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Kurzgeschichten. Gisela Schaefer
Читать онлайн.Название Kurzgeschichten
Год выпуска 0
isbn 9783738068290
Автор произведения Gisela Schaefer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Trulle hatte mal wieder Recht gehabt, soviel Kummer und Sorgen, da musste man doch schlechte Laune bekommen und zickig werden.
„Das ist wirklich schlimm,“ seufzte Marie, „ich glaube, für Erwachsene ist es schwer, sich zu vertragen. Aber wenn du bei deiner Mutter wohnst, bleibst du wenigstens hier in der Nähe, das ist doch schön, oder? Und dein Vater kommt dich bestimmt oft besuchen, oder du ihn. Komm, wir gucken Seifenblasen … willst du ein Eis?“
Bettina nickte, putzte sich die Nase und lächelte zaghaft – ihr war schon etwas leichter.
Von da an besuchte sie Marie öfter als jemals zuvor und erzählte ihr zwischen Seifenblasen oder umherziehenden Fischen, wie es bei ihr zuhause lief. Wie ihr Vater im Internet nach einer Wohnung suchte, wie er seine Bücher in Kisten verpackte und seine Kleider in Koffer, wie er sie noch einmal in die Arme genommen hatte bevor er endgültig von ihnen ging, und wie ihre Mutter mit rot verweinten Augen die schriftliche Bestätigung des Gerichts in Händen hielt, dass ihre Ehe rechtsgültig geschieden sei. Geteiltes Leid ist halbes Leid - Maries und Bettinas Freundschaft wurde in dieser Zeit zu einem unerschütterlichen Bündnis, all ihre kleinen und großen Geheimnisse vertrauten sie sich an. Nur eines verschwieg Marie: Trulles Beredsamkeit.
Sie war inzwischen älter geworden und glaubte natürlich nicht mehr daran, dass ein Stofftier denken und sprechen konnte. Außerdem war ihr aufgefallen, dass Thilo immer dann in seinem Zimmer war, wenn Trulle sich meldete und dass Trulles Stimme eine auffallende Ähnlichkeit mit der ihres Bruders hatte. Marie fühlte sich in einem Zwiespalt: Sie hätte Thilo gern direkt gefragt, aber sie hatte ja versprochen, mit absolut niemandem darüber zu reden - Regel Nummer 3! ‚Absolut‘ schloss Thilo mit ein – und eines wollte sie nicht, wer oder was immer Trulle war, sie wollte ihn auf keinen Fall verlieren.
Es vergingen Monate, ehe er sich wieder meldete.
„Guten Tag, Marie. Lange nichts mehr voneinander gehört.“
„Ja,“ antwortete sie mit einem nicht zu überhörenden Vorwurf in der Stimme, „ist aber nicht meine Schuld.“
„Ich weiß, ich weiß, sei bloß nicht eingeschnappt. Hab halt auch noch anderes zu tun.“
„Und was?“
„Schwer zu sagen … dies und das … was ist übrigens mit Bettina?“
„Ihre Eltern haben sich scheiden lassen, weil’s so viel Ärger gab zwischen ihnen … Erwachsene sind schon komisch.“
„Das kannst du laut sagen - manchmal sehen sie nur von außen erwachsen aus. Warum läufst du heute eigentlich mit so einem mürrischen Gesicht herum?“
Marie sah mit Abscheu auf ihre zwei Stricknadeln und den schmalen Streifen mühsam gestrickter rechter Maschen.
„Wir müssen Stricken lernen, einen Schal, zehn Zentimeter habe ich schon.“
„Prima!“
„Gar nicht prima, ist das Langweiligste, was du dir nur vorstellen kannst. Millionen von rechten Maschen, der wird bestimmt nie fertig und ich mag ihn sowieso nicht … langweilig, langweilig, langweilig!“
„Merkwürdig, ich dachte gerade, wie schade es ist, dass ich nicht zwei Hände und zehn Finger habe … mir fallen auf Anhieb mindestens ein Dutzend nicht langweiliger Schals ein, die ich stricken würde: Mit bunten Bommeln, mit aufgestickter Blumenwiese einschließlich Bienen, mit Plüsch-Löwenkopf an einem Ende und …“
„Warte, warte, nicht so schnell, ich schreib mir alles auf.“
„Man könnte dazu passende Taschen stricken … sein eigener Modeschöpfer werden … weißt du übrigens, was ein Killer ist?“
„Ja, das weiß ich!“
„Kennst du einen?“
„Nein!“
„Doch, tust du! Was hast du in Lektion 1 gelernt?“
„Phantasie.“
„Da hast du’s … den Killer, meine ich.“
„Wieso, was …?“
„Na was schon? Phantasie killt die Langeweile, jede Langeweile. Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass man Phantasie nur beim Aufsätzeschreiben einsetzen kann.“
„Ich kann aber keine Bommel machen.“
„Gibt’s da nicht in deiner Familie eine Oma namens Mathilde, die ein Genie mit Nadel, Faden und Wolle ist? Geh zu ihr, sie zeigt es dir.“
„Graue Häkelmäuse auf der Schulter wären lustig, oder?“
„Mhm, Mäuse mag ich besonders gern. Was liegt sonst an?“
„Na ja, du weißt ja, wie Eltern sind … immer machen sie sich Gedanken und Sorgen um ihre Kinder, dass sie nicht zu viel fernsehen und nicht zu spät ins Bett gehen … solche Sachen.
„Das kannst du ihnen nicht verübeln, gehört zum Vater-Mutter-Beruf.“
„Aber ein ganzes Jahr vorher sich Gedanken machen darüber, ob ich aufs Gymnasium gehen soll oder nicht! Was meinst du?“
„Falsche Frage, es muss heißen: Was will Marie?“
„Weiß nicht, hab noch nicht drüber nachgedacht, ist doch noch soooo lange bis dahin.“
„So lange auch wieder nicht, ein Jahr ist schnell vorbei. In der Zeit müsstest du gute Zensuren schreiben, nicht nur in Handarbeiten und bei Aufsätzen. Sonst nehmen sie dich nicht, ob du willst oder nicht.“
„Meine Lehrerin hat mich gefragt, was ich werden will. Das wäre entscheidend dafür, welche Schule ich besuche.“
„Jein.“
„Was heißt jein?“
„Ja und nein. Ich erklär es dir, aber sag mir erst mal, was du ihr geantwortet hast.“
„Entweder Seifenblasen-Künstler oder Meeresbiologin.“
„Zwei schöne Berufe. Es ist ganz einfach Marie: Wenn du Seifenblasen-Künstler wirst, brauchst du kein Abitur. Wenn du Meeresbiologin wirst, brauchst du es … in beiden Fällen ein ‚Ja‘ zu dem, was deine Lehrerin gesagt hat. Wenn du dir aber alle Möglichkeiten zu diesen beiden oder noch ganz anderen Berufen offen halten willst, was musst du dann machen?“
„Abitur?“
„Genau … und das ist das ‚Nein‘ zu ihrer Bemerkung. Oder anders ausgedrückt: Geh aufs Gymnasium und du kannst dir alle Berufe dieser Welt aussuchen. Was spricht dagegen, ein Seifenblasen-Künstler mit Abitur zu werden? Gar nichts! Das wär schon mal klar, oder?“
„Mhm,“ nickte Marie.
„Gehört zu Lektion 2: Verstand … ich fange an, mich zu wiederholen.“
„Aber es ist ziemlich anstrengend, oder?“
„Was, den Verstand zu gebrauchen? Nur, wenn du es bisher nicht getan hast. Ist so ähnlich wie mit den Muskeln … wenn du sie nicht trainierst, werden sie schlaff und träge.“
„Glaubst du, ich habe genug Verstand?“
„Hundertprozent! Hast du doch schon bewiesen, denk an Bettina.“
„War genau richtig, sonst hätte ich keine Freundin mehr.“
„Siehst du! Phantasie und Verstand, Marie, das ist alles was du brauchst. Mach’s gut.“
Ja, Marie machte es richtig gut - und da tatsächlich auch bei Phantasie und Verstand Übung den Meister macht, gelangen ihr immer bessere Arbeiten und Zensuren. Während sie sich aufs Gymnasium vorbereitete, verließ Thilo es, mit Bestnote versteht sich. Er war 15 Jahre alt und als jüngster Mathematik- und Physikstudent an der Universität gemeldet. Wegen seines Alters mieteten Thanners