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ihm fast aus den Höhlen. Seine Lippen bewegen sich stumm, ein Speichelfaden hängt von seinem rechten Mundwinkel herab und er sieht aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Sein Unterkiefer beginnt Luft zu kauen, alle Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. Es ist ein Gespenst, das da vorne steht, aber es ist ein sehr reales und sehr lebendiges Gespenst.

      Sein Verstand droht auszusetzen, Bilder von Schmach und Scham, von Aufruhr und Wut folgen in wilder Abfolge, das alles geschieht in Sekunden.

      „Das ist nicht Erdmann“, flüstert er endlich, „das ist nicht Erdmann.“

      „Pssst!

      „Das ist gar nicht Erdmann…“ Er kann es nicht fassen. Er hat den Alten zuerst nicht erkannt, als dieser die Bühne betrat. Aber er kennt diese Stimme. Die hohe, singende Stimme, die durch Mark und Bein geht, eine Stimme, die schon vor einem halben Jahrhundert so geklungen hat; er würde sie niemals vergessen, nicht bis zum jüngsten Gericht. „Das ist nicht…“

      „Jetzt halten Sie aber die Klappe“, die ältere Frau vor ihm schaut jetzt nicht mehr besorgt, sondern wütend.

      „Das ist Seligman, Joshua Seligman! Der Jud‘…“

      Köpfe rucken herum, entgeisterte Blicke treffen ihn, die er aber nicht mehr bemerkt, denn er springt bereits auf und verlässt hastig den Saal, in dem es schlagartig totenstill geworden ist. Aber kaum hat er die Tür hinter sich zugeschlagen, bricht ein mittlerer Tumult los.

      Der alte Mann steht am Mikrofon und kann sich ein feines Lächeln nicht verkneifen. Er weiß ganz genau, wer da soeben die Flucht angetreten hat.

      Joshua Seligman, heute bekannt als Johannes Erdmann, wartet, bis es im Publikum wieder ruhig geworden ist; dann setzt er seine Rede fort, ohne auf das soeben Geschehene einzugehen. Er hat seinen Spaß an diesem kurzen Zwischenfall gehabt, denn schließlich hat er sich diesen Spaß selbst ausgedacht.

      Der Rest der Veranstaltung verläuft ungestört, und nachdem Erdmann seine Rede beendet und nochmals auf das Büfett hingewiesen hat, springen seine Gäste auf und eilen nach draußen. Immerhin haben sie gänzlich unverhofft eine saftige Klatschgeschichte aus dieser insgesamt recht unerfreulichen Veranstaltung mitnehmen können. Und das sättigt um einiges nachhaltiger als jedes noch so leckere Lachshäppchen.

       1

      Rebecca Silberschmied kommt nach Unterrichtsschluss am Goethe-Gymnasium gegen 13:30 Uhr bei ihrem Großvater an. Sie isst dort zu Mittag und verlässt kurz darauf das Haus im Frankfurter Westend, um nach Sachsenhausen zu fahren und dort mit ihrer besten Freundin für einen Test in Chemie zu pauken. Die zerknitterte U-Bahnfahrkarte in ihrer Hosentasche belegt dies später; einen Rückfahrschein finden die Ermittler nicht. Die junge Frau besitzt keine Monatskarte, weil sie in Fußnähe zu ihrer Schule wohnt und sich deshalb eine solche nicht für sie lohnt.

      Und da auch ihre Freundin später aussagt, dass sich Rebecca für mehr als zwei Stunden in ihrer Wohnung aufgehalten hat, fokussiert sich die Suche nach ihr auf die Umgebung der U-Bahn-Station, an der sie nach menschlichem Ermessen ihre Heimfahrt hätte antreten sollen.

      Die Beamten, die sofort nach Eingang der Vermisstenanzeige ausgeschwärmt sind, um nach möglichen Augenzeugen zu suchen, erfahren - wie zu vermuten - im Westend nichts Verwertbares. Dagegen glaubt eine Zeitungsverkäuferin in Sachsenhausen gesehen zu haben, wie ein Mädchen von einem Mann angesprochen wird und kurz darauf in ein Auto steigt – oder eher hineingeschubst wird, als dass sie es freiwillig tut. Das Fahrzeug ist dunkel und sehr gepflegt, vielleicht ist es ein BMW oder Audi. Den Mann, der das Mädchen angesprochen hat, kann sie nur ungenau beschreiben. Er sei groß gewesen, mit Glatze oder Kurzhaarschnitt.

      Der Beamte, der mit der Verkäuferin gesprochen hat, hat dieser Aussage den Hinweis hinzugefügt, dass die Frau trotz der frühen Stunde der Befragung (ca. elf Uhr vormittags) deutlich nach Alkohol riecht, und dass sie offensichtlich ein starkes Mitteilungsbedürfnis besitzt, wenn sie getrunken hat. Beides entwertet ihre Aussage möglicherweise ganz, zumindest aber teilweise. Ein Witzbold hat mit Bleistift hinter dem entsprechenden Abschnitt des Protokolls das Wort „Schnapsdrossel“ gekritzelt.

      Gefragt, warum sie ihre Beobachtung nicht schon am Vortag der Polizei gemeldet hat, kann die Frau das nicht erklären. Der Beamte mutmaßt, dass sie auch zum Zeitpunkt der möglichen Entführung von Rebecca S. alkoholisiert war und deshalb Angst hatte, sich zu blamieren.

      Trotz aller Unwägbarkeiten bezüglich dieser Zeugenaussage kann man davon ausgehen, dass das Mädchen auf den wenigen Metern von der Haustür ihrer Freundin zur nächstgelegenen U-Bahn-Station entführt worden ist. Es findet sich trotz aller Bemühungen nirgends eine Aussage, die Zweifel an diesem Sachverhalt aufkommen lässt. Man hat aber jetzt eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wann Rebecca Silberschmied überfallen wurde. Tage später wird der Pathologe feststellen, dass der Tod der Schülerin vermutlich bald darauf eingetreten ist, wobei er damit eine Zeitspanne von einigen Stunden meint. Daraus folgt für Kommissar Schuchardt von der Mordkommission, dass es bei diesem Verbrechen nicht um Lösegeld gegangen ist.

      Die Freundin der Toten weint und weint, und zwischendurch erfahren die Beamten, dass gemeinsames Chemielernen im Wesentlichen bedeutet, dass sie zwei Stunden lang über die Jungs in ihrer Klasse lästern und sich zwischendurch eine große Pizza kommen lassen, etwas, das bei Rebecca zuhause nicht möglich wäre, denn ihre Eltern und der Großvater haben eine ziemlich vorsintflutliche Meinung zu Fast Food (und nebenbei auch zu Jungs).

      Rebecca trägt eine weiße Bluse, als sie bei Claudia eintrifft; sie zieht sie aber direkt nach ihrer Ankunft aus und setzt sich in einem nabelfreien Top auf den Balkon, ein weiterer Akt zivilen Ungehorsams gegen die restriktive Jugendpolitik in ihrer Familie.

      Den Gedanken, dass die mutmaßlich Entführte einen festen Freund haben könnte, empfindet ihre Freundin als abwegig. Ihre Eltern würden sie eher in einem Kohlenkeller anketten als eine solche Liaison zuzulassen. Sie sei auch mit Sicherheit noch Jungfrau, ansonsten wüsste sie als ihre engste Vertraute es bestimmt. Der Pathologe wird auch das bestätigen, was eher nebenbei geschieht angesichts all der Gräueltaten, die Rebecca Silberschmied zugefügt worden sind. „Verkrustetes Blut an den Innenseiten beider Oberschenkel“, spricht er resigniert in sein Diktiergerät, bevor er an diesem Tag nach Hause geht, um einen Joint zu rauchen, mindestens so groß wie ein Ofenrohr.

      Mutmaßliche Entführung in der Nähe einer U-Bahn-Station nachmittags gegen siebzehn Uhr dreißig. Dunkles Fahrzeug, großer Kerl mit kurzem Haar plus ein Fahrer. Viel ist das nicht.

      Sofort schickt die Polizei ein paar Spezialisten zur Wohnung der Familie Silberschmied, lässt das Telefon an ein Aufnahmegerät koppeln und wartet auf einen Anruf, der in den üblichen ersten vierundzwanzig Stunden nicht eingeht. Dann tritt der Vater des Mädchens auf den Plan und verbietet den Beamten die weitere Überwachung. Zu groß sei das Risiko, dass die Entführer Wind davon bekommen und ihre Tochter das büßen muss.

      Am Morgen nach dem Verschwinden von Rebecca fallen ein paar Beamte im Goethe-Gymnasium ein und befragen ihre Freunde und Freundinnen einzelnen und parallel in mehreren eilig geräumten Klassenzimmern. Von den Mädchen wollen die Beamtinnen unter anderem wissen, ob Rebecca vielleicht von irgend einem Jungen besonders hartnäckig angehimmelt wird. Doch diese Spur führt offenbar nirgendwo hin, und man lässt sie fallen, sobald zwei Stunden später die Aussage der Zeitungsfrau vorliegt. In der zehnten Klasse fährt noch niemand einen Wagen der Oberklasse; also kann es kein durchgedrehter jugendlicher Verehrer gewesen sein.

      Man überprüft selbstverständlich auch die Kartei der polizeibekannten Sexualstraftäter und unter diesen welche, die wegen Übergriffen auf junge Mädchen eingesessen haben und erst vor kurzem wieder entlassen worden sind. Von diesen kommen vier in die engere Auswahl, und die Polizei rückt mit Spezialeinheiten aus, um diese aufzusuchen und zur Sache zu befragen.

      Einer der vier liegt im Krankenhaus, einer ist unterwegs in Südfrankreich, ein dritter hat ein einwandfreies Alibi. Der vierte Mann wohnt bei seiner Mutter, und er erklärt, dass er spezielle Medikamente nimmt, die ihn impotent machen. „Sie könnten mir Marilyn Monroe nackt und in High Heels auf den Schoß

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