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einer unbegrenzten Vervollkommnung seiner eignen Persönlichkeit wie der ganzen Welt einsieht und sich dem Ideal dieser Vervollkommnung nicht nur voll froher Hoffnung, sondern in der festen Überzeugung hingibt, daß dieses Ideal auch tatsächlich zu verwirklichen sei. Er hatte in jenem Jahre, noch als Hörer der Universität, Spencers »Soziale Statik« gelesen, und dessen Ansichten über das Grundeigentum hatten auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht, um so mehr, als er selbst der Sohn eines Großgrundbesitzers war. Sein Vater war nicht reich gewesen, die Mutter dagegen hatte einen Grundbesitz von etwa zehntausend Dessjatinen als Mitgift erhalten. Zum erstenmal hatte er damals die ganze Ungerechtigkeit des Privateigentums am Grund und Boden erkannt, und da er zu jenen Leuten gehörte, die den höchsten geistigen Genuss darin sehen, im Namen der sittlichen Forderungen sich Opfer aufzuerlegen, so hatte er sich entschlossen, auf sein Eigentumsrecht am Grund und Boden zu verzichten, und hatte damals das nach dem Tode des Vaters ihm zugefallene Gut den Bauern überlassen. Dieses selbe Thema nun behandelte er auch in seiner Abhandlung.

      Sein Leben auf dem Gute der Tanten wickelte sich in jenem Jahre auf folgende Weise ab: er stand sehr früh, zuweilen schon um drei Uhr morgens, auf und begab sich noch vor Sonnenaufgang, oft noch mitten im Morgennebel, nach dem unten am Fuße des Berges vorübereilenden Flusse, um ein Bad zu nehmen, und kehrte zurück, als noch auf Gras und Blumen der ganze frische Tau lag. Dann trank er Kaffee und setzte sich an seine Abhandlung oder vertiefte sich in die Quellen, die er für die Arbeit benutzte, noch öfter jedoch verließ er, statt zu lesen oder zu schreiben, wieder das Haus und schlenderte durch die Felder und Wälder. Vor dem Mittagessen machte er irgendwo im Garten ein Schläfchen, unterhielt dann bei Tisch die Tanten mit seinen lustigen Einfällen, machte am Nachmittag einen Spazierritt oder eine Ruderpartie und verbrachte den Abend entweder wieder bei seinen Büchern oder in Gesellschaft der Tanten, mit denen er Patience legte. Oft konnte er zur Nachtzeit, namentlich wenn der Mond schien, einzig aus übergroßem, vollem Glücksgefühl keinen Schlaf finden – er erhob sich dann vom Lager und ging, statt zu schlafen, ganz mit seinen Gedanken und Träumen beschäftigt, bis zum Tagesanbruch spazieren.

      So glücklich und ruhig lebte er während des ersten Monats seines Sommeraufenthalts bei den Tanten. Der schwarzäugigen, schnellfüßigen Katjuscha, die halb als Pflegekind, halb als Stubenmädchen im Hause lebte, schenkte er damals nicht die geringste Aufmerksamkeit.

      Unter der Obhut seiner Mutter aufgewachsen, war Nechljudow mit neunzehn Jahren noch ein vollkommen unschuldiger Jüngling. Das Weib existierte in seiner Vorstellung nur in Gestalt der zukünftigen Gattin. In allen den Frauen, die nach seiner Meinung nicht dazu bestimmt waren, einmal zu ihm in das Verhältnis der Gattin zu treten, sah er nicht das Weib, sondern einzig den Menschen. Es geschah jedoch, daß in jenem Sommer, und zwar am Himmelfahrtstage, bei den Tanten eine Nachbarin mit ihren Kindern, zwei jungen Fräulein und einem Gymnasiasten, zu dem sich noch ein im Hause verkehrender junger Künstler bäuerlicher Herkunft gesellte, zu Besuch erschien.

      Nach dem Tee wurde auf der bereits abgemähten kleinen Wiese vor dem Hause »Fang schon!« gespielt. Auch Katjuscha spielte mit. Nachdem das Spiel ein Weilchen gedauert, fügte es sich, daß Nechljudow neben Katjuscha zu stehen kam und mit ihr zugleich davonlaufen sollte. Es war Nechljudow immer angenehm gewesen, Katjuscha zu sehen, doch wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, daß zwischen ihm und ihr irgendwelche besondere Beziehungen bestehen könnten.

      »Die beiden werden sich wohl nicht fangen lassen,« meinte der muntere junge Künstler, der zum Fangen dran war und im übrigen auf seinen kurzen, krummen, doch kräftigen Bauernbeinen recht fix war – »es müßte denn eins von ihnen stolpern.«

      »Nun, Sie werden sie schon fangen!« rief ihm jemand zu.

      »Eins, zwei, drei!«

      Er klatschte dreimal in die Hände. Sich kaum haltend vor Lachen, drückte Katjuscha noch einmal mit ihrem kräftigen, rauen Händchen Nechljudows große Hand, ließ ihn dann los und rannte, während ihre gestärkten Röcke knisterten und rauschten, nach links davon.

      Nechljudow lief, so schnell er konnte, er wollte sich von dem Künstler nicht besiegen lassen. Als er sich umsah, erblickte er Katjuscha, und dicht auf ihren Fersen den Künstler, aber auf ihren kräftigen jungen Beinen flog sie nur so dahin und wich dem Verfolger nach links aus. Vor ihr stand ein Fliedergebüsch, über das niemand hinauslaufen durfte; doch Katjuscha sah sich nach Nechljudow um und gab ihm ein Zeichen mit dem Kopfe, daß sie sich hinter dem Busch begegnen wollten. Er verstand sie und rannte hinter den Fliederbusch, hier aber befand sich, was ihm unbekannt war, ein von Brennnesseln überwucherter Graben; er stürzte hin und geriet mit den Händen in die Brennnesseln, doch erhob er sich sogleich wieder, klopfte sich, über sich selbst lachend, die Kleider ab und lief auf den freien Platz hinter dem Gebüsch.

      Katjuscha flog ihm entgegen, ein strahlendes Lächeln im Gesicht, in dem die schwarzen Augen wie zwei feuchte Beeren schimmerten. Sie näherten sich einander und faßten sich an den Händen.

      »Sie haben sich wohl an den Brennnesseln verbrannt?« sagte sie, während sie mit der freien Hand ihre herabgeglittenen Zöpfe in Ordnung brachte; sie konnte kaum Atem bekommen und sah mit einem vollen, lächelnden Blick zu ihm auf.

      »Ich wußte nicht, daß dort ein Graben ist,« sagte er, gleichfalls lächelnd, ohne ihre Hand loszulassen.

      Sie trat dichter an ihn heran, und ohne zu wissen, wie es geschah, näherte er sein Gesicht dem ihrigen; sie wich ihm nicht aus, und er drückte ihre Hand und küßte sie auf den Mund.

      »Nun seh' einer!« rief sie aus, entzog ihm mit einer raschen Bewegung ihre Hand und lief fort.

      Sie lief auf die Fliederbüsche zu, brach einen Zweig mit zwei schon zerfallenden weißen Blütentrauben ab, fuhr sich damit über das erhitzte Gesicht und ging, nach ihm zurückschauend und die Arme rasch hin und her schwingend, zu den Spielenden zurück.

      Von diesem Tage an änderten sich die Beziehungen zwischen Nechljudow und Katjuscha, und es bildete sich zwischen ihnen jenes besondere Verhältnis aus, das zwischen einem unschuldigen Jüngling und einem ebensolchen jungen Mädchen entsteht, die sich zueinander hingezogen fühlen ...

      Sowie Katjuscha ins Zimmer trat, oder sowie Nechljudow auch nur von ferne ihre weiße Schürze erblickte, war es ihm, als sei die Sonne für ihn aufgegangen. Alles erschien ihm interessanter, heiterer, bedeutsamer, das ganze Leben kam ihm freudiger und schöner vor. Und dieselbe Empfindung hatte auch sie. Doch nicht nur die Gegenwart und die Nähe Katjuschas übten auf Nechljudow diese Wirkung aus; schon das Bewusstsein, daß es überhaupt eine Katjuscha gab, wirkte so auf ihn, und ganz dasselbe Gefühl hatte sie bezüglich seiner. Bekam Nechljudow von seiner Mutter einen unangenehmen Brief, oder ging es mit seiner Abhandlung nicht recht vorwärts, oder ward sein Jünglingsherz von grundloser Sehnsucht ergriffen, dann brauchte er nur daran zu denken, daß es eine Katjuscha auf der Welt gab, und daß er sie sehen werde, und sogleich war all das andere vergessen.

      Katjuscha hatte im Hause viel zu tun, doch wußte sie stets mit ihrer Arbeit früh genug fertig zu werden, um noch einige Zeit zum Lesen zu gewinnen. Nechljudow gab ihr Dostojewskis und Turgenjews Schriften, die er eben erst selbst gelesen hatte. Am besten gefielen ihr die Novellen Turgenjews.

      Sie kamen immer nur ganz gelegentlich dazu, miteinander zu sprechen, wenn sie sich im Korridor, auf dem Balkon oder auf dem Hofe trafen, vielleicht auch einmal im Zimmer Matrona Pawlownas, der alten Kammerzofe der Tanten, mit der Katjuscha zusammenwohnte, und bei der Nechljudow zuweilen ein Glas Tee »mit Zubiß« trank. Diese Unterhaltungen, die in Gegenwart Matrona Pawlownas stattfanden, machten ihm eine ganz besondere Freude. Die Gespräche unter vier Augen dagegen hatten etwas Peinliches – es war, als ob ihre Augen etwas ganz anderes, Wichtigeres zu reden hätten als der Mund, die Lippen verzogen sich, ein beklemmendes Gefühl befiel sie, und sie trennten sich rasch.

      So blieben die Beziehungen Nechljudows zu Katjuscha während der ganzen übrigen Zeit seines ersten Aufenthalts bei den Tanten. Den Tanten entging es nicht, was zwischen den beiden vorging; sie bekamen einen Schreck und schrieben über die Angelegenheit sogar an die Fürstin Helena Iwanowna, die Mutter Nechljudows, die noch im Ausland weilte. Tante Maria Iwanowna fürchtete, daß Dmitrij vielleicht eine Liebelei mit Katjuscha anfangen könnte. Doch ihre Befürchtung war grundlos: Nechljudow

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