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Auszug von Bettinas Vater – so ähnlich musste es gewesen sein. Erst jetzt verstand sie wirklich, wie einem zumute ist, wenn ein vertrauter Mensch fortgeht. Ob Thilo sie auch umarmen würde? Sie hoffte es. Aber zunächst einmal stand ihr erster Tag im Gymnasium unmittelbar bevor. Sie hatte unruhig geschlafen und als sie aufwachte, schwankte ihre Stimmung zwischen freudiger und banger Erwartung. Sie zog sich an, frühstückte und hatte noch mehr als genug Zeit, um ihr Zimmer aufzuräumen bevor sie sich auf den Weg machen musste.

      „Guten Morgen Marie,“ sagte Trulle.

      Überrascht blickte sie auf.

      „Ich wollte dir nur alles Gute wünschen an deinem ersten und für alle folgenden Schultage … und mich verabschieden.“

      „Ja,“ sagte sie leise, „ich weiß …“, und war dennoch schockiert, „ich wünsche dir auch alles Gute. Schade, dass du gehen musst.“

      „Oh, bloß keine Sentimentalitäten. Du hast alle Lektionen fürs Leben gelernt, also bin ich überflüssig. Sieh mal auf die Uhr, ich glaube, es wird höchste Zeit für dich.“

      „Danke Trulle,“ Marie schluckte schwer, dann rannte sie zum Zimmer hinaus.

      „Ach Thilo, so klug und doch so unwissend,“ dachte Frau Thanner, die durch die offene Tür seine Worte gehört hatte, wohlwissend, dass er nicht mehr da sein würde, wenn Marie heute Mittag zurück käme.

      „Ich mag keine Abschiedsszenen,“ hatte er nur zur Begründung gesagt.

      Marie sah ihren Bruder während der nächsten Jahre nur zu Weihnachten oder mal für ein paar Tage in den Semesterferien. Meistens verkroch er sich in sein Zimmer und steckte den Kopf in Bücher, genauso, wie sie es von ihm gewohnt waren. Irgendwann wurde Maries Zimmer neu eingerichtet und ihr grüner Vorhang verschwand, zusammen mit den Seifenblasen-Filmen, auf dem Dachboden. Nur Trulle stand weiterhin im Regal an der gleichen Stelle wie immer, und noch immer hatte er das eine Ende der Sprechanlage in seinem Bauch, die Thilo ihm einst eingepflanzt hatte. Das andere Ende der Anlage lag gut versteckt in der hintersten Ecke einer Schublade von Maries Kommode. Damals, als er ohne Abschied, ohne sie in den Arm genommen zu haben, verschwunden war, war sie in sein Zimmer gegangen und hatte solange danach gesucht, bis sie es gefunden hatte. Thilo hatte das Fehlen nie bemerkt.

      Sechs Jahre brauchte er für seine Studien und weitere zwei, um die Doktorarbeit zu schreiben. Der Unfall passierte kurz vor der allerletzten mündlichen Prüfung. Ein einziger Moment der Unaufmerksamkeit – der Autofahrer hatte keine Chance gehabt, ihm auszuweichen. Als Thilo im Krankenhaus aufwachte, war sein rechtes Bein über dem Knie amputiert worden. Die gebrochene Rippe, die Hautabschürfungen und Quetschungen waren dagegen Nebensache, er beachtete sie kaum. Aber über sein Bein kam er nicht hinweg. Er verfiel in Depressionen, sah sich um sein Leben, sein Glück, seine harte Arbeit betrogen – alles schien verloren für immer. Teilnahmslos lag er in seinem Bett und starrte an die Decke, oder wandte seinen Kopf etwas zur Seite und starrte zum Fenster hinaus in den Himmel. Als er transportfähig war, verlegte man ihn in das Krankenhaus seiner Heimatstadt, wo er sich strikt weigerte, Besuch zu empfangen. Herr und Frau Thanner waren verzweifelt. Sie sprachen mit Ärzten und Krankenschwestern, mit Freunden und selbsternannten Heilern, sie ließen nichts unversucht. Es war Thilo, der alle Ansätze, alle Bemühungen zunichte machte, indem er sich verweigerte.

      Eines Nachmittags wachte er aus seinem Mittagsschlaf auf und sah direkt in die großen, gelben Augen von Trulle, der auf einem schmalen, rollbaren Regal am Fußende seines Bettes saß, unerreichbar für Thilo.

      „Was willst du hier, scher dich zum Teufel,“ entfuhr es ihm heftiger, als es eigentlich gemeint war.

      „Regel Nr. 1: Ich gehe, wenn ich es will. Also laber mir nicht die Ohren voll um mich umzustimmen.

      Regel Nr. 2: An unseren Unterhaltungen wirst du dich gefälligst beteiligen, ich halte nichts von Selbstgesprächen.

      Regel Nr. 3: Glotz mich nicht so feindselig an, das mag ich nicht.

      Regeln sind dazu da, befolgt zu werden, also keine Diskussionen, hast du das

      verstanden?“

      Thilo kniff die Lippen zusammen, wider Willen huschte ein leichtes Grinsen über sein Gesicht.

      „Gut,“ sagte Trulle unbeirrt, „dann wär das schon mal geklärt. Glaub ja nicht, dass ich dich jetzt frage, wie’s dir geht … das pfeifen die Spatzen von den Dächern. Die Frage ist vielmehr: Wie möchtest du, dass es dir geht?“

      „Wie ich möchte, dass es mir geht? Wie ich möchte,“ schrie Thilo aufgebracht. „Ich möchte mein Bein wiederhaben, aufstehen und nachhause gehen, das möchte ich!“

      „Das lässt sich machen,“ sagte Trulle, „es gibt Leute hier, die ganz fabelhafte Beine herstellen können.“

      „Ich will mein Bein, mein eigenes … verstehst du?“

      „Mein Bein, dein Bein, sein Bein … herrje, wenn du es anschnallst, ist es deins.“

      „Es ist nicht mein Fleisch und Blut, es ist Holz und Metall.“

      „Was spielt das für eine Rolle, wenn es das Gleiche kann? Sei nicht so wählerisch!“

      „Was?“ Thilo lachte hemmungslos bis ihm die Tränen kamen – Tränen der Belustigung und der Bitterkeit gleichermaßen. Als er sich wieder gefangen hatte, verzog er seinen Mund ironisch: „Dürfte ich dann wenigstens die Holzart wählen? Palisander wäre angemessen … ein Mann braucht ein Statussymbol.“

      „Ich verstehe … ich werde tun, was ich kann … oh, es ist spät geworden, ich muss gehen. Bis bald mal.“

      Trulle kam nicht am nächsten und auch nicht am übernächsten Tag, erst am überübernächsten meldete er sich wieder.

      „Bist du schon wieder da,“ fragte Thilo abweisend.

      „Ja, aber ich kann nicht jeden Tag nach dir sehen, auch wenn du mich vermisst. Ich hab übrigens mit der Werkstatt gesprochen, du kriegst dein Statussymbol, allerfeinste Maßarbeit.“

      „Wer sagt, dass ich es annehmen werde?“

      „Ich, wer sonst, du hast doch noch nicht den Mumm dazu. Was macht deine mündliche Prüfung? Kein Buch zu sehen weit und breit, das gab’s ja noch nie … du verwirrst mich.“

      „Das war unter der Gürtellinie, das war richtig unfair! Du weißt genau, dass ich nicht teilnehmen kann, weil ich nun mal leider nicht hinlaufen kann.“

      „Jein.“

      „Was heißt ‚Jein‘?“

      „Ja und nein. Ich erklär es dir: Hinlaufen geht tatsächlich im Moment schlecht, also in diesem Punkt ein ‚Ja‘ zu deiner Feststellung.“

      „Scharf beobachtet, und wie kommt das ‚Nein‘ zustande?“

      „Das ist problematisch. Um die Wahrheit zu sagen, das Nein könnte zustande kommen, unter gewissen Umständen, eventuell, vielleicht, mit viel Glück.“

      „Und was sind das für gewisse Umstände?“

      „Du müsstest den Holzkopf wieder gegen deinen eigenen eintauschen. Es wundert mich sowieso … über ein Holzbein machst du so ein Theater und den Holzkopf trägst du freiwillig.“

      „Das reicht jetzt, das war die zweite Unverschämtheit, warum tust du das?“

      „Willst du lieber Mitleid?“

      „Das wär das Letzte, was ich will.“

      „Dacht ich‘s mir doch. Es sieht so aus: Du könntest die Prüfung machen, das wäre das klare ‚Nein‘, nach dem du gefragt hast. Ein Bein mehr oder weniger ist nicht wichtig, ein Holzkopf wäre allerdings hinderlich, hier liegt das Problem.“

      „Ich kann auch mit meinem eigenen Kopf nicht erkennen, wie das funktionieren sollte.“

      „In genau vier Wochen wird hier ein Fernsehgerät hereingerollt. Da werden ein paar Professoren

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