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schrieb da:

      „Zu Beginn des Winterhalbjahres 1865/66 siedelte ich von Jena nach Berlin über…

       Für mein ganzes Leben bedeutungsvoll wurde im Sommer 1867 ein Besuch einer Freundin des Orler Hauses in Berlin, der Frau Gutsbesitzerin Goldnick aus Mühle Slupp bei Graudenz, die mit ihrer Tochter Martha, damals 16jährig, gekommen war, um einen Arzt um Rat zu fragen. Ich war mehrere Tage der beständige Begleiter der beiden Damen, machte mit ihnen Besorgungen, führte sie zu Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten und eines abends auch ins Königliche Opernhaus. Da war es, als wir beiden jungen Menschen während einer Ballett-Aufführung nebeneinander sitzend, uns bei der Hand fassten, um uns für alle Zukunft nicht wieder loszulassen. Es lag ein köstlicher Reiz darin, die Heimlichkeit unserer Liebe zu bewahren und keinem von unserem Verspruch etwas zu sagen. Erst im Herbst desselben Jahres 1867 bei der Hochzeit meiner Schwester Auguste, die in Orle stattfand, merkten schärfer blickende Verwandten, was die Glocke geschlagen, und es fehlte in der nächsten Zeit nicht an solchen, die mahnten und Vorstellungen machten und Ratschläge erteilten und drohten. Was sollte auch ein Einverständnis zwischen einem noch die Schule besuchenden Mädchen und einem Studenten bedeuten? War es überhaupt ernst zu nehmen? Wir aber, die wir uns einmal die Treue versprochen hatten, hielten fest, kümmerten uns nicht viel um das Gerede der lieben Verwandten, schrieben uns gute und liebe Briefe und warteten, bis die Zeit sich erfüllen musste…

      Das dauerte eine gute Zeit. Durch den Krieg 1866 war Ernst nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Er meldete sich zwar, als die Einberufung erfolgte, wurde aber wegen seiner mangelnden Sehtüchtigkeit zurückgewiesen. Auch als Krankenpfleger wollte man auf ihn verzichten. Im Herbst 1867 tauschte er die Universität Berlin mit der zu Königsberg zum Abschluss seiner Studien und um dort später eine Anstellung zu erhalten. Es war sein viertes Universitätsjahr. Auf den Abschluss seines philologischen Staatsexamens bereitete er sich in Königsberg und auch in Güttland vor, wo sein Vater seit 1850 Pfarrer war und er selbst den größten Teil seiner Jugendjahre verbracht hatte. Sein Vater, der Pfarrer mit seiner Familie hatte sich aus Pröbbernau versetzen lassen, um den Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Im Oktober 1868 legte Ernst die Prüfungen ab und erhielt die Lehrbefähigung für Lateinisch und Griechisch für alle Klassen und für Geschichte und Erdkunde für die Obersekunda einschließlich, zugesprochen. Er promovierte zum „doctor philosophiae“. Sein Probejahr leistete er anschließend auf der Realschule I. Ordnung auf der Burg zu Königsberg, der „Burgschule“. Weihnachten 1868 verlobte er sich endlich offiziell mit seiner Martha. Während die Brautleute einen glücklichen Sommer in der Mühle Slupp verbrachten, brach 1870 der Deutsch-Französische Krieg aus. Ernst eilte nach Königsberg, um sich freiwillig zu stellen, wurde aber wieder wegen seiner Kurzsichtigkeit abgewiesen. So ging er weiter seinem Beruf nach. Auch von dem Erleben der Kriegsereignisse berichtet die Chronik. Aber das war eine andere Geschichte. Ernst und Martha schauten mutig und zuversichtlich in die Zukunft: am 11. Oktober 1870 fand die Hochzeit statt.

      „Unsere schönen Güter, die wir festzuhalten uns damals versprachen, bestanden nicht gerade in reichen äußeren Schätzen, obschon auch äußere Güter nicht mangelten, sondern in herzlicher Liebe, Vertrauen und zuversichtlicher Hoffnung. Die Hochzeit wurde im Elternhaus der Braut, in Mühle Slupp, bei entsetzlich schlechtem Wetter gefeiert. Mein Vater traute uns, Vater legte seiner Traurede das Bibelwort Epheser 4, Vers 2 und 3 zu Grunde: „Vertraget einer den anderen in der Liebe und seid fleißig zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“. Am Tage nach der Hochzeit ging die Reise in die neue Heimat meiner jungen Frau, nach Königsberg, wo wir in der alten Reifenbahn, in der Straße, die jetzt Yorkstraße heißt, eine aus 4 Zimmern und vielem Zubehör bestehende Wohnung gemietet hatten. Die Zimmer waren bei unserer Ankunft von der Familie Rautenberg, die zwei sehr schöne Gummibäume hineingestellt hatte, geschmückt worden.“

      Die Eltern hatten, wie Lene nur zu gut wusste, immer ihr eigenes Leben gehabt, auf das sie viel Wert legten, auch als das Ehepaar sich im Laufe der Jahre mit sieben Kindern zu einer großen Familie auswuchs. Ohne ihre Kinder zu vernachlässigen, führten der Schuldirektor und seine Gattin ein offenes Haus, verbrachten viel Zeit mit Geselligkeit in wechselnder Runde von Freunden. Mit denen gingen sie musischen und geistreichen Liebhabereien nach, mit denen verbrachten sie, Gesellschaftsspielen frönend, viele Abende. Beide, Ernst und Martha, aus jeweils großen Familien kommend, waren an solch größere Runden befreundeter Menschen gewöhnt. Insbesondere Ernsts Vater, Lenes Großvater, hatte zeitlebens mit vielen Menschen, darunter vielen gelehrten Freunden gerne zu tun gehabt.

      Und Mutter? Leider waren die Familien-Chroniken nur von den Familienvätern, aber nie von den Müttern geschrieben worden. Die gängigen Klischees der Rollenverteilung, - die sich erst, als Lene älter war, ganz allmählich zu ändern begannen -, hatten Lene ihr Leben lang beschäftigt. Warum nur taten alle so, als seien Männer in gewisser Weise wertvoller als Frauen? Etwa, weil bei ihnen der Werdegang, der Beruf, die Karriere und damit auch die Versorgung der Familie eine so große Rolle spielte? Das war aber doch nur möglich, weil die Frauen, die Mütter, ihnen brav alle Alltags- und Familienpflichten abnahmen. Die Frauen, naja, sicher waren sie nicht weniger gebildet, wenn sie nur wollten, aber die eigenen Mütter machten ihnen vor, wie man sich ein- und unterzuordnen, zu fügen hatte. Die Rollenklischees wurden eingehalten: die Männer sorgten für das finanzielle Wohlergehen und das eigene Ego, die Frauen kümmerten sich um Kinder und Haushalt, - und verzichteten auf die Idee etwa eine eigene Persönlichkeit ausleben zu wollen. Stattdessen wurden sie angebetet von den Männern. Und damit es auch klappte mit der erwünschten Anbetung und Eroberung, wollte diese von den Mädchen emsig, kichernd, trickreich und charmant geübt werden. Die Kunst der Verführung, das Sich-Erobern-Lassen, das war die gängige Erfolgsgeschichte von Frauen. Und das war natürlich Reiz und Spannung der Jugendjahre – bis zur Verheiratung. Wenn die manchmal doch nicht erfolgte, blieben ihnen Tätigkeiten von Kinder- oder Hausmädchen, höchstens Lehrerinnen. Solange aber verheiratete Männer und Frauen dann ihre Rollen erfüllten, das taten, was erwartet wurde und entsprechend behandelt und hochgeehrt wurden, blieb die Welt, - die kleine Familienwelt und die etwas größere soziale Welt -, im gewollten und nie anders gedachten, traditionellen, harmonischen Gleichgewicht. Die Familienväter protzten dann gern mit ihren vielen Kindern, - aber erzogen wurden die von den Müttern.

      Lenes Mutter hatte die ihr zugedachte Rolle meisterhaft ausgefüllt. Ob sie jemals den Wunsch gehabt haben mochte, sich selbst dabei ins Spiel zu bringen, den eigenen Talenten, wie dem Klavierspiel, mehr Zeit zu widmen, ihnen mehr nachzugehen oder den eigenen Werdegang herauszustellen, das ahnte Lene nicht. Über Gefühle sprach man nicht. Selbstdisziplin war bei ihr selbst, sowie den vorherigen Generationen, von früher Kindheit an geübt und verlangt worden. Bei den üblicherweise vielen Kindern musste sich jedes zurücknehmen, das ging gar nicht anders, hatte nie anders funktioniert. Glück oder Unglück dagegen waren eben Schicksal, und die eigene Individualität, jedenfalls die der Mädchen, blieb manchmal vollkommen uninteressant. Dennoch, so überlegte Lene später oft, dennoch hatte sich eigentlich jede und jeder wohlgefühlt im Familiennest, das Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Sie selbst hatte es nie anders empfunden und von ihren Geschwistern auch selten anderes gehört. Die Familie war Zentrum des Lebens, das der Kinder und das der Erwachsenen.

      Lene am Schreibtisch, der jetzt ihrer war, wusste wenigstens, dass ihre Mutter geliebt worden war. Geliebt und verehrt von der ganzen Familie. Und Lene wusste auch genau, wonach sie jetzt suchte. Da gab es einen alten Brief, in vornehm steilen Schwüngen und Schnörkeln, von ihrem Großvater Wüst. Das war jener Carl Theodor Gotthilf Wüst, geboren 1808 in Danzig, 17 Jahre lang Pfarrer auf Pröbbernau auf der Frischen Nehrung, dann Pfarrer in Güttland in der Nähe von Dirschau im heute polnischen Westpreußen. Von dort schrieb er 1773 an seine Schwiegertochter Martha, also Lenes Mutter, zu deren 22. Geburtstag.

      Der Brief klang so, als sei die junge Ehefrau mit ihrem Mann Ernst und erstgeborenen Sohn Ernst in der Sommerfrische in Peterhof,- dem Stammsitz der verwandten Familie Chomse -, und häufigen Ferien- und Familientreffpunkt der großen Familie gewesen. In dessen Nähe lag auch die Mühle Slupp und der kleine Ort Orle.

       Güttland 13/7/1873

       Liebe, trauteste Martha !

       Du erhältst heute gewiss von allen Seiten so

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