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Kuss!

       Addio! Thelo.

       (Dass ihr alle im Seminar nicht wissen sollt, was Liebe ist, macht mir nicht vor, ihr Scheinheiligen)

      Typisch Therese, dachte Lenchen und musste lachen, während sie diesen Brief las. Thea, die Altkluge und Gewitzte! „Herbertchen“, das war Lottes kleiner Sohn, gerade ein Jahr alt und mit seiner Mutter zu Besuch in Osterode. Ach, die gute Therese, wie erfrischend offen und herrlich unverblümt! Naja, etwas Wahres war natürlich dran, wenngleich Lene sich jetzt doch meistens erhaben fühlte, jedenfalls aus den Puppenspielen, Baumklettereien, Kreischtönen und anderen Kindlichkeiten herausgewachsen wähnte. Naja, heimlich dachte sie manchmal mit Sehnsucht an jene unbeschwerte Zeit zurück. Das brauchte aber niemand zu wissen. Es war alles so leicht gewesen früher… Und das Zigarettenrauchen, naja, Schweigen drüber in der Öffentlichkeit. Jedenfalls hatte der Brief eine wohltuend erwärmende Wirkung. Thea hatte immer die genau treffenden Worte gewusst. Lenchen faltete den Brief zusammen und legte ihn unters Kopfkissen. Für abends im Bett nochmal, das würde sie sich gönnen.

      Schwester Dore aus Spandau (mit ihrem Leo und dem fast einjährigen kleinen Jochen) kamen im September 1906 folgende Zeilen:

       Liebe Lusch!

       Charakteristiken schreibt man im Allgemeinen nur von bedeutenden Menschen, aber da Du es wünschst, kann ich ja auch mal Deine Tugenden und Untugenden beleuchten. Dein Wunsch allein beweist schon, wie kindlich und unverdorben Du noch bist. Dies ist der Grundzug Deines ja durchaus noch unfertigen Menschens. Harmlos vergnügt freust Du Dich über die kleinsten Dinge und nimmst dankbar hin, was Dir Leben, Natur und Mitmenschen bieten. Frech, gerade und offen wirst Du Dir schon Deinen Weg durchs Leben bahnen. Dass Du lieber ein Junge sein möchtest, zeigt, wie gut Dir Jungensmanieren liegen. Eitel bist Du nicht, ein Zug, der allerdings wohl nur meinem Vorbild zuzuschreiben ist. Deine schlechten Eigenschaften will ich nicht erwähnen, da zu erwarten ist, dass Du sie bei Deiner Einsicht bald erkennen und ablegen wirst. Zum Schluss erwähne ich nur noch Deine Treue, mit der Du an den Gespielen Deiner Kindheit hängst!

       Eigentlich könnte ich Seiten über Dich schreiben, obgleich Leo sagt, Du wärst unbeschreiblich, aber wir fangen schon an umzuziehen, deshalb habe ich keine Zeit. –

      Amüsiere Dich schön in den Herbstferien und komme bald mal wieder nach Spandau. Jochen spricht jetzt schon sehr viel und lässt dich sehr grüßen desgleichen Leo und ganz besonders sei gegrüßt von Deiner Dosch

      Außerdem lief noch ein Brief von Max Horn ein, das war der Freund und anhängliche Verehrer, den sie vor etwa zwei Jahren in Berlin getroffen hatte und der jetzt gerade auch in Elbing war. Ein lieber Kerl. Immer umständlich. Immer bemüht, dem Kern der Dinge akribisch auf den Grund zu gehen, dabei oft sich zerfasernd im Hin und Her, Entweder - Oder. Was der wohl zu sagen hatte? Hoffentlich nicht nur Süßholz.

       Elbing, den 15. September 1906

       Ich habe vor, über ein 17jähriges junges Mädchen, das meine Freundin ist, eine Charakteristik zu schreiben. Wird sie objektiv ausfallen? Kann überhaupt eine Charakteristik sich gänzlich frei machen von dem Beobachter? Zumal wenn beide ein Freundschaftsband umschlingt? Ich könnte mich in diesem Falle vergleichen mit einem Richter, welcher ein Urteil zu fällen hätte über eine ihm befreundete Person. Er müsste sich wegen Befangenheit ablehnen, da eben sein Urteilsspruch nicht objektiv, unparteiisch ausfallen würde. So sollte ich es eigentlich auch tun. Ein anderer Grund, aus dem diese Charakterbeschreibung keinen Anspruch auf Vollkommenheit machen darf, ist der, dass mir Zeit wie Gelegenheit gemangelt hat, um eingefasste Beobachtungen über dieses Wesen in den verschiedensten Lebenslagen machen zu können. Aber doch glaube ich, einzelne Eigenschaften und Züge dieses eigenartigen „aparten“ Geschöpfes richtig erkannt zu haben, so dass sein Bild für mich schon unverrückbar feststeht und so sollt ihr es mit meinen Augen schauen.

       Ein menschliches Wesen ist es, das in Frage steht. Es hat also seine Licht- und Schattenseiten, seine Vorzüge und Fehler. Welche von diesen überwiegen, sollte man wohl erst zum Schluss sagen, wenn man die einzelnen Eigenschaften näher beleuchtet hat, oder am besten, man sollte es dem Leser überlassen, aus den angegebenen durch objektives Schauen gewonnenen Zügen, sich das Wesen selbst vorzustellen und auszumalen. Dieses Bild würde dann ja nach dem subjektiven Empfinden des Betreffenden mehr im Lichte oder im Schatten zu stehen kommen.

       Meine Antwort auf diese Frage habe ich bereits im ersten Satze vorweggenommen, da ich dieses junge Mädchen meine Freundin nannte und damit ihre Hauptzüge als die mir sympathischen kennzeichnete. Und das sind vor allem das Natürliche und Urwüchsige; das Frische und Gesunde, das Offene und Wahre ihres Wesens, das seinen Ausdruck findet in einer wahrhaft gesunden, von keiner angekränkelten Lebensanschauung, in ruhig genießender Lebens- und Schaffensfreudigkeit und zuversichtlichem Lebensmut, kurz, mens sana in corpore sano, ein gesunder Geist, bedingt durch einen ebenso gesunden Körper: Sie wird sich das höchste Lebensgut, die Freude am Leben, niemals verkümmern lassen, mag ihr das Schicksal das höchste Los, den edelsten, verantwortungsvollsten Beruf der Frau, den ruhigen Kindern einer lieben Häuslichkeit bescheren oder aber einen Platz anweisen mitten im Getriebe der Welt, wo sie aus eigener Kraft sich eine Lebenserfüllung erringen und in den Stürmen des Lebens behaupten muss. Stets wird sie mit ihrem Los zufrieden sein, wahres Lebensglück zu finden. Wie ganz anders steht es um so viele andere Mädchen, denen man es sofort anmerkt, dass sie ihr Glück nur an der Seite eines liebenden Mannes als das einzig mögliche zu sehen vermögen, und die sich dann elend und unglücklich fühlen werden, wenn ihnen das Schicksal ein solches Los versagt. Schon jetzt in steter Sorge und Furcht um die Zukunft leben sie oft in trüben schwermütigen Gedanken, die sie Tag und Nacht verfolgen, und die nur dann sich aufklären und in tollen Übermut ausarten können, wenn nach ihrer Meinung ein Lichtblick in Gestalt einer derartigen oft ach so trügerischen Hoffnung ihren vermeintlich trüben Lebenspfad erhellt. Geht ihr Wunsch nicht in Erfüllung, dann sind sie die unglücklichen Geschöpfe unserer Zeit, bedauernswerte Opfer der heutigen Gesellschaftsordnung.

       Das Wesen, von dem ich schreibe, hat ein besseres Los erwählt. Um ihre Zukunft ist mir nicht bange, sie wird in allen Lebenslagen ein glückliches Menschenkind sein können. Das erfordert aber Energie, Selbständigkeit und etwas Selbstbewusstsein, denn eine allzu anschmiegende, unselbständige Natur wird dazu nie imstande sein. Und auch diese Eigenschaften finden wir hier vertreten, vielleicht sind sie sogar etwas zu stark ausgeprägt. Denn öfters tritt ihr Selbstbewusstsein allzu lebhaft zutage, und rechthaberischer Eigensinn wirft dann und wann einen Schatten auf ihr Bild. Sie setzt sich oft brüsk, vielleicht ein wenig unbescheiden hinweg über Meinungen und Urteile selbst erfahrener Leute und kann dadurch wohl manchen verletzen. Und noch etwas anderes findet bei ihr nicht die nach Meinung der Leute gebührende Beachtung, was allerdings mehr der Natürlichkeit ihres Wesens entspringen mag: Allzu kleinliche Beobachtung althergebrachter Normen und Manieren, die dem Weibe wohl anstehen sollen, ist ihr nicht eigen. Ängstlich, scharf urteilende Gemüter nennen das wohl ein Verleugnen der Weiblichkeit, einen männlichen, jungenhaften Zug ihres Wesens. Ich wäre sehr geneigt, es burschikos zu nennen, dass sie z.B. mädchenhafte Schüchternheit nicht kennt, dass sie keinen Wert legt auf strenge Ordnungsliebe, dass sie gern noch in wildem Lauf kindlichem Spiel sich hingibt und dabei nicht allzu hoch bewertet die äußere Erscheinung. Damit hängt nun freilich zusammen, dass Eitelkeit und Gefallsucht ihr fern liegen.

       Wer will aber leugnen, dass ein solches Wesen angenehmer berührt als ein verzogenes, verwöhntes, putz- und gefallsüchtiges, empfindliches Modepüppchen, das mit einem jungen Menschenkinde auch nicht das Mindeste mehr gemein hat?

       Ich kann vielmehr sagen, dass trotz dieser oft rauhen Schale ein weicher, echt weiblicher Kern in ihr verborgen ist, dass ihr innerstes Wesen edle Weiblichkeit verrät und dem, der es näher kennen lernen will, ein tiefes Gemüt erschließt.

       Das sind die Charakteranlagen, die sich, je nachdem ihr künftiges Leben sich gestalten wird, mehr nach der einen oder der anderen Seite hin ausbilden und verkörpern werden. – Wird es ihr beschieden sein, Gattin und Mutter zu sein, dann wird dieser schöne innere Kern ihres Wesens

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