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des Lärms.

      „Nur damit Sie das alles einordnen können“, begann sie schließlich, „ich bin in der Hauptsache Hauptkommissarin beim LKA 1, zuständig für Delikte am Menschen. Ich war einige Monate dienstunfähig, es war nicht sicher, ob ich in den Beruf zurückkehren würde. In dieser Zeit hat sich Stubenrauch um mich gekümmert, und ich bin ihm sehr dankbar dafür. Von ihm bekommen wir auch die Fälle, zumindest so lange, bis sich die neue Teamstruktur eingeschliffen hat. Sind keine Fälle für uns da, werden wir aber anderen Teams zugewiesen. Kein sehr erfrischender Gedanke. Alles klar?“

      Jan nickte. Er wunderte sich, dass Karo hier in normaler Lautstärke von der Polizeiarbeit sprach. Wenn ich richtig im Bilde bin, dachte er, ist das hier doch Kreuzberg! Andererseits achtete wirklich niemand auf sie, schon gar nicht das japanische Pärchen neben ihnen.

      „Doch zum Däumchendrehen kommen wir bestimmt nicht“, setzte Karo wieder an, „es gibt immer viele Fälle, in denen psychologischer Spürsinn gefragt ist. Ich habe alle meine Fortbildungen in dem Bereich gemacht. Ein bisschen was über Psychologie weiß ich also auch. Um aber weiterhin wichtige Fälle zu bekommen, sollten wir den hier lösen, wie gesagt. Da ist dann auch für Stubenrauch besser.“

      Mit einem Coffee-to-go in der Hand saßen sie eine halbe Stunde später auf einer völlig mit Grafitti besprühten Bank im Görlitzer Park, gegenüber einem Kinderspielplatz, auf dem aber nicht viel los war. Ein paar Typen mit Kapuzenpullis lungerten herum, das war alles.

      „Gehen wir einmal durch, was nun zu bewerkstelligen ist, um dem Täter näherzukommen“, begann Karo, während Jan ihre Fesseln bewunderte. Sicher hat sie auch schöne Füße, dachte er. Einen kurzen Blick hatte er ja schon darauf werfen können, als sie die Schuhe wechselte. Die weißen Slipper stehen ihr gut, ging ihm durch den Kopf, und wenn er an einer Frau die Füße mochte, mochte er die ganze Frau. Das war immer so. „Und?“, fragte Karo. Offensichtlich erwartete sie, dass er die Punkte noch einmal aufzählte.

      Dass sich Nordhäuser bloß nicht daran gewöhnt, ständig unterwegs zu sein, dachte sie. Aber was sollte man im Turm, so lange nicht einmal ein Whiteboard und ein Stadtplan dort war? Sie bemerkte durchaus, wie er sie ansah, aber das hätte sie sich früher überlegen können. Stubenrauch hatte ihr mindestens zehn Vorschläge gemacht für die Stelle des Psychologen, alle aus Berlin, darunter vier Frauen. Warum nur hatte sie von Anfang an gesagt, sie hätte einen Kandidaten für die Stelle? Auf der Tagung in Wiesbaden war Jan nicht besonders aufgefallen, er hatte nicht einmal ein Referat gehalten. Zugehört hatte er, das war alles, besonders ihr, nämlich während des Abendessens damals. Sie hatte viel geredet. Müssen wohl die Hormone gewesen sein, dachte sie, oder noch der Schock, schwanger zu sein. Sie holte tief Luft.

      „Ich warte, Herr Nordhäuser“, sagte sie und zog die Füße unter die Bank, „liefern sie mir den Täter.“

      „Gut“, sagte Jan, „machen wir uns zunächst ein ungefähres Bild von ihm, natürlich ohne uns auf irgendetwas festzulegen.“

      Er hatte ja nicht umsonst dutzende Fachartikel gelesen in die letzten Wochen, und er wusste auch, wie groß die Gefahr jedes Mal ist, alles aus dem Altbekannten zu erklären. Stubenrauch hatte es angedeutet, das Normalmodell funktionierte hier womöglich nicht, es gab zu viele Abweichungen.

      „Wir gehen vorläufig davon aus“, begann er also, „dass es ein Mann ist. Er hat einen Sinn für Ordnung und Sauberkeit, was mit der Beziehung zu seiner Mutter zusammenhängen mag. Hört sich nach einem Klischee an, ist aber nicht selten der Fall. In welchem Alter sehen Jungs ihren Müttern bei der Hausarbeit zu? Sagen wir um die zehn Jahre, da ist das noch kindlicher Anhänglichkeit geschuldet, die mit der Pubertät verlorengeht.“

      Karo bot ihm eine Zigarette an und gab ihm Feuer. Er nahm noch einen Schluck Kaffee, zog ein paar Mal tief den Rauch ein und fuhr dann fort.

      „Ich spekuliere also mal. Der Junge ist zehn, elf Jahre alt, die Mutter so um die fünfunddreißig. Er hilft ihr, die Bettwäsche ordentlich zusammenzulegen, sie in den Schrank zu legen, unterhält sich mit ihr, nimmt Gerüche war, etwa, wenn die Wäsche befeuchtet und gebügelt wird. Oder denken Sie an das Parfüm der Mutter oder den Geruch der Schminke, des Haarsprays. Lippenstift hat einen prägnanten Geruch. All dies prägt ihn, es prägt sich ihm ein. Die Mutter bleibt, auch wenn sie natürlich altert, für ihn auf eine bestimmte Weise immer ungefähr in diesem Alter. Jede Frau in dem Alter, die ihrem Typ entspricht, fällt ihm auf. Einige Männer fühlen sich sexuell zum Typ Mutter hingezogen, die meisten eher nicht. Unser Mann könnte der Typ sein, der sich hingezogen fühlt. Seine Mutter wäre also dunkelhaarig, eher von blassem Teint und runden Gesichtszügen, nicht so sehr Dame der Gesellschaft, eher untere Mittelschicht oder sogar Unterschicht, wie unser Opfer.“

      Er warf die Zigarette vor sich auf den Boden und trat sie aus. Da Karo nichts sagte, fuhr er fort.

      „Daraus lässt sich nicht auf das Alter des Täters schließen, ich würde aber trotzdem davon ausgehen, dass er älter als das Opfer ist, um die vierzig vielleicht, mindestens, und emotional und sozial etwas zurückgeblieben. Das vermute ich wenigstens. Beruflich ist er wahrscheinlich nicht sehr erfolgreich und lebt mit einiger Sicherheit nicht in einer Partnerschaft, wenn auch nicht mit der Mutter zusammen. Das wäre zuviel des Guten, oder Schlechten. Es könnte jedenfalls sein, dass seine soziale Kompetenz nicht sehr ausgeprägt ist, was aber auch heißen könnte, dass er die Tat vollbracht hat, weil sich ihm einfach plötzlich eine Gelegenheit bot. Vielleicht ist er zu der Leiche gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Ich würde aber vorsichtig immerhin annehmen, dass unser Mann eine ängstliche, eine vermeidende Persönlichkeitsstörung hat. Neigt er allerdings im Ganzen zum Theatralischen, wie es die Drapierung der Leiche andeutet, so hätten wir eine histrionische Persönlichkeitsstörung. Oder alles in Kombination.“

      Was rede ich da für einen Blödsinn, dachte er. Und wie er das eben gesagt hatte – nicht in einer Partnerschaft lebend! Als wenn das eine Krankheit wäre, wenn man keinen Partner hat. Und vielleicht stimmte auch nichts von all dem, denn eigentlich war das alles nur wilde Spekulation. Es war viel zu früh für ein Täterprofil, er hängte sich fürchterlich weit aus dem Fenster. Das wusste Karo so gut wie er selbst. Trotzdem aber gab es einen Menschen, der die Leiche Jana Schäfers zum Teufelssee gebracht und sie dort aufgebahrt, sie drapiert hatte. Dass dieser Mensch zuvor mutmaßlich auch noch die Leiche gewaschen, die Wohnung geputzt und die persönlichen Gegenständen entsorgt hatte, sprach nicht gegen die Vermutung, dass er zufällig zu der Leiche gekommen sein könnte. Aber auch nicht dagegen, dass es sich vielleicht doch um Mord handelte und dass er bald wieder morden würde, weil er das Gefühl so schnell wie möglich wieder haben wollte – welches Gefühl auch immer! Karo schwieg und rauchte.

      „Ich hoffe, es war nicht zu sehr fachchinesisch“, sagte er schließlich, obwohl er wusste, dass es das auf keinen Fall war. Er neigte ohnehin nicht dazu. Wie zur Belohnung für seine Mühe streckte Karo die Beine aus und drehte die Fußspitzen zueinander.

      „Dann haben wir ja jetzt“, sagte sie, „zwei Optionen. Entweder wir suchen die Mutter des Täters, oder wir lassen die Mutter in Ruhe und greifen uns gleich den Sohn.“

      Karo grinste. Auf Spott war Jan nicht eingestellt gewesen, es gab ihm einen kleinen Stich.

      „Entschuldige“, sagte Karo, aufstehend, „war nur ein Witz. Ich seh jetzt schon ein wenig klarer, oder sagen wir, weniger verschwommen. Ich brauche halt so ein vages Täterbild, selbst wenn am Ende alles anders ist.“

      Jan nickte. Sollte das „Entschuldige“ ein erster Schritt sein, zum Du zurückzukommen, dachte er, zu der Lockerheit, die in Wiesbaden auf der Tagung da gewesen war? Obwohl Lockerheit eigentlich nicht das richtige Wort war. Schließlich hatte sie ihn in der Hotellobby einfach stehen gelassen. Jan nahm die leeren Kaffeebecher und drückte sie in einen bereits übervollen, orangefarbenen Abfalleimer, auf dem der Spruch ‚Corpus für alle Delicti’ prangte. Na dann, dachte Jan, mal rein damit.

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