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»Mauretania« beschäftigt. Sie war unbestraft und hatte gleichfalls eine Kopie der Anklageschrift erhalten. Die Botschkowa brachte ihre Antworten ungemein keck heraus, mit einer Betonung, als wollte sie sagen: »Ja, gewiß, ich bin die Euphemia, die Botschkowa, und ich habe die Kopie erhalten und bin stolz darauf, und kein Mensch soll mir darüber lachen.« Sie wartete nicht erst, bis sie aufgefordert wurde, sich zu setzen, sondern setzte sich sogleich nach Erledigung aller Fragen.

      »Ihr Name?« wandte sich der Vorsitzende an die dritte der angeklagten Personen. »Sie müssen aufstehen,« fügte er sanft und freundlich hinzu, als er bemerkte, daß die Maslowa sitzen blieb.

      Die Maslowa erhob sich mit einer raschen Bewegung und mit dem Ausdruck der Bereitwilligkeit, wobei ihre üppige Büste noch stärker hervortrat. Sie antwortete nicht, sondern sah schweigend mit den lachenden, ein wenig schielenden schwarzen Augen dem Vorsitzenden ins Gesicht.

      »Wie heißen Sie?«

      »Ljubow heiß' ich,« sagte sie rasch.

      Nechljudow hatte, während der Vorsitzende seine Fragen an die Angeklagten richtete, diese nacheinander durch sein Pincenez betrachtet. »Das ist doch sonderbar,« dachte er, ohne einen Blick von dem Gesichte der Maslowa zu verwenden. »Aber der Name Ljubow stimmt nicht,« dachte er, als er ihre Antwort vernahm.

      Der Vorsitzende wollte weiterfragen, doch der Richter mit der Brille unterbrach ihn und flüsterte ihm ärgerlich irgendetwas zu. Der Vorsitzende nickte zum Zeichen der Zustimmung und wandte sich an die Angeklagte.

      »Wieso heißen Sie denn Ljubow?« sagte er. »Hier steht ein anderer Name.«

      Die Angeklagte schwieg.

      »Ich frage Sie nach Ihrem wirklichen Namen!«

      »Wie Sie getauft wurden!« fügte der mürrische Richter hinzu.

      »Früher hieß ich Katerina.«

      »Das kann ja nicht sein!« fuhr Nechljudow in seinem stummen Selbstgespräch fort, obschon es für ihn ganz zweifellos war, daß sie es war – jenes selbe Mädchen, das im Hause seiner Tanten als Pflegekind und Stubenmädchen gelebt hatte, in das er eine Zeitlang verliebt – ja, buchstäblich verliebt – gewesen war, das er dann in einem tollen Rausche der Leidenschaft verführt und sitzen gelassen hatte, und an das er niemals wieder gedacht hatte, weil diese Erinnerung für ihn gar zu peinlich war, ihn gar zu laut anklagte und den Beweis lieferte, daß er, der auf seine Ehrenhaftigkeit so stolz war, diesem Mädchen gegenüber nicht nur nicht ehrenhaft, sondern geradezu gemein gehandelt hatte.

      Ja, sie war es. Er sah jetzt ganz deutlich jenes geheimnisvolle, ausschließliche Merkmal, das jeden Menschen von allen andern unterscheidet und ihn zu einem besonderen, einzigen, sich nirgends wiederholenden Wesen stempelt. Trotz der unnatürlichen Weiße und Fülle des Gesichts war dieser Stempel des Persönlichen, diese liebe, ausschließliche Besonderheit doch in ihrem Gesichte, in dem Zuge um den Mund, in den ganz wenig schielenden Augen, vor allem aber in diesem naiven, lächelnden Blicke und dem Ausdruck der Bereitwilligkeit im Gesichte, wie überhaupt in der ganzen Gestalt, nicht zu verkennen.

      »Das hätten Sie gleich sagen sollen,« sagte der Vorsitzende wiederum ganz sanft. »Und der Vatersname?«

      »Ich bin unehelich geboren,« sagte die Maslowa.

      »Na, dann wurden Sie doch nach dem Taufpaten genannt. Also?«

      »Michajlowna.«

      »Was mag sie nur begangen haben?« fuhr inzwischen Nechljudow, nur beklommen atmend, in seinen Gedanken fort.

      »Ihr Familienname?« fragte der Vorsitzende weiter.

      »Maslowa, nach der Mutter.«

      »Ihr Stand?«

      »Kleinbürgerin.«

      »Zur rechtgläubigen Kirche gehörig?«

      »Ja.«

      »Ihr Beruf? Womit haben Sie sich beschäftigt?«

      Die Maslowa schwieg.

      »Womit haben Sie sich beschäftigt?« wiederholte der Vorsitzende seine Frage.

      »Ich war in einem Hause,« sagte sie.

      »In was für einem Hause?« fragte der Richter mit der Brille in strengem Tone.

      »Sie wissen es doch selbst,« sagte die Maslowa, lächelte und sah, nachdem sie einen Moment zur Seite geschaut hatte, wieder offen und gerade den Vorsitzenden an.

      Es lag etwas so Ungewöhnliches in ihrem Gesichtsausdruck, etwas so Erschreckendes, Tieftrauriges in dem Sinn ihrer Worte, in ihrem Lächeln und dem raschen Blick, den sie über den Saal geworfen, daß der Vorsitzende die Augen niederschlug und für einen Moment vollkommene Stille im Saale herrschte. Dann fuhr der Vorsitzende fort zu fragen.

      »Sie haben noch nicht vor Gericht gestanden, sind noch nicht in Untersuchung gewesen?«

      »Nein,« sagte die Maslowa leise, mit einem Seufzer.

      »Ist Ihnen eine Kopie der Anklageschrift zugestellt worden?«

      »Ja.«

      »Setzen Sie sich,« sagte der Vorsitzende.

      Die Angeklagte nahm ihren Arrestantenrock mit einer Bewegung auf, wie geputzte Frauen ihre Schleppe aufzunehmen pflegen, setzte sich und schob ihre kleinen weißen Hände in die Ärmel des Schlafrocks, wobei sie nicht mit einem Blick von dem Vorsitzenden wegsah.

      Es folgte nun die Verlesung der Zeugenliste, die Entlassung der Zeugen, der Beschluss über die Vernehmung des ärztlichen Sachverständigen und sein Erscheinen im Sitzungssaal. Dann erhob sich der Sekretär, um die Anklageschrift zu verlesen. Er las laut und deutlich, doch dabei so schnell, daß seine Stimme, die das l und r falsch aussprach, nur ein einziges fortlaufendes, einschläferndes Geräusch hervorzubringen schien. Die Richter stützten sich abwechselnd auf den einen und andern Ellbogen, schlossen die Augen oder öffneten sie und flüsterten leise miteinander. Der eine der beiden Gendarmen bemühte sich immer wieder, einen Gähnkrampf zu unterdrücken.

      Der Angeklagte Kartinkin arbeitete ununterbrochen mit den Backenmuskeln. Die Botschkowa saß vollkommen ruhig und gerade da und kratzte sich nur zuweilen mit dem Finger unter dem Tuche den Kopf. Die Maslowa saß unbeweglich da, den Blick auf den Vorsitzenden gerichtet und ihm zuhörend, oder sie fuhr empor, als wollte sie etwas einwenden, errötete dann und seufzte tief auf, änderte die Haltung der Hände, sah sich um und blickte wieder auf den Vorleser.

      Nechljudow saß auf seinem hohen Stuhle in der dritten Reihe, als zweiter vom Rande; er sah, ohne sein Pincenez abzunehmen, unverwandt die Maslowa an, und in seiner Seele vollzog sich eine komplizierte, qualvolle Gedankenarbeit.

      10

      Die Anklageschrift hatte folgenden Wortlaut:

      »Am 17. Januar 18.. verstarb plötzlich im Gasthof ›Mauretania‹ der auf der Durchreise begriffene, in Kurgan, Sibirien, zuständige Kaufmann zweiter Gilde Ferapont Jemeljanowitsch Smjelkow. Der Polizeiarzt des vierten Bezirks bescheinigte, daß der Tod infolge einer Herzruptur, hervorgerufen durch übermäßigen Genuss spirituöser Getränke, eingetreten sei. Die Leiche Smjelkows wurde zur Bestattung freigegeben. Nach Verlauf von einigen Tagen jedoch sprach der aus Petersburg zurückkehrende Kaufmann Timochin, ein Landsmann und Freund Smjelkows, nachdem er die näheren Umstände, unter denen Smjelkow verstorben, in Erfahrung gebracht hatte, den Verdacht aus, der Verstorbene könnte möglicherweise vergiftet worden sein, zu dem Zweck, ihn des Geldes, das er mit sich führte, zu berauben.

      Dieser Verdacht wurde im Verlauf der eingeleiteten Untersuchung als wohlbegründet befunden und durch die Untersuchung folgendes festgestellt. 1. Smjelkow hatte kurz vor seinem Tode einen Betrag von 3800 Silberrubeln in der Bank erhoben. Es wurden jedoch bei der nach dem Tode Smjelkows vorgenommenen Inventuraufnahme nur 312 Rubel 16 Kopeken in Bargeld bei seinen Reiseeffekten gefunden. 2. Den ganzen Tag, der seinem Todestage voranging, sowie die darauf folgende Nacht hatte Smjelkow mit einem Mädchen namens Ljubka (Jekaterina

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