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Farben, nach Zigarren, oft nach Rosen. Ästhetisches Chaos, genussvoll ausgebreitet, Wohlfühl-Zuhause und erfahrene Weltweite. Ein bisschen Maracaibo hier in Enns Atelier natürlich, dachte Lene, aber die ganze jetzige Wohnung ist auch ein bisschen Ostpreußen, ostpreußisches Osterode, nur nicht so unerreichbar wie das alte Ostpreußen es seit jetzt fast acht Jahren war. Und dann natürlich ein Stückchen Jena. Diese Wohnung wie ein Muster aus kleinen Fixpunkten, Haltepunkten, Erinnerungspunkten. Osterode auf jeden Fall, aber noch viel mehr. Vieles aus der anderen, letzten Heimat im Norden, fast am Haff, - nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

      Ernst saß vor der Staffelei, skizzierte etwas, die Pinsel steckten noch im Glas.

      “Was wird das?“

      Er schüttelte den Kopf, brummte etwas, stand auf. „Ein Waldstück vielleicht. Im Frühling – ?“

      Sie lachte. „Sag nicht, dass ich in Gedanken bin. Du bist es genauso.“

      Ernst folgte ihr ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Kanapee, bugsierte seine langen Beine hinter den Tisch. Dort hatte Paul immer…, Kaffeestunden damals…, nein, sie wollte das jetzt nicht zulassen. Vorbei ist vorbei. Aber das Früher drängte sich immer wieder in die Gegenwart. Das war wohl so bei alten Leuten. War sie so alt? Mit 63 Jahren zu alt vielleicht für die Gegenwart? Sie straffte die Schultern, setzte sich gegenüber auf einen der hochlehnigen, kunstvoll gedrechselten Holzstühle, - auch die waren aus Osterode, hatten später in Jena gestanden, um den gleichen runden Tisch herum… Sie goss Kaffee ein und rückte den Teller in die Mitte.

      „Kekse? Deine selbstgebackenen?“

      „Die mit Haferflocken und Rosinen. Heute Morgen waren ja Lilo und Georg hier mit den Kindern.“ Sie lächelte. „Du magst doch auch immer Süßes.“

      Er kaute schon. „Prima, fast wie bei Mutter.“

      „Niemals.“

      Sie lehnte sich zurück, nahm die Tasse in beide Hände, heiß dampfte es heraus. Dieser Duft.

      Ernst nickte ihr zu. „Nicht mehr die olle Wasserplörre, was?“

      „Oh, nee, wir sind hier vornehm bei den hanseatischen Leuten – Hanseoaten?“ Sie zögerte. Hamburgische Mundart hatte sie ab und an probiert, was meistens misslang. Ernst lachte, schüttelte den Kopf, nahm noch einen Keks und schwieg eine Weile. Seine Meta war ja eine waschechte Hamburger Deern gewesen, von ihr hatte er immer richtiges Hamburgisch mit allen S-pitzen S-teinen gehört. Wie lange war das her. Eine Ewigkeit - mit Südamerika dazwischen. Einen Seufzer konnte er nicht unterdrücken. Und dann die Kinder, als sie noch klein waren. Die inzwischen selbst Kinder hatten. „Wie schnell sie groß werden, die Lütten, die Enkel.“

      „Schneller als wir damals auf jeden Fall.“

      „Auch schneller als die eigenen Kinder, oder?“

      Lene nickte. „Auf jeden Fall.“ Sie drehte die dampfende Kaffeetasse zwischen den Fingern, unversehens schweiften ihre Gedanken ab. Ihre Kinder Georg und Hanna, die waren ihr geblieben. Auch sie unbedingte Haltepunkte in ihrem Leben. Spätere. Es gab ein Noch-Früher. Eine Art Fundament, eine Basis-Linie. Damals im alten Ostpreußen, als alles noch seine Tradition und Ordnung hatte.

      Ernst saß ihr gegenüber. Er sah im Geist wieder seinen Frühlingswald vor sich, der auf der Staffelei sein Grün erwartete.

      Sie konnten auch zusammen schweigen. Den Gedanken hinterherlaufen. Auch ins Früher. …

      Eines Tages ging Lenchens sehnlichster Wunsch in Erfüllung. Am 29. April 1895 wurde sie sechs Jahre alt. Das bedeutete: in diesem April durfte sie endlich zur Schule gehen.

      Die alte Lene musste lächeln, wenn sie daran dachte, wie sie damals der Schule entgegengefiebert hatte. Endlich würde sie hinter das Geheimnis der Bücher kommen. Vaters Bücher in dem schwarzen hohen Regal und auf dem Schreibtisch in seinem Studierzimmer und weitere Bücher, die im Haus in verschiedenen Regalen auf sie warteten. Etwas lesen und einige Buchstaben kritzeln konnte sie natürlich längst, wozu hatte man schließlich große Geschwister in reicher Auswahl? Aber das genügte nicht. Die Geschwister waren oft genug hier und da unterwegs. Und der große Bruder Ernst war längst aus dem Haus, hatte sich in Hamburg zum Kaufmann ausbilden lassen und wollte jetzt, 1995, wahrscheinlich sogar nach Südamerika auswandern. Solche Entfernungen musste Lenchen auf dem Atlas suchen, es war ihr unvorstellbar. Sie selbst hatte erstmal hier genug zu tun. Es war üblich, den Geschwistern kleine Grüße auf Postkarten oder Briefen zu schreiben. Ja, das war ein weiterer wichtiger Grund unbedingt schreiben zu lernen.

      Vermutlich während des ersten Schuljahrs, sobald sie einige Buchstaben irgendwie zusammenfügen konnte, entstanden spontan erste Briefchen, die sie sichtlich mühevoll zu Papier brachte, in krakeliger, spitzer, noch sehr ungelenker Schrift.

       meine liebe mata ich gratuliere dier zum geburztag in der schule geht es mir gut heut hat mir die lote einen bratapwelgemacht grüße die grete auch denhans und den namfe die stubinsind ganz umgeändert ich schlawe mit mama und mit poc poc und lebe den wollen Danzig

      (meine liebe Martha, ich gratuliere Dir zum Geburtstag. In der Schule geht es mir gut. Heut hat mir die Lotte einen Bratapfel gemacht. Grüße die Grete, auch den Hans. Und die Namen für die Stuben sind ganz umgeändert. Ich schlafe mit Mama und mit Poc Poc . Und lebe denn wohl in Danzig)

       Deineliebelene

      Darunter hatte Lenchen zwei weibliche Figuren gezeichnet: trese dore

      Auf die Rückseite hatte Bruder Fritz einen kurzen Gruß geschrieben.

      Im Herbst 1895 waren ihre Schrift und die Orthographie auch noch nicht viel besser:

      Wieder hatte sie drei weibliche Gestalten gezeichnet: „ Trese“ „Dore“ „Lote“ (ihre drei anwesenden Schwestern, Martha war die vierte)

      Auf der Rückseite steht krakelig und etwas rätselhaft:

       liebe martha ich bin heute krank ich war heute nicht in der schule, ich hate kopfschmerzen

       ich war beim geburtstag beinie schka ich gehe balt wieder zum geburtztag fritz ist schoninKöln, erst war er in belien, da hate frau flato iem zwanzich markgeschengt Deine liebe lene wüst

      Martha, 1895 schon 20 Jahre alt, war also bereits außer Haus. Lotte mit 21 Jahren zwischenzeitlich zu Hause, Therese, 16 Jahre, und Dorothea, 15 Jahre, wohnten noch zu Hause, Fritz war 18 Jahre alt.

      Die „städtische höhere Mädchenschule“ in Osterode war damals in einem alten Mietshaus untergebracht, das früher als Kaserne gedient hatte. Zu der Zeit von Lenes Einschulung war in Osterode das Schulwesen im Um- und Aufbruch. Alte Schulen wurden geändert, neue eingerichtet. Aber die Räumlichkeiten ließen oft noch zu wünschen übrig, die Einrichtung war häufig eher spartanisch, die hygienischen Verhältnisse lagen meist noch im Argen. Seit Lenes Vater 1877 dort in den Schuldienst gekommen war, hatte man bald die Knabenmittelschule aufgelöst und stattdessen unter Vaters Anweisungen und Ratschlägen die „höhere Bürgerschule“ eingerichtet. 1881 wurde diese in ein Real-Progymnasium umgewandelt und 1893 bis 1898 allmählich zu einem richtigen Gymnasium, zum Stolz der Stadt.

      Darüber schrieb Lenes Vater, Ernst Leberecht Wüst, selbst in seiner Chronik.

      Er besuchte im Spätherbst 1876 seinen schwer erkrankten Vater, den Pfarrer im Ruhestand Carl Theodor Gotthilf Wüst in Güttland. Gerade hatte er die Nachricht erhalten,

      „dass ich zum Direktor einer neu zu errichtenden höheren Lehranstalt zu Osterode in Ostpreußen gewählt worden sei und dass ich zu Ostern 1877 mein neues Amt antreten sollte. Auf einem Lehnstuhle in der „Schlafstube“ dem nach Nordwesten gerichteten Eckzimmer, an dem Sophatische sitzend, sorgsam eingehüllt in wärmende Decken, besprach er (sein Vater) mit mir lebhaft und sachlich die neuen mich erwartenden Aufgaben, und als er die Schmerzen wiederkommen fühlte, bat er mich wohl im Bewusstsein, dass es hinnieden der letzte Abschied von ihm sein werde, vor seinem Sessel niederzuknieen, damit er mich segne, was er mit schlichten und einfachen aber umso eindringlicheren Worten tat, die auf

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