abend, als er Tilly traf, traute er sich kaum, mit ihr zu reden. Er schaute sie an. Als sich dann herausstellte, daß sie den letzten Zug nach Rüschlikon versäumt hatte, erbot er sich, sie nach Hause zu bringen. »Es ist ein schöner Spaziergang«, sagte er ernst. Unterwegs sprach er nicht viel. Dann sahen sie sich beinah jeden Tag.

      Tilly war während des letzten Jahres viel hübscher geworden. Es schien, als hätte die lange Traurigkeit sie verschönt. Ihr helles, weiches Gesicht wurde ernst gerahmt vom glatten, rötlichen Scheitel. Die schräggestellten, langen, schwermütig zärtlichen Augen führten eine sanfte, eindringliche Sprache. Besonders gefiel den Männern ihr üppiger Mund, von dem Konni immer gesagt hatte, daß er so »schlampig« wirke.

      Sie hatte viele Verehrer, sowohl unter den Emigranten, die sich vorübergehend oder dauernd in Zürich aufhielten, als auch unter den jungen Schweizern, die sie hier und dort traf. Ihre etwas rundlichen, etwas trägen Glieder waren anziehend, und ihr feuchter Blick verlockte. Die meisten Männer waren wild nach ihr. Von den Emigranten hatten viele lange keine Frau gehabt. Sie waren gierig nach Liebe. Tilly wirkte wie eine, die nicht schwer zu erobern ist. Alle wollten gleich mit ihr ins Bett. Aber sie mochte das nicht. Sie dachte immer noch an ihren Konni, und sie rechnete heimlich damit, ihn bald wiederzusehen. Nur einem hätte sie vielleicht nachgegeben: das war Konnis Kamerad in Prag, H.S., mit dem sie weiter korrespondierte. Den kannte sie nicht einmal; aber sie erwartete sich viel von ihm. Wenn das Schlimmste wahr werden und ihr Konni wirklich nicht mehr in Erscheinung treten sollte – H.S. würde eines Tages da sein …

      Den Peter Hürlimann mochte sie gern. Seine Liebe war anspruchslos und zuverlässig. Ein paarmal hatte er sie geküßt, aber niemals war er auf weiteres aus gewesen. ›Wahrscheinlich hat er Hemmungen‹, beschloß Tilly, aber sie war ihm doch dankbar für seine brave Zurückhaltung. – Peter sprach verständig und langsam; was er sagte, hatte Hand und Fuß, ob es sich um die Musik von Johann Sebastian Bach oder um die Schweizer Innenpolitik handelte. An Tillys großen und kleinen Sorgen nahm er ehrlichen, bieder-ernsthaften Anteil. Er bemühte sich, ihr das Leben etwas leichter und angenehmer zu machen. Später einmal wollte er sie heiraten: dazu hatte er sich wohl schon seit längerem in aller Stille entschlossen. Tilly wußte es; sprach aber nicht gerne davon. Er erklärte ihr, als wäre im übrigen alles zwischen ihnen abgemacht: »Natürlich kannst du erst meine Frau sein, wenn ich anständig Geld verdiene. Das kommt aber bald. Ich werde eine Stellung als erster Geiger in einem Orchester kriegen. Und dem Herrn Kapellmeister hier vom Stadttheater hat meine neue Komposition recht gut gefallen.« – »Wir müssen abwarten …« Tilly sagte es zärtlich, aber etwas beunruhigt durch die Selbstverständlichkeit, mit der er ihre Verbindung erwähnte. »Man weiß ja heute nie, was geschieht – und es kommt einem so sinnlos vor, Pläne zu machen …«

      Sie gingen zusammen ins Theater oder in Konzerte – Kino mochte Hürlimann nicht; am Sonntag machten sie Wanderungen. Manchmal aßen sie auf dem Lande bei Peters Eltern, die eine bescheidene Gastwirtschaft nicht weit von Zürich hatten. Es waren einfache Leute, und viel Geld hatten sie nicht. Aber es langte bei Hürlimanns doch dazu, der Freundin ihres Sohnes einen Braten und einen offenen Landwein vorzusetzen. Im Garten, unter dem Kastanienbaum, oder in der alten Wirtsstube schmeckte es sehr viel besser als in den kleinen vegetarischen Restaurants, wo die zwei sonst meistens miteinander speisten.

      Obwohl Tilly soviel an ihren Konni denken mußte und immer darunter litt, daß in Deutschland jetzt alles so schrecklich war, fand sie ihr Leben in Zürich, mit Ottingers, Peter Hürlimann und der starren Mama, nicht so übel und war, alles in allem, nicht unzufrieden. Es gab aber eine Sorge, aus der die ärgste Kalamität werden konnte: ihr deutscher Paß war bald abgelaufen. Sie hatte sich überwunden und war zum Konsulat des Dritten Reiches gegangen. Um nur einen neuen Paß zu bekommen, hatte sie sogar das Hitler-Bild an der Wand gegrüßt, so peinlich es ihr auch war. Der Beamte war ihr höflich, aber mit einer gewissen Reserviertheit begegnet. Er versprach, wegen der Verlängerung ihres Passes »bei der zuständigen Berliner Stelle rückzufragen«.

      Die »zuständige Berliner Stelle« verweigerte die Erlaubnis. Tilly von Kammer sollte keinen deutschen Paß mehr haben. Der Beamte, der ihr dies mitteilen mußte, schien selber ein wenig verwundert über den Bescheid. »Es ist also nichts zu machen«, sagte er, als könnte er es nicht ganz begreifen.

      Nachdem die Stenotypistin den Raum verlassen hatte und er mit der Besucherin alleine war, wurde er zutraulicher. »Es scheinen in Berlin Anzeigen gegen Sie vorzuliegen. Was haben Sie denn angestellt, kleines Fräulein?« Er leckte sich die Lippen, lüstern, als ginge es darum, ein pikantes Histörchen zu erfahren. »Na ja, es wird ja jetzt viel denunziert«, gab er zu, »und nicht alles muß stimmen.« Dann meinte er noch, sinnend und mehr als spräche er zu sich selbst: »Vielleicht hängt es auch mit ihrem Fräulein Schwester zusammen. Die soll ja in Paris neulich einen sehr anstößigen Vortragsabend gegeben haben.« Seine Stimme klang fast ehrerbietig. »Jedenfalls – nichts zu machen …« Er zuckte, bedauernd-abschließend, die Achseln.

      Der Paß wurde also nicht verlängert, und in ein paar Wochen würde er nicht mehr gelten. Die kleine Tilly mit den hübschen schrägen Augen und dem schlampigen Mund sollte keine Deutsche mehr sein. Sie wußte nicht genau, wie sie zu dieser Schande kam – oder zu dieser Ehre. Wichtiger, als hierüber nachzugrübeln, war nun, sich zu überlegen, was geschehen sollte. Denn ohne Paß kann man nicht existieren: soviel hatte die junge Emigrantin schon begriffen. Ein Paß ist etwas durchaus Lebenswichtiges; unter normalen Umständen weiß man es kaum, aber plötzlich stellt es sich, schrecklich und überraschend, heraus.

      Ehe er endgültig abgelaufen war, mußte etwas geschehen. »Ich weiß wirklich keinen Rat für dich, liebes Kind«, sagte nervös Frau von Kammer. »Wahrhaftig, ich bin niemals in einer solchen Situation gewesen … Übrigens gilt mein eigener Paß auch nur noch drei Jahre lang«, fügte sie hastig und gleichsam schuldbewußt hinzu.

      Die Bekannten im Café rieten zu einer Scheinehe. »Für ein weibliches Wesen ist es ja gar nicht so schlimm«, sagten die Männer neidisch. »Ihr könnt heiraten. – Sei nicht traurig, Tilly! Du heiratest einen netten Schweizer und wirst Eidgenossin.«

      Tilly dachte an Peter; aber gerade er hätte für einen so zynischen Vorschlag kaum Verständnis gehabt. Heiraten, um einen Paß zu bekommen! – Er wäre entsetzt gewesen. Wenn sie ihn nahm, mußte sie mit Leib und Seele die Seine werden. Andererseits würde er sich bitter darüber kränken, wenn sie mit einem anderen zum Standesamt ging, und sei es auch nur aus den bekannten, unerfreulichen Gründen. Am besten, sie verheimlichte dem Hürlimann die ganze Sache. Mit dem »Ehegatten«, von dem sie einen Paß wollte anstatt ein Kind, würde sie persönlich ja wohl kaum viel zu tun haben müssen. Übrigens konnte man sich bald wieder scheiden lassen. – Sie schwieg Hürlimann gegenüber und bat die Freunde aus dem Café, auf Gattensuche für sie zu gehen.

      Es war nicht so einfach. Bei jedem der jungen Leute, mit denen die Bekannten sich in Verbindung setzten, gab es einen anderen Hinderungsgrund. Der eine hatte schon eine Braut, der andere eine Familie,

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