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Flasche Wasser, und er trinkt gierig und in großen Schlucken, obwohl es inzwischen beinahe heiß geworden ist.

      Bevor er den Motor anwirft, telefoniert er mit seiner Dienststelle und bestellt einen Polizeipsychologen zum Haus der Silberschmieds. Sicher ist sicher, er weiß nicht, ob er diesen trostlosen Job alleine hinkriegt. Der Mann soll vor dem Haus auf ihn warten.

      Als die Zentrale ihm sagt, dass Posche, der Seelenklempner vom Dienst, erst in zwei Stunden vor Ort eintreffen kann, beschließt Schuchardt, bei einer Imbissstube zu halten und ein paar Kalorien zu sich zu nehmen. Das ist schwierig genug, aber es hilft ihm immerhin, die Zeit totzuschlagen.

       6

      Aaron Silberschmied sitzt regungslos in seinem Sessel und ringt um Fassung. Bis in den achtzehnten Stock des Hotels „Isrotel Tower“ dringt kein Lärm von der Straße, es ist mucksmäuschenstill, wenn man vom gelegentlichen Öffnen und Schließen der Aufzugtür auf seinem Flur absieht.

      In Tel Aviv ist es ebenso heiß wie in Deutschland, nur spürt er dank der voll aufgedrehten Klimaanlage nichts davon. Und täte er es doch, dann wäre es ihm egal.

      Rebecca ist tot. Er weiß es erst seit ein paar Minuten, und in ihm ist alles taub. Ich muss es Moshe sagen, betet er sich immer wieder vor, um dann doch sitzen zu bleiben und weiter vor sich hin zu starren.

      Rebecca hat aufgehört zu leben, ihr kleiner Augapfel, ihre Nachzüglerin, ihr Nesthäkchen, denn sie kam erst zur Welt, als ihr Bruder Moshe schon zehn Jahre alt war und sie sich längst damit abgefunden hatten, dass er ein Einzelkind bleiben würde. Und jetzt ist sie tot, ermordet von unbekannten Tätern, die nicht wissen, was sie ihnen antun. Einfach so, aus heiterem Himmel.

      Ich muss Moshe erreichen, sagte er sich wieder vor, bleibt aber wie angewurzelt dort sitzen, wo er gerade sitzt, zwei Schritte entfernt von dem Telefon auf seinem Nachttisch und dem Handy in seiner Jacke, die über der Rückenlehne des Stuhls vor dem kleinen Schreibtisch hängt.

      Es ist Nachmittag, und sein Sohn kriecht wahrscheinlich gerade irgendwo auf den Golanhöhen im Staub herum und übt sich in „Häuserkampf“. So sieht es sein Lehrplan in dieser Woche vor, wenn Aaron sich richtig entsinnt. Sie telefonieren regelmäßig an den Wochenenden, und so sind seine Eltern zumeist darüber im Bilde, welche Fortschritte er in seiner Ausbildung macht.

      Wenn es nach Aaron geht, soll es auch bei diesen Übungen bleiben; er hofft, dass sein Sohn irgendwann zur Vernunft kommt. Er ist smart, clever und er hat ein Einser-Abitur in der Tasche, weshalb ihm so viele friedfertigere Wege offenstehen als der, den er beschritten hat.

      Eine Zeitlang hat bei Silberschmieds in Frankfurt der Haussegen ernsthaft schiefgehangen, nachdem Moshe sich dafür entschieden hatte, nach seiner zweieinhalbjährigen Militärzeit nicht zurück nach Deutschland zu kommen, um dort zu studieren. Nein, er will etwas für sein Land tun, sagte er damals im Brustton der Überzeugung, und dafür scheint ihm ausgerechnet die Arbeit beim israelischen Mossad am geeignetsten.

      Rebecca, meine Kleine! Ist er bisher noch wie betäubt gewesen, so schüttelt ihn jetzt der Schmerz durch, ein trockenes Schluchzen bahnt sich seinen Weg nach draußen und sein Oberkörper schwingt unwillkürlich vor und zurück, so als habe er sein Baby im Arm und wolle es beruhigen.

      Da Moshe aus Sicherheitsgründen kein Handy benutzen darf, ist Aaron auf seine Dienststelle angewiesen. Die gibt seinen Anruf weiter und sein Sohn kann ihn dann von einem Gemeinschaftstelefon aus zurückrufen.

      *

      Moshe weiß, dass sein Vater in Tel Aviv ist, und er hat schon auf dessen Anruf gewartet. Er will versuchen, bei seinen Ausbildern einen freien Tag herauszuholen, damit er sich mit ihm treffen kann. Das Hotel, in dem sein Vater abgestiegen ist, liegt direkt am Mittelmeerstrand von Tel Aviv, und es ist mehr als nur verlockend, nach der Schinderei der letzten Wochen einfach einmal einen Badetag einzulegen.

      Aber wie er seinen Vorgesetzten kennt, ist das kaum zu erwarten. „Silberschmied, wie viele Urlaubstage stehen Ihnen jährlich zu?“ Das wird wahrscheinlich der einzige Kommentar zu seinem Anliegen sein, schließlich sind sie hier nicht im Kindergarten. Der Feind legt sich auch nicht an den Strand.

      Als er unter der Dusche den Staub eines langen Tages losgeworden ist, hat er Hunger. Er kann zwischen der kleinen Kantine im Haus und dem Kühlschrank seines Zimmers wählen und entscheidet sich für Selbstverpflegung. Er hat Schwarzbrot und Dosenfleisch gebunkert, das soll für heute reichen.

      Ein Junge aus seiner Brigade steckt den Kopf durch die Tür. „Du sollst beim Kommandanten antreten, und zwar sofort.“

      Moshe lässt alles stehen und liegen und geht mit einem mulmigen Gefühl die paar Meter zum Büro seines Vorgesetzten. Hat er etwas angestellt? Eigentlich ist er mit sich im Reinen, und er gehört - abgesehen davon - zu den Jahrgangsbesten. Was soll’s, denkt er und klopft an die Tür.

      „Setzen Sie sich“, sagt sein Boss und beendet kurz darauf das Telefonat, das er gerade noch geführt hat.

      Jizchak Sharon schaut Moshe prüfend an, Moshe schaut bange zurück und fragt sich, was als nächstes kommen mag. Für eine Beförderung ist er noch nicht lange genug dabei, und degradieren können sie ihn auch nicht, weil er noch ganz unten auf der Karriereleiter steht.

      „Bei Ihnen zuhause in Deutschland ist etwas geschehen, ein Unglück, wenn ich es recht verstanden habe. Sie sollen bitte Ihren Vater anrufen, er wartet auf Ihren Rückruf. Es ist dringend, also verlieren Sie besser keine Zeit.

      Er hat gesagt, dass Sie wissen, wo er sich gerade aufhält, abgesehen davon können Sie ihn ja auf seinem Handy erreichen. Ich bin hier noch für zwei oder drei Stunden beschäftigt. Bitte kommen Sie nach dem Gespräch noch einmal her, wenn Ihnen danach ist.“

      Mit diesen Worten entlässt ihn der Kommandant, und Moshe hat nun endgültig weiche Knie.

      *

      Obwohl Rebecca schon seit zwei Tagen vermisst wird, besteigt Aaron Silberschmied morgens eine Maschine der EL AL, die ihn von Frankfurt nach Tel Aviv bringt.

      Er hat kaum eine Wahl, denn er hat in den letzten sechs Monaten einen Deal im exorbitanten Umfang von über zweiundsechzig Millionen Dollar auf den Weg gebracht, der jetzt unter großem Zeitdruck realisiert werden muss.

      Er hätte seinen Partner nach Israel schicken können, aber der liegt mit einem Blinddarmdurchbruch im Krankenhaus und wird noch wochenlang ausfallen. Und einen anderen Mitarbeiter, der sich so kurzfristig in das komplizierte Vertragswerk einarbeiten könnte, haben sie nicht in ihrer Agentur.

      Sicher hätte man sich die Unterlagen auch gegenseitig zufaxen können, aber das ist nur eine Seite der Medaille.

      Er muss nach der Unterzeichnung des Kontraktes in einem zweitägigen Verhandlungsmarathon sämtliche Einzelheiten mit vier verschiedenen Veranstaltern klären, und wenn man die Rolling Stones, Lady Gaga, Elton John und noch sieben oder acht weitere Premium Acts auf die Bühne bringen will, dann gibt es ungefähr drei Milliarden Dinge zu organisieren, bevor der erste Akkord erklingt.

      Er hat sich eingeredet, dass Rebecca schon wieder auftauchen wird. „Die Pubertät, Schatz“, hat er zu seiner Frau gesagt. „Da spinnen sie einfach manchmal.“

      Aber eigentlich hat er damit nur sich selbst soweit beschwichtigt, dass er diese Reise antreten konnte. Und jetzt ist Rebecca tot, und er sitzt hier, während seine Frau in Frankfurt diesen furchtbaren Alptraum allein durchleben muss.

      Der Klingelton seines Handys ist zu hören, mechanisch steht er auf, geht zu seiner Jacke, zieht es aus der Tasche.

      Es ist Moshe. Er sagt ihm, was passiert ist. Moshe soll seinen Kommandeur darum bitten, dass er zur Beerdigung seiner Schwester fliegen darf. Moshe sagt ja, das will er gleich tun. Sein Vater wird für morgen Vormittag einen weiteren Flug nach Frankfurt buchen.

      Moshe legt auf. Jetzt endlich kann Aaron Silberschmied weinen.

      *

      Moshe hängt den Hörer zurück auf die Gabel und steht sekundenlang

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