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Du mit Deinen Gedanken nicht am Lenkrad bist, wirst Du auch noch so enden!“

      Es ist bereits zehn Minuten vor sechs.

      Ich will noch heute über die Grenze, auf jeden Fall, beschließt sie. Ich will die zweite Etappe schaffen - erst die Haustür dann die Grenze. Komisch, dass sie immer alles an irgendwelchen Punkten fest macht.

      Ich habe kein Ziel, schießt es ihr durch den Kopf. Wer ziellos ist, verirrt sich leicht. Kein Ziel und alle Brücken abgebrochen. Wieder ergreift sie Panik, ihr Atem geht hastig und das Herz klopft bis zum Hals.

      „Reiß Dich am Riemen, Hanna, sonst endest Du auch in einem Schrotthaufen an der Autobahn!“

      Sie nimmt einen Schluck Coca Cola und drückt aufs Tempo.

      2.

      Gegen 21 Uhr nimmt Hanna die Abfahrt Garda Sud und sucht sich ein Hotel an der Bundesstraße. Bunte Neonreklame am Dach „Albergo – Pizzeria“, das ist genau das, was sie sucht. Jetzt erst spürt sie, wie müde und hungrig sie ist. Als sie aussteigt, knicken die Knie ein wenig weg. Sie nimmt ihre große Umhängetasche mit den bunten Ungari-Schriftzügen, verstaut schnell das Geld und den Schmuck darin, legt sie lässig über die Schulter und geht an parkenden Brummis vorbei zum Eingang.

      Lärm und Rauch schlagen ihr entgegen, als sie die Tür der Pizzeria öffnet. Die Theke in der Bar ist gleichzeitig auch Hotelempfang.

      „Haben Sie ein Einzelzimmer für eine Nacht?“ fragt sie auf Deutsch.

      „Si, Signora, aber ohne bagno”.

      Der Wirt ist ein hagerer Mann, hat etwa ihre Größe, ein sympathisches Gesicht, das einen Schnurrbart ziert und schwarze wuchernde Augenbrauen. Wie der bayrische Politiker Theo Waigel denkt sie amüsiert.

      Das Zimmer ist bestimmt nicht größer als sechs Quadratmeter und hat ein Fenster zur Bundesstraße. Neben dem schmalen Schrank ist ein Waschbecken angebracht und es gibt noch einen etwas wackeligen Stuhl. Die Matratze ist in der Mitte ein wenig durchgelegen sonst aber hart. Hanna verschließt die Tür, wäscht sich die Hände und öffnet die Tasche. Sie nimmt das T-Shirt für die Nacht, Zahnbürste und -Pasta sowie 100 Euro aus dem Umschlag heraus.

      Der Schmuck wiegt schwer in der Tasche. Sie hat ihn in das Reiseetui gezwängt. Sie besitzt nicht viel. Die beiden Ketten - die blaue und die rote - füllen die beiden Reißverschlussfächer fast vollständig aus. Die rote besteht aus großen runden ungeschliffenen Rubinen, die blaue aus runden Topasperlen.

      Beide schenkte ihr Henning, die rote bekam sie zum zwanzigsten Hochzeitstag. Sie erinnert sich noch genau an den Samstag. Es war ein wunderschöner, warmer Julitag.

      Der Tisch vor der italienischen Vinothek war wie immer für den Stammtisch ab 12 Uhr mittags reserviert und alle waren gekommen. Die erste Flasche Franciacorta Brut war bereits geleert. Henning, der sich kurzfristig verabschiedet hatte, um eine Besorgung zu machen, kam gerade zurück und bestellte sofort die nächste Flasche. Er legte Hanna ein kleines Päckchen auf den Schoß.

      „Aha, jetzt gibt es das große Geschenk zum Hochzeitstag!“ sagte Christiane.

      „Ist ihm aber ziemlich spät eingefallen. Hast ja gerade noch die Kurve gekriegt und alles gerettet“, grinste Jochen.

      Hanna nahm das Päckchen und wollte es in ihrer Tasche verstauen. Warum musste Henning immer so ein Aufsehen machen, hätte er es ihr nicht zu Hause geben können?

      „Na, nun mach es schon auf. Wir wollen alle sehen, ob er sich Mühe gegeben hat“.

      Sie öffnete umständlich die Schleife und dann lag da die „rote“ Kette.

      Luise und nahm ihr den Schmuck aus der Hand.

      „Rubine, hab ich Recht? Wunderschön!“.

      „Ungeschliffene Rubine, Du hast wie immer recht“, Henning nickte befriedigt und blickte sich Beifall heischend um.

      „Hanna guckt als hätte sie gedacht, es wäre Modeschmuck“ Luise lachte.

      Wie Recht Luise hatte. Hanna kennt sich in diesen Dingen nicht aus. Sie bemerkt auch keine Rolex am Handgelenk. Da kann sie nicht mitreden und es bedeutet ihr auch nichts.

      Sie teilt auch nicht die Sammelleidenschaft der Anderen, die sich auf ihren Partys mit hochkarätigen Menschen brüsten. Wie das sind Herr und Frau S., sie besitzen einen Reitstall, oder ein Haus auf Mallorca, oder Herr S. ist Direktor von, alles Leute mit denen sie sich selbst aufwerten wollen. Wenn Hanna darüber nachdenkt, fällt ihr auf, dass bei diesen Vorzeigemenschen kaum oder selten Politiker anzutreffen waren. Damit hätte man sich festgelegt, zumindest was die politische Richtung anging. Auch ebenso selten traf man auf Intellektuelle, die auf die Dauer zu anstrengend schienen oder Individualisten, die einem den Schneid streitig machen könnten.

      Wenn Hanna feiert, möchte sie sich von wahren Freunden umgeben wissen, ganz gleich, wer sie sind und was sie haben. Von diesen Abhängigkeiten hat sie sich längst befreit.

      „Ich sehe nicht ein, meine kostbare Zeit zu vertrödeln mit Menschen, die mir nichts bedeuten“, sagte sie dann oft trotzig.

      Für Hanna ist es die „rote“ Kette geblieben, immer wieder vergaß sie den Namen des Edelsteins. Wieso fällt ihr jetzt sofort das Wort Rubine ein? Hatte sie das Wort aus Trotz verbannt? Hanna legt die Kette ins Fach zurück, stopft das ganze wieder in ihre Tasche und löscht das Licht.

      Die Neonreklame leuchtet voll in ihr Zimmer.

      „Das wird eine geruhsame Nacht“, sie versucht das „r“ wie der einstige Tagesthemensprecher Ulrich Wickert zu rollen.err

      Sie isst eine gute Pizza con funghi und prosciutto .

      „Ab sieben Uhr gibt es colazione - Frühstück“ sagt der Wirt.

      „Buona notte“.

      Die zweite Etappe ist geschafft.

      3.

      Nach einem lauwarmen Milchkaffee und einem Hörnchen - alles zusammen kostet 38 Euro - „Urlaub machen in Italien“ fragt die junge Frau, „Si, si“, nimmt sie hastig das Wechselgeld, gibt kein Trinkgeld, um weiteren Fragen zu entgehen und verlässt eilig das Hotel. Entgegen der gestrigen Vorsichtsmaßnahme verstaut sie die Tasche mit dem gesamten Inhalt achtlos auf dem Beifahrersitz.

      Kurz darauf verlässt sie die Mautstelle Garda Sud und fährt bei dichtem Nebel auf die Autobahn. Es ist als wollte ihr das Wetter bestätigen, wie schemenhaft ihr Ziel ist und der Weg, der dahin führt.

      Der Nebel löste sich sehr schnell auf, was sie als ein gutes Omen deutete. Vor Bologna wäre sie fast auf ihre alte Urlaubsstrecke nach Florenz abgebogen. Ein bisschen riskant - das Hupen und Aufblenden der nachfolgenden Autos mit einer ärgerlichen Handbewegung abwehrend - hatte sie sich wieder auf die andere Route eingefädelt. Gegen Mittag machte sie auf einem großen belebten Rastplatz Halt, brachte den Beifahrersitz in Liegeposition, verschloss von innen die Türen, ließ das Fenster einen Spalt herunter, legte die mitgenommene Decke über sich und versuchte zu schlafen. Sie hatte sich bewusst auf den Beifahrersitz gelegt, damit jeder denken sollte, dass sie nicht allein unterwegs war und ihren Mann oder Begleiter auf einen Kaffee oder auf dem Klo wähnte. Trotz des Lärms und der sie anfangs irritierenden Blicke der aussteigenden Autofahrer war sie tatsächlich für einige Minuten fest eingeschlafen.

      Nach einem Espresso und einem panino mit formaggio und pomodori setzte sie ihre Fahrt fort. Die Sonne leuchtete jetzt gleißend auf dem Asphalt und sie war froh über ihre neuen abgedunkelten Brillengläser.

      Sogar ein klein wenig Hochgefühl machte sich in ihr breit, die Sonne wirkte von jeher wie ein Lebenselixier auf Hanna. Deswegen war ihr auch von Anfang an klar, dass sie sich in den Süden absetzen

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